Farn, Blütenkränze und ungewöhnliche Riten: Im Norden Europas wird die Sonnenwende intensiv gefeiert

„Ligo, Ligo, Liiigo“, schon am Morgen vor der Nacht der Nächte schallt das bekannteste Mittsommerlied durch die Wälder um den Janis-Hügel bei ­Turaida. In der Frühe klingt es noch leicht und glücklich. Vier junge Frauen singen es mit heller Stimme, während sie unter einer Eiche sitzen und Blüten, Blätter und Gräser zu Kränzen binden. Später werden sie die bunten Kunstwerke auf dem Kopf in die Dunkelheit hineintragen, stolz, als wären es Kronen. Eine der Frauen, Anita Berzina, zeigt ihren Kranz aus roten Rosen und ein kolossales Büschel Eichenlaub. „Mein Mann soll das tragen“, sagt sie, „die Eiche bringt Kraft und Stärke.“

Indra Cekstere bringt einen Korb mit Nachschub. Sie ist über Felder und Wiesen gewandert und hat Johanniskraut, Klatschmohn, Kornblumen und Margeriten gesammelt. „Die Pflanzen sind zur Sommersonnenwende stark energetisch aufgeladen, haben magische und heilende Kräfte und halten das Böse fern“, erklärt sie. Auch die Häuser werden mit Zweigen von Birke, Eiche und Vogelbeerbaum geschmückt. Manche Letten hängen zudem Kletten und Brennnesseln an die Tür, damit kein Unheil über die Schwelle kommt.

In kaum einem anderen Land Europas sind solch mystische Bräuche zur Feier des längsten Tages im Jahr erhalten geblieben. Sie haben ihren Ursprung im Sonnenkult und in Ritualen der Ahnen zu Ehren der Fruchtbarkeit. An manchen Orten in Lettland springen die Feiernden über Feuer und waschen sich in der Morgendämmerung nackt mit Tau. Paare suchen im Wald nach einem legendären Farn. „Er blüht nur in dieser einen Nacht“, berichtet Anita Berzina von dem Kult um eine Pflanze, die eigentlich gar keine Blüten trägt. „Liebende kennen ihr Geheimnis. Dieser Farn bringt Glück und viele Babys.“ Tatsächlich steigt die Zahl der Geburten neun Monate nach den Mittsommer­feiern deutlich an.

und Janis (Johannes) gehört seit langem in Lettland zu den beliebtesten Vornamen.Es gibt Pfannkuchen mit Marmelade und Ligo-Bier

Männer schleppen Holz auf den Janis-Hügel bei Turaida und stapeln es an mehreren Stellen, wo nachts Feuer brennen sollen. Turaida ist eine Siedlung mit mittelalterlicher Burg nahe ­Sigulda, westlich von Riga. Hier bemühen sich die Organisatoren, bei dem Fest noch die Sommersonnenwende in den Mittelpunkt zu stellen und die kürzeste Nacht wie in uralten Zeiten zu ­zelebrieren, und zwar am 21. Juni. Die katholische Kirche versuchte seit der Christianisierung Lettlands vor über 800 Jahren, das heidnische Fest umzudeuten. Statt am 21. wird nun überwiegend in der Nacht zum 24. Juni gefeiert, dem Gedenktag Johannes’ des Täufers. Nicht so gut durchgesetzt hat sich die Namensänderung für das Ereignis von Ligo zu Jani (Johannisfest). Die Bezeichnung Ligo ist weiterhin sehr verbreitet. In Riga kann man sich am 22. Juni bei einem großen Blumenmarkt auf dem Domplatz mit allem möglichen Ligo-Grün und zig verschiedenen Kranzmodellen eindecken. Am 23. Juni fahren viele Städter aufs Land, um nachts in der Natur mit der Familie und Freunden zu feiern. Alternativ oder ergänzend können sie bereits am 21. Juni die Veranstaltung rund um den Janis-Hügel bei Turaida besuchen.

Dort füllt sich allmählich gegen Abend die Wiese unterhalb des Hügels mit Hunderten Menschen. Zahlreiche Frauen tragen Tracht. Wer noch keinen Blütenkranz auf den Haaren trägt, flicht sich schnell einen am Blumenstand. Imbissbuden bieten Pfannkuchen mit Marmelade, Ligo-Bier und Fladen mit Ligo-Kümmelkäse zur Stärkung. Dann geben Hornbläser in historischer Kleidung das Startsignal. Eine Prozession formiert sich, angeführt von „Mutter Janis“ und „Vater Janis“, gefolgt von Fackelträgern und einer Frau, die ein Tablett mit Blättern, Blüten und Lebensmitteln in den Händen hält, welche an Opfergaben erinnern. Erst zieht die Menge langsam und schweigend den Janis-Hügel hinauf, als plötzlich alle Menschen punktgenau, gewaltig und laut, wie auf die forsche Geste eines Dirigenten hin, das Ligo-Lied anstimmen: „Ligo“, darauf eine abrupte Pause. Sogleich das zweite „Ligo“, wieder bricht der Gesang kurz ab, um schließlich das lange dritte „Liiigo“ berührend auszumalen. Eine genaue Übersetzung für Ligo gibt es nicht. Es bezeichnet den Tag, das Fest und wird verwendet, um die Erde zu segnen. Das Verb ligot meint das Singen von Ligo-Liedern und hat als zweite Bedeutung „schaukeln“. Schaukeln soll die Fruchtbarkeit fördern.

Jetzt klingt der Gesang nicht mehr so leicht wie am Morgen, sondern feierlich, stolz und melancholisch. Die Menschen werden es in dieser Nacht immer wieder wiederholen, „Ligo, Ligo, Liiigo“, manche werden sich damit in Trance singen. Oben auf dem Hügel wird das Holz entzündet, bald brennt es hoch in die Nacht. Die Menschen fassen sich an den Händen, schreiten in Kreisen, Spiralen und immer neuen Formationen um die brennenden Haufen, wiegen sich in dem archaischen Rhythmus. Zunehmend werden die Tänze wilder, bis die ersten Tänzer über kleine Feuer springen, was reinigend und von negativen Kräften befreiend wirken soll. Anita Berzina hält kurz die Augen geschlossen und summt noch einmal die Melodie des bekanntesten Mittsommerliedes. „Die Lieder sind in unserem Herzen“, sagt sie und lächelt. Ein junges Pärchen huscht kichernd und händchenhaltend vorbei, in den Wald hinein. Hier weiß jeder, dass die beiden den blühenden Farn suchen und diese Pflanze oder ein ähnliches Wunder auch entdecken werden.