Eine Erkundungstour durch Mecklenburg-Vorpommern – vom Peenetal zum Nationalpark Jasmund bis zum Lebbiner Haken auf der Insel Rügen

Gleich werdet ihr den Amazonas des Nordens erleben“, sagt Kanuführer Frank Götz, ein kräftiger Mann Anfang fünfzig, der seine Haare mit einem Stirnband bändigt. Er steht am Ufer der Peene, verteilt Rettungswesten und hilft beim Einsteigen in die Paddelboote. Und los geht die Peenesafari auf dem breiten, stillen Fluss, gesäumt von urwüchsiger Natur. An den Ufern schieben sich dicke Baumstämme ins Wasser. „Schau mal, die sind von Bibern angenagt“, sagt Frank vorn im Kanu und winkt die anderen Boote heran. Dann schippert er vorsichtig zu einer Biberburg aus meterhoch aufgetürmten Ästen, die im Unterholz aufragt. Doch die großen Nager lassen sich nicht ­blicken. Wenig später kreist ein Seeadler hoch oben über den Paddlern. „Der Fluss ist wieder enorm fischreich, seit große Flächen nach der Wende renaturiert wurden“, sagt Frank. Außerdem könne man schillernde Eisvögel beobachten, Stelzenläufer, Reiher, den Großen Brachvogel und 150 weitere Vogelarten.

Die Peene, das sind 83 Kilometer unverbauter Fluss mit zahlreichen Nebenarmen und urwaldähnlichen Uferzonen. „Schon in der Eiszeit ist das Durchströmungsmoor des Peenetals mit seinen seltenen Tier- und Pflanzenarten entstanden“, berichtet Frank Hennicke, Leiter des Naturparkzentrums von Stolpe. Es sei das letzte zusammenhängende Niedermoorgebiet Mittel- und Westeuropas. „Flusslandschaft Peenetal“ nennt sich der jüngste Naturpark Mecklenburg-Vorpommerns, den man nicht nur ein paar Stunden im Kanu, sondern auch auf einem Solarboot oder sogar tagelang mit einem Abenteuerfloß samt Hütte darauf erkunden kann. Es ist bisher die einzige Reiseregion Deutschlands, die 2010 mit dem Europäischen Eden Award für nachhaltigen Tourismus geehrt wurde.

Der alte Buchenwald auf Rügen ist seit 2011 Unesco-Welterbe

Stolpe liegt nahe Anklam am Südufer der Peene. In dem kleinen Ort mit gerade mal 200 Einwohnern steht die Ruine eines Benediktinerklosters aus dem Jahre 1153, des ältesten Klosters in Pommern, das während des Dreißigjährigen Krieges 1637 zerstört wurde. Nicht ganz so alt ist das Herrenhaus Stolpe, um 1850 erbaut als Wohnhaus der Gutsherren inmitten eines weitläufigen Parks, bis zum Zweiten Weltkrieg im Besitz der Familien von Bülow. In der DDR-Zeit diente das Gehöft als Sitz des Volkseigenen Gutes (VEG) Saatzucht und als Lehrlingswohnheim. Heute ist das Anwesen nahe der Peene ein komfortables Hotel samt Sternerestaurant. „Unsere Gäste kommen von weither“, sagt Hoteldirektorin Annamarie Klostermann. Paddler dürfen auf der Wiese zelten. Abends trifft man sich im alten Stolper Fährkrug und hockt auf der Fritz-Reuter-Bank bei einem rustikalen Menü.

Aufbruch früh am nächsten Morgen nach Sassnitz, dem Hauptort der Halbinsel Jasmund, weit im Norden Mecklenburg-Vorpommerns auf der Insel Rügen. Hier geht es um einen Wald, der die Eiszeit überlebt hat. Ranger Frank Meier erwartet die Ausflügler am Eingang des Nationalparks Jasmund, um mit ihnen von Sassnitz bis zum Königsstuhl durch den geschützten Buchenwald zu wandern. „Wir sind stolz darauf, dass die Unesco 2011 einen Teil unseres Nationalparks zum Unesco-Welterbe ‚Alte Buchenwälder Deutschlands‘ deklariert hat“, sagt er.

