Die Grenzregionen vonHessen und Thüringen bilden seit der deutschen Einheit das geografische Zentrum der Republik. Eine Landschaft, die zu entdecken sich lohnt

Unten am Fluss wird der Blick weit. Auf der einen Seite der Ludwigsstein, wie die Einheimischen sagen, in gerader Linie gegenüber erheben sich die Türme der Burgruine Hanstein. Der Zweiburgenblick an der Werra bei Wendershausen ist ein Postkarten-Idyll, das kam schon auf einer Briefmarke zu nationalem Ruhm. Doch was heute so selbstverständlich grenzenlos ist, war lange unüberwindbar getrennt. Zwischen den Burgen Ludwigsstein in Nordhessen und Hanstein im Eichsfeld zog sich der Eiserne Vorhang, der Deutschland vier Jahrzehnte in West und Ost teilte – und die mittelalterlichen Gemäuer im Grenzland zu Vorposten politischer Systeme machte.

25 Jahre ist das inzwischen her, und das vereinte Deutschland für die meisten der Normalfall. Die Grenzregionen Hessens und Thüringens, früher am äußersten Rand von BRD und DDR gelegen, sind jetzt die Mitte der Republik. Experten verorten hier den geografischen Mittelpunkt der Nation, am Schnittpunkt der längsten Nord-Süd- und West-Ost-Linien in der kleinen Gemeinde Niederdorla. Aber gefühlt? Für viele Deutsche ist die Region wohl eher Terra Incognita, das Grenzland unbekanntes Territorium. Sogar auf der Wetterkarte im Fernsehen prangt dort ein weißer Fleck. Und das gerade mal gut drei Stunden von Hamburg oder Berlin, von Essen oder Stuttgart entfernt. Dabei entdeckt, wer sich aufmacht ins Zentrum des wiedervereinten Landes, unberührte Natur, authentische Kultur, Spuren jüngster deutscher Geschichte.

Und man trifft Grenzgänger wie Kristina Bauer, die Geschichte mit Geschichten füllen. „Da ungefähr stand früher der Grenzzaun, dahinter begann der Westen“, erzählt die Besitzerin des Hofes Sickenberg und zeigt auf eine Reihe junger Bäume, keine 20 Meter entfernt. Vor zehn Jahren hat die 57-Jährige den leer stehenden Vierseithof im ehemaligen Sperrgebiet gekauft und mit viel Eigenarbeit zu einem Kleinod gemacht. Das 200 Jahre alte Fachwerkhaus mit Hofcafé und vier Gästezimmern liegt einladend in der Mittagssonne. Direkt vor der Tür führt der Wanderweg P 16 vorbei und lädt Wanderer in der Eichsfelder Schweiz zur Rast. „Ich wollte schon immer so einen Hof“, sagt die gebürtige Hamburgerin, die vor 30 Jahren wegen des Landwirtschaftsstudiums ins nahe Göttingen gekommen war. Ihren Lebenstraum hat sie sich in Thüringen erfüllt.

Und vielleicht, Paradox der Geschichte, wäre das ohne die Grenze gar nicht möglich gewesen. Denn eigentlich gehörte das Dörfchen Sickenberg nach Kriegsende zu Hessen. Weil aber eine wichtige Nord-Süd-Bahnverbindung 5,6 Kilometer durch die sowjetische Zone lief und es immer wieder Versorgungsengpässe beim amerikanischen Nachschub gab, unterzeichneten die Besatzungsmächte am 17. September 1945 mit den Warnfrieder Verträgen einen Gebietstausch. Sickenberg und vier andere Dörfer wechselten nach Thüringen, im Austausch mit Neuseesen und Werleshausen. Zum Abschluss schenkten sich die Verhandlungspartner eine Flasche Whisky und eine Flasche Wodka, was der Strecke im Volksmund den Namen Whisky-Wodka-Linie gab.

