San Juan. La Vida loca, verrücktes Leben, verspricht der Freistaat im US-Außengebiet. Hilft der Besuch gegen Alltagskümmernisse? Ein Selbsttest.

Du stehst am Gate im Hamburge Flughafen, das Ticket nach Puerto Rico in der Hand, und du siehst diesen weißhaarigen deutschen Mann, auf der Hatz zum Urlaubsflieger nach Mallorca, wie er hektisch über die Köpfe Dutzender Reisender hinweg seine Frau anblafft, die verzweifelt Schritt zu halten versucht. „Nun komm endlich, Herrgott noch mal, das kann doch nicht wahr sein! Verdammt!“

Du schämst dich fremd und denkst, ach Deutschland. Einst sich Liebende, aufgerieben im Alltag, verlieren nach all den gemeinsamen Jahren in einer Abflughalle den Respekt voreinander. Das macht Angst. Auch weil du nicht weißt, ob du es besser hinbekommen wirst, ob du dem mürrischen, nüchternen Deutschen in dir mit ausreichend Leichtigkeit entgegentreten kannst. Aber du hast ein Ticket nach dem Sehnsuchtsort in der Karibik, wo sie La Vida loca leben, wie Ricky Martin singt. Eine Puerto-Rico-Therapie, ja, das wird helfen.

Streetart in Santurce: Lokale und internationale Künstler toben sich hier regelmäßig aus.
Streetart in Santurce: Lokale und internationale Künstler toben sich hier regelmäßig aus. © HA | Andreas Burgmayer

José lenkt den Van durch die Straßen von San Juan. Die Klimaanlage speit eiswürfelkalte Kunstluft und macht die schwül-heiße, von Feuchtigkeit geschwängerte Umarmung der puerto-ricanischen Echtluft vergessen, die einen bei jedem Schritt ins Freie erwartet. Haushohe LED-Reklametafeln an der Stadtautobahn empfehlen den Rum der Insel mit dem Slogan „450 Years of Party“. Das gelbe Licht der Straßenlaternen taucht die Kolonialarchitektur, mit ihren spanischen Holzbalkonen, schweren Holztüren und schmiedeeisernen Gittern und Säulen entlang der engen Straßen in jenes diffuse Zwischending, das den Tag von der Nacht trennt. Im Radio läuft El Gran Combo de Puerto Rico, das legendäre Salsa-Orchester. Die Szene wirkt wie ein Versprechen, auf Leben, Leichtigkeit und die Gewissheit, dass hier alles möglich ist. José, der Fahrer, lächelt. „Life ist too short to worry.“

In drei Stunden erreicht man von San Juan aus alles Sehenswerte

Wir lassen die Hotelburgen im modernen Teil der 400.000-Einwohner-Inselhauptstadt hinter uns und landen im historischen Old San Juan. Im Hotel Casablanca an der Calle For­taleza, in dem überlebensgroß in Dauerschleife Humphrey Bogart und Ingrid Bergman samt Rick’s Café Américain an die Wand der Bar geworfen werden, sind die Angestellten jung und freundlich, die Zimmer heimelig und die Dachterrasse atemberaubend. Mit einem Rum in der Hand, den Blick über die vibrierende Stadt und den nahen Atlantik gerichtet, fühlt man sich so abenteuerlustig wie Paul Kemp, jene kaputte Hauptfigur in Hunter S. Thompsons erstem Roman „Rum Diary“, der im San Juan der 50er-Jahre spielt.

Auf der Plaza Dársenas am Hafen sitzen vielleicht 200 Rentner auf Klappstühlen, sie nennen sich La Bohemia, sind jeden Sonnabend hier, bringen Trompeten, Timbales, Keyboards, Gitarren und jede Menge Congas, Maracas und Güiros mit und lassen die klassische Salsa von der Leine. Dazu singen und tanzen sie und reichen einander mitgebrachte Häppchen. Eine Demonstration der Lebensfreude. In Puerto Rico wird der Lebensabend auf die Straße verlegt. Eine steife Hüfte ist keine Entschuldigung, einen Tanz auszulassen. An der Bar im Freien, die von einem Peruaner betrieben wird, lehnt Manuel und will wissen, wo man herkommt. „Hamburg? Beautiful city!“, sagt er. Mit seiner Heavy-Metal-Band habe er mal das Wacken-Open-Air gespielt. Der Bruder verliebte sich Backstage in eine Norddeutsche und lebe nun in Nettelnburg. La Vida loca. Na also, geht doch, denkt man.