Ranger Frank öffnet den Besuchern die Augen für den Boden, auf dem sie wandern. „Das sind Stauchwellen aus der Eiszeit, die Hügel bilden“, erklärt er zum Beispiel, „da ist Kreide gestaucht worden.“ Oder: „Hier seht ihr Schwingrasen auf Torfmoor mit Mulden darin – wie eine Kraterlandschaft im Kleinen.“ Er zeigt uns das „Schluckloch“ – eine tiefe Stelle, in der Wasser „geschluckt“ wird. Im Sommer ist es besonders schön, durch diese magische Wildnis zu streifen, wenn im versumpften Moor der großen Stubbenwiese die Schwertlilien blühen. Spuren von Damwild sind zu sehen. Frank kniet sich unter den Bäumen hin, wischt die alten Blätter zur Seite und gräbt tief aus der schwarzen Erde Kohlestückchen. „Die sind 300 Jahre alt und stammen aus der Zeit der Leibeigenschaft auf Rügen“, erklärt er den verblüfften Wanderern. „So mühsam mussten die Bauern damals Holzkohle aus dem Boden herausholen.“

Tief im Wald stößt man auf die Stammesgräber steinzeitlicher Jäger und Sammler, die diese Landschaft einst besiedelten. Auf das sogenannte Pfenniggrab zum Beispiel, ein Großsteingrab, das aus einer Umrandung von tonnenschweren Findlingen bestand. „Ab 5000 vor Christus wurden hier solche Gräber errichtet“, erklärt Frank. In diesem Nationalpark gebe es noch mindestens fünf dieser Hünengräber, 53 seien es auf ganz Rügen.

Eine kurze Strecke weiter führt ein schmaler Pfad zu der einstigen Herthaburg ­hinauf, einer heute noch 17 Meter hohen Wallanlage, die aus der Zeit der slawischen Besiedlung Rügens vom 8. bis zum 12. Jahrhundert stammt. Tief unten schimmert zwischen dichtem Laub der legendenumwobene Herthasee, der Schwarze See am Burgwall. In der ­Nähe liegt der große Sagenstein, auf dem drei mystische Fußspuren zu sehen sind. Der Sage nach ging es um die Reinheitsprobe einer Jungfrau, die verdächtigt wurde, mit dem Teufel im Bunde zu stehen.

Geheimnisvoll, als wäre es das Land der Trolle, wirkt dieser Wald, in den der Mensch nicht eingreift. Bäume und Pflanzen sterben, es bilden sich wilde Dickichte, hellgrüne Feuchtwiesen und Niedermoore zwischen frischem Buchengrün. Nahe der Steilküste ist das Zusammenspiel von Vergehen und neuem Leben von besonderer Schönheit. Und plötzlich steht man vor einem Warnschild: „Werte Wanderer! Wegen Hangrutschungen ist die Treppe/der Abstieg Königsstuhl/ Stubbenkammer bis auf Weiteres gesperrt.“ Gerade bricht die Sonne durch und beleuchtet eine märchenhafte Kulisse aus spitz aufragenden Kreidekliffs und sattgrünen Buchenwäldern, die hoch über dem blauen Meer und dem schmalen Strandstreifen thronen.

Nahe Neddevitz steht das erste und einzige Kreidemuseum Europas

Der berühmteste Kreidefelsen ist der 118 Meter hohe Königsstuhl, inmitten einer urwüchsigen Schutzzone gelegen. Legenden ranken sich um diesen Namen. Wer es schaffe, den steilen Felsen zu erklimmen, werde König von Rügen, lautet die bekannteste Version. Tatsächlich haben es vor drei Jahren zwei Jungen versucht. Sie konnten gerettet werden. Von dem benachbarten Kreidefelsen „Victoria-Sicht“ hat man den schönsten Blick auf den König der Kreideküste.

