Die Kapelle über dem überlieferten Grab Jesu in Jerusalem wurde lange restauriert. Pünktlich zu Ostern erstrahlt sie in neuer Pracht

Es ist vollbracht. Wenn jetzt wieder Pilger aus aller Welt in die Grabeskirche von Jerusalem drängen, erfüllt ein gemurmeltes Staunen das Allerheiligste der Christenheit. Das hässliche Stahlgerüst, das jahrzehntelang die vom Einsturz bedrohte Kapelle über dem überlieferten Grab Jesu zusammenhielt, ist nicht mehr da. Ihre einst von Abertausenden Kerzen rußgeschwärzten Mauern leuchten plötzlich im Licht neu angebrachter Scheinwerfer marmorfarben und hellrosa. 90 Jahre nachdem ein Erdbeben die Kapelle schwer erschütterte und die Mauern nur durch eine Hilfskonstruktion aufrecht erhalten werden konnten, steht sie nun wieder fast da wie 1809, als sie in ihrer heutigen Form erbaut wurde. Ein neu eingesetztes Fenster ermöglicht erstmals einen Blick in das antike Felsgrab darunter, das nach fast 500 Jahren zum ersten Mal von Archäologen geöffnet wurde.

„Es ist ein historischer Moment“, sagt Antonia Marapoulou. Die Chemie-Ingenieurin von der Nationalen Technischen Universität Athen hat die Ädikula über dem antiken Grab Stein für Stein restaurieren lassen. Zehn Monate lang arbeitete ihr Team fast ausschließlich in der Nacht an ihrer Wiederherstellung, sodass die Besucher bei Tag weiter das Grab besuchen konnten.

Ein Muslim ist der Wächter der Grabeskirche

Von stiller Andacht ist in der Grabeskirche weiter wenig zu spüren. In den Warteschlangen vor den heiligen Stätten drängen sich die Pilger. Russische Gläubige küssen den Salbungsstein, wo Jesu Leichnam auf sein Begräbnis vorbereitet worden sein soll. Golgatha, wo Jesus den Evangelien nach gekreuzigt wurde, liegt nur wenige Schritte vom Grab entfernt unter dem verwinkelten Dach der Grabeskirche. Für wenige Sekunden knien sie unter einem goldumrankten Altar nieder, um den Ort zu küssen oder wenigstens den Felsen zu berühren, über dem der Erlöser starb. Danach warten sie auf den kurzen Augenblick am Heiligen Grab, bevor einer der Mönche, der die Ädikula bewacht, sie zum Aufbruch drängt.

Dass die Kapelle nicht längst rekonstruiert und gesichert wurde, liegt an einem seit Jahrhunderten andauernden Streit. Sechs Konfessionen haben sich die Grabeskirche im Zentrum der Jerusalemer Altstadt bis auf den letzten Zentimeter aufgeteilt: Griechisch-, Syrisch- und Äthiopisch-Orthodoxe, Katholiken, Kopten und Armenier haben allesamt in einer anderen Nische ihr Heiligtum und getrennte Aufgaben­bereiche. Nicht selten kommt es unter den Mönchen zu Streitigkeiten bis hin zu Handgreiflichkeiten um die streng geregelte Gebetsordnung an Grab und Kreuzigungsstelle. Kein Wunder, dass sich die rivalisierenden Glaubensfraktionen auch über Jahrzehnte nicht einig wurden, wie mit der einsturzgefährdeten Kapelle zu verfahren sei. Am Ende schritt die israelische Altertumsbehörde ein und sperrte 2015 das Heilige Grab gar für einige Tage. 2016 konnten sich die Kirchen endlich auf einen gemeinsamen Renovierungsplan einigen.