Ein Tsunami aus Turnschuhen ergießt sich in die Straßen und Geschäfte

An anderen Tagen, wenn im Hafen die amerikanischen Kreuzfahrtschiffe mit 6000 Menschen an Bord anlegen, zeigt Old San Juan sein anderes Gesicht. Ein Tsunami aus Turnschuhen, bunten, kurzen Hosen und Erlebnisdrang ergießt sich in die Straßen, flutet die Geschäfte, Bars und Restaurants. Die Menschen hier leben von diesen Massenaufschlägen.

Für alle anderen wird es nun Zeit, die Stadt zu verlassen und die Insel zu erkunden. Die Straßen sind breit, das Tempolimit liegt außerorts bei 65 Meilen (105 km/h), die Menschen fahren mit einer meditativen und rücksichtsvollen Entspanntheit Auto, die dem ungeduldigen Deutschen die Schamesröte ins Gesicht treibt, wenn er sich an seinen wutentbrannten Rush-Hour-Stil erinnert. Länger als drei Stunden dauert es nicht, um alles Sehenswerte der Insel von San Juan aus zu erreichen.

Salsa-Einsatz auf der Promenade: Senioren tanzen in Puerto Rico auf der Straße.
Salsa-Einsatz auf der Promenade: Senioren tanzen in Puerto Rico auf der Straße. © HA | Andreas Burgmayer

Da ist El Yunque, der Regenwald, eine Stunde mit dem Auto entfernt im Osten der Insel gelegen, eine grüne Hölle aus tropischen Pflanzen und Bäumen, wo endemische Vögel über Wasserfällen flattern, von der Natur so stimmungsvoll inszeniert, dass Hollywood sie besser nicht hinbekommen kann. Entsprechend dreht die Traumfabrik hier immer wieder. Spektakulär sind die Hiking-Trails im Yunque, auf denen fitte Touristen meilenweit durchs Unterholz staksen können, abseits der von Bus-Touristen breitgetretenen Pfade – für das unmittelbare Dschungel-Feeling.

Wer sein Leben ein paar Karabinern und zwei Metallrollen anvertrauen möchte, stellt sich dem Monster von Toro Verde, einem Nature Adventure Park in der Nähe von Orocovis in der Bergregion. Das ist die längste Zip-Line des Universums. Über drei Täler mit Flüsschen und Dschungel-Vegetation spannen sich 2530 Meter Stahlkabel, an dem man Kopf voraus je nach Eigengewicht mit bis zu 150 km/h in 380 Metern Höhe entlang rauscht.

Wer seinen Strandtraum sucht, findet ihn vielleicht auf La Morillo

Wer das Karibik-Feeling sucht, verlässt die Berge in Richtung Ponce, ein hübsches Städtchen mit bunten Kolonial-Häusern, und fährt immer weiter an der Küste bis Cabo Rojo ganz im Westen der Insel, wo sich Atlantik und das Karibische Meer küssen, wo puerto-ricanische Familien am Combate Beach das Strandleben mit Empanadas und Bier aus der Kühltruhe und Jennifer Lopez aus dem plärrenden Bluetooth-Lautsprecher zelebrieren. Wer seinen ganz persönlichen Strandtraum sucht, wird vielleicht auf der Halbinsel La Morillo hinter den riesigen Salzfeldern fündig. Dort hat sich la Playuela, ein halbrund geschwungener weißer Sandstrand, in die goldgelbe Steilküste gefressen. Im badewannenwarmen Wasser dümpelnd, einen Pelikan über dem Wasser schweben sehend, fällt es hier schwer daran zu glauben, dass es noch einen schöneren Ort auf Erden gibt. Seufz!

„It’s Puerto Rico“, sagt Fahrer José auf der Rückfahrt nach San Juan. „It’s not perfekt. But we have a little Paradise here!“ Nicht perfekt ist aus deutscher Sicht natürlich untertrieben. Die seit 1898 von den USA quasi als Kolonie fern verwaltete Insel bricht unter einer 70-Milliarden-Doller-Schuldenlast gerade zusammen, leidet unter seinen korrupten Eliten, die über Jahrzehnte auf Pump geprasst haben. Die Mittelschicht wurde aufgerieben, es gibt nur noch Menschen mit mucho Dinero und sin Dinero, und ob du zur einen oder anderen Seite gehörst, entscheidet sich maßgeblich darüber, ob du zur richtigen Familie und Filzschicht gehörst oder eben nicht.