Am Rande des Nationalparks Jasmund liegt nahe dem Ort Neddevitz das Kreidemuseum Gummanz, wo von 1854 bis 1962 das „weiße Gold“ abgebaut wurde. Es ist das erste und einzige Kreidemuseum Europas. Manfred Kutscher, der Gründer und Leiter des Museums, begleitet die Besucher auf einem ­Naturlehrpfad in den Kreidebruch und erklärt die „Ausschlemmung von Feuersteinen“ und die „Kreidetechnologie im Zeitenwandel“. Im Frühling haben hier Kolkraben ihr Nest gebaut, und eine „alleinerziehende“ Bache, ein weibliches Wildschwein, besucht manchmal mit ihren Frischlingen den Kreidebruch wie auch Hasen, Niederwild und verschiedene Vogelarten. „Vor 70.000 Jahren ist Rügen entstanden“, sagt Manfred Kutscher, „in 70.000 Jahren wird die Insel weg sein. Heute feiern wir also das Bergfest.“

Jenseits des Großen Jasmunder Bodden findet man im Nordwesten auf der Halbinsel Lebbin, auf der äußersten Spitze namens Lebbiner Haken, ein traumschönes Naturparadies. Tiefe Schilfbuchten säumen das Ufer und öffnen sich hier und da zu Sandstränden. Im kleinen Hafen kann man sich ein Kanu mieten oder mit größeren Booten im Lebbiner Bodden fischen gehen. Der Fischreichtum reicht von Aal, Barsch, Brasse, Flunder bis zu Hecht und Zander. Auf den Wiesen stehen Obstbäume, im Erlenwäldchen leben Dachs, Marderhund, Nerz, und nahe dem Gewässer lassen sich Fischotter, Fischadler, Seeadler und Kraniche beobachten. Inmitten dieser Naturidylle liegt das neue Gästehaus des Gut Lebbin im Stil eines alten Landhauses, das vor einem Jahr eröffnet wurde. Dazu gehören das Restaurant in der neuen Festscheune aus dicken Klinkermauern und der Garten.

Mehr als zehn Jahre lang hat der 52-jährige Jörg Czycholl, in seinem früheren Leben selbstständiger Ingenieur, an der Verwirklichung seines Naturresorts am Lands End von Lebbin gearbeitet. „Als ich anfing, war hier ein riesengroßer Müllplatz“, berichtet er. „Das ursprüngliche Gutshaus war verfallen und so verwahrlost, dass es 1986 abgetragen wurde.“ Jörg gefiel die Abgeschiedenheit des Ortes, und er hatte Lust darauf, etwas Handwerkliches zu tun. 2005 begann er mit dem Bau eines neuen Gutshauses, umweltfreundlich und im traditionellen Stil. Alle Mitarbeiter kamen aus der Umgebung. Viele waren arbeitslos und hoch motiviert. Die Tische in der neuen Scheune zum Beispiel baute ein 70-jähriger Tischler. Die schweren Platten konnte er nicht heben. „Dabei halfen wir, und er baute dann alles zusammen.“ Die Wege, die Bäume, der Hafen – alles musste neu gemacht werden. „Mittlerweile haben wir eine eigene moderne Kläranlage, eigenen Strom, eigenes Holz aus dem Wald, Honig, Obst und Wein aus eigener Produktion und Kalle, unseren eigenen Fischer. Wir sind autark“, sagt Jörg und lacht. „Lebbin ist fast wie ein Boot, und ich bin der glücklichste Mensch.“

So viel gute Stimmung teilt sich auch den Gästen mit. Kalle hat zum Abendessen frische Heringe und Flundern gegrillt. Als Speise gibt es Lammgulasch, vom Hausherrn selbst gekocht. Er setzt sich zu den Gästen an den Tisch. Mit seinen Leuten habe er besondere Steine gesammelt und sie ­zwischen den Ziegelsteinen des Gutshauses als Glücksbringer verbaut, erzählt er. In der Scheune sollen Konzerte stattfinden. „Und Hochzeiten“, sagt Jörg. Zum Abschied schenkt er den Besuchern ein Glas Honig – aus eigener Produktion.