Draußen an der Pforte zum Heiligen Grab sitzt ein kleiner Mann. Wajeeh Nuseibeh ist fast täglich hier und sieht manchmal stundenlang zu, wie die Pilger in seine Kirche drängen. Der Araber trägt den Schlüssel der Grabeskirche in der Hand. Den Zugang zu dem Ort, an dem Christus der Tradition nach gestorben und auferstanden sein soll, verwaltet ein Mann, der weder an den Kreuzestod noch an die Auferstehung Jesu glaubt. Für ihn ist er ein Prophet unter vielen: Nuseibeh ist Muslim. Seit Jahrhunderten ist seine Familie gleichzeitig Wärter und Hausmeister der Kirche. Die Tradition, dass eine muslimische Familie den Zugang zu der Kirche regelt, lässt sich bis ins Jahr 638 zurückverfolgen. Zunächst wurden die Nuseibehs von den muslimischen Eroberern als Wächter eingesetzt, später war ihre Funktion vor allem die des neutralen Schlichters zwischen den verschiedenen Konfessionen, die alle die Kirche als ihr rechtmäßiges Erbe betrachten.

Im irdischen Jerusalem sucht jeder auf seine Art nach einem Stück Himmel. Dicht drängt sich das Volk der Gläubigen in der Via Dolorosa, dem Kreuzweg Jesu, auf dem Weg zur Grabeskirche: Indische Katholikinnen in bunten Saris, afrikanische Freikirchler in bunten Tüchern, russische, armenische, koptische Mönchskutten, ein junger Philippiner, der ein riesiges Holzkreuz durch die Gasse schleift.

Klagemauer, Felsendom, Grabeskirche, Sperranlage zum Westjordanland: Denkt der Mensch an Jerusalem, hat jeder seine eigene Mauer im Kopf, ob er nun Jude, Christ oder Moslem ist, Gläubiger oder Atheist. Umkämpfte Friedensstadt, Zankapfel der Völker, Basar der Religionen und Weltanschauungen – die Stadt, deren Name Jesaja in Gottes Händen geschrieben sah, der David Liebeslieder sang und über die Jesus weinte. Niemand kommt nach Jerusalem ohne eine oder 1000 Geschichten im Gepäck. Sich in Jerusalems Gassengewirr zu verlieren heißt einzutauchen in mehr als vier Jahrtausende. Und in ein Labyrinth des Glaubens, dessen Irrwege und Sackgassen kein Sterblicher überschaut. Jerusalem ist ein Farbkasten der Religionen. Seine teils grellen Schattierungen blenden auch den Skeptiker, und so manchen Blinden lassen sie glauben, ein Seher zu sein.

Am Felsengrab finden Touristen einen Ort der Stille

Durch das Damaskustor in der nördlichen Altstadtmauer strömen Muslime auf dem Weg zum Freitagsgebet in der Al-Aksa-Moschee entlang der Via Dolorosa. Das Tor ist das prächtigste aus osmanischer Zeit und war in den letzten Monaten immer wieder Schauplatz der Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern. Nur ein paar Fußminuten entfernt singt eine Gruppe Jugendliche englische Kirchenlieder. Abgeschirmt von der Hektik der Altstadt und dem Lärm des nahen Busbahnhofs haben sie sich in einen kleinen Park zurückgezogen. Eine von Blumenkübeln und hohen Bäumen gerahmte Treppe führt hinunter zu einer schmalen Öffnung in einer Felswand. Hinter ihr findet sich eine antike Grabkammer.

Das 1867 freigelegte Gartengrab wird von einigen protestantischen und anglikanischen Gruppen als wahres Grab Christi angesehen. Für sie kann die Grabeskirche inmitten der Altstadt schon allein deshalb nicht der historische Ort der Kreuzigung und Auferstehung Jesu sein, weil er sich nicht, wie in den Evangelien überliefert, außerhalb der Stadtmauern befindet.

Ob man als Gläubiger oder Zweifler hierherkommt: Am Morgen, bevor die ersten Kirchengruppen kommen, findet man am Felsengrab hinter dem Damaskustor einen Ort der Stille. Wer war dieser Jesus, dessen Abbild jetzt zu Ostern zu Tausenden über die Ladentheken der Altstadt geht und um den sie sich nicht nur in Jerusalem streiten und bekriegen? War er ein gefährlicher Sektierer? Ein sterblicher Gelehrter? Ein Prophet? Ein abtrünniger Rabbiner? Oder war er tatsächlich der Mann, der an einem frühen Morgen in einem stillen Garten der weinenden Maria Magdalena begegnete? Und von dem seither Millionen Menschen sagen: „Er ist auferstanden!“