Wie hält man das aus? „Das eine ist die Politik und deren Spiel“, sagt José. „Das andere das Leben. Wir sind sehr eng in unseren Familien. Und wir Puerto Ricaner helfen einander.“ Aber wie wär’s mit ein wenig Revolution, Kampf gegen das Unrecht? José stöhnt nur. Ja, schon klar. Life is too short to worry.

Andere nehmen ihr Schicksal nicht auf die leichte Schulter. Bei einem Zwischenstopp auf der Hacienda Buena Vista, einer ehemaligen Kaffeeplantage in den Wäldern über Ponce, lernen wir die junge Ökolandwirtin Alexandra Rodriguez kennen. Im Auftrag einer Stiftung betreiben sie und ein Team aus Einheimischen das Gut aus dem 19. Jahrhundert als nachhaltigen Bio-Betrieb und als Naturerlebnisstätte für Schulklassen und andere Gruppen. „Meine Freunde aus der Uni, die Medizin oder Jura studiert haben, verlassen alle die Insel“, sagt Alexandra. „Sie verdienen in Amerika das Dreifache im Vergleich zu Puerto Rico.“ Auch sie habe ein neues Leben in New York gesucht. Doch gefunden habe sie nur Ablehnung und Rassismus. „Meine Haut ist dunkel. So hast du in New York keine Chance.“ Ihre Freunde in den USA lebten materiellen Wohlstand. „Doch sie wirken gestresst, werden krank, vermissen Puerto Rico. Und ich frage mich, was das soll.“ Alexandra hat sich für ihre Insel entschieden. „Hier habe ich meine Familie, viele Freunde, diesen wunderschönen Wald, den ich schützen möchte. Das ist mein Leben.“

Bacardi produziert in der Bucht von San Juan unfassbare Mengen Rum

Zurück in Old San Juan, müssen wir noch über den Rum reden. Denn Bacardi betreibt in der Bucht von San Juan schließlich die größte und modernste Destillerie der Welt und produziert unfassbare Mengen Alkohol. Die Pu­erto Ricaner haben die Rum-Exilanten aus ­Kuba nie so richtig ins Herz geschlossen und schwören auf die Rum-Sorten Don Q aus ­Ponce (für den Alltag) und Barrilito aus Bayamòn (für den besonderen Anlass). Wer sie in Perfektion serviert bekommen möchte, geht in La Fac­toria, eine sympathisch trashige Bar an der Calle San Sebastian, mit hübschen Menschen und extrem gut ausgebildeten Barkeepern. Wer das Nationalgetränk Puerto Ricos, die Pina Colada trinken möchte, geht in die Barrachina an der Calle Fortaleza, denn dort wurde sie angeblich 1963 erfunden.

Und dann, als man sich gerade zwischen zwei Don Q Gran Anejo an die Zurückgelehntheit des Lebens in Puerto Rico gewöhnt, erinnert das Flugticket daran, dass der kommende Tag den Abflug bringen wird. Also schnell noch mal raus auf die Kopfsteinpflastergassen und rein ins Nuyorican Café an der Calle San Francisco, um ein weiteres Mal dem anderen Nationalheiligtum der Insel zu huldigen, der Salsa. Auf der kleinen Bühne die Hausband, mit Bläsern und Timbales, die ihre Riffs und Rhythmen so scharf zwischen die tanzenden Pärchen peitschen, dass diese sich in wilden Drehungen und lasziven Zuckungen ergehen – Symbiose zwischen Leidenschaft und Musik. Die Puerto-Rico-Therapie endet mit einer Lektion in Körperbeherrschung und der Erkenntnis, dass Sex auch angezogen geht.

Tipps & Informationen

Anreise z. B. mit Condor ab Frankfurt oder mit Delta über New York.

Unterkunftz. B. im Hotel Casablanca, 316 Calle Fortaleza in Old San Juan, DZ
ab 120 Dollar, www.hotelcasablancapr.comoder im Combate Beach Resort, 3301 Rd,
Km 2.7, Cabo Rojo, einfaches Beach-Hotel, DZ ab 130 Dollar (www.combatebeach.com)

Auskunft www.seepuertorico.com, www.puertoricotourism.pr.gv

(Die Reise wurde unterstützt von der Puerto Rico Tourism Company.)