An diesem Sommertag ist es still hier. So still, dass das Summen einer Hummel in den Ohren dröhnt. Und es duftet, kräftig und frisch. Im Bauerngarten hinter dem Haus wachsen Salat und Gemüse, auch seltene Sorten wie Kasseler Strünkchen oder Haferwurz. Dahinter Streuobst auf der Wiese und eine Beerenplantage. Welch Verheißung für die Erntezeit und die köstlichen Kuchen von Kristina Bauer. Es gibt Schafe und eine Katze. Sobald der Stall fertig ist, soll Federvieh dazukommen, vielleicht einige Schweine. Man kann bei der Biobäuerin lernen, Brot zu backen oder mit der Sense umzugehen. Existenzielle Dinge eben.

Während der Besucher den malerischen Bögen der Werra durch hügelige Landschaft folgt – zu Fuß, auf dem Fahrrad, im Kanu oder im Auto –, entstehen Freiräume, die eigene Mitte zu finden. „Ich weiß nicht, dass ich jemals von der zauberhaften Schönheit eines Erdenfleckens so innerlichst berührt worden wäre“, schrieb Theodor Storm vor 150 Jahren über das Eichsfeld. Heute schlängelt sich auf 130 Kilometern das „Grüne Band“ durch die Landschaft, die Natur erobert sich den ehemaligen Grenzstreifen zurück. Immer wieder wechselt man zwischen hessischem Werratal, thüringischem Eichsfeld und der Welterberegion Wartburg Hainich von West nach Ost.

Manchmal unbemerkt, so ähnlich sind sich Dörfer und Städtchen mit ihrem herausgeputzten Fachwerk 25 Jahre nach der Wiedervereinigung geworden. Oder aber in bewusster Erinnerung an die ehemalige innerdeutsche Grenze, wenn man etwa auf eins der sieben Kunstwerke des Projekts „Kunst an der Grenze“ stößt, das zur Grenzöffnung vor 25 Jahren entstand. Sehenswert die Arbeit „Gespalten – Stand gehalten“ des Hamburger Künstlers Norbert Jägeraus dem Jahr 2014 vor dem historischen Bahnhof Eichenberg.

Denn natürlich haben sich Grenzziehung und Teilung tief in das kollek­tive Bewusstsein der Region gegraben. Mit welch brutaler Gewalt sich der meterhohe Metallzaun mit Selbstschussanlagen, Hundelauf und Grenzposten durch das Land zog, lässt sich nicht nur an der Berliner Mauer nachleben, sondern auch in der Ausstellung des ältesten deutschen Grenzmuseums Schifflersgrund. Die Gedenkstätte liegt auf dem ehemaligen Todesstreifen. „Über Kilometer ist der alte Zaun erhalten“, erklärt Mitgründer Stefan Heuckeroth-Hartmann, ein Westler. Selbst die Stelle, an der 1982 der DDR-Bürger Hans-Josef Große bei einem Fluchtversuch starb, ist zu erkennen. Heuckeroth-Hartmann will sogar „noch das Einschussloch im Zaun“ ausmachen.

Aber auch der Widerstand hat seinen Ort im Grenzland. Oben auf dem Hülfensberg hat in der DDR-Zeit ein Franzikaner-Pater die Stellung im Sperrgebiet gehalten, als der Orden das Kloster schon aufgegeben hatte. In der Katholiken-Enklave Eichsfeld ein wichtiges Zeichen. Bis heute leuchtet bei besonderen Anlässen das Kreuz vom Berg. Wie Bruder Erwin den Machthabern die Stirn geboten hat, erzählt sein Nachfolger Rudolf, der jetzt heute mit vier anderen Mönchen in dem Wallfahrtort und Einkehrkloster lebt. Im Herbst 1989 wurde es zum bedeutsamenOrt friedlichen Widerstands, als 3000 Menschen mit Kerzen zum Kloster auf den Berg zogen – vorbei an fassungslosen Grenzsoldaten. „Der Ort wirkt aus sich heraus“, sagt Mönch Rudolf. „Hier ist man dem Himmel näher.“

Die 600 Jahre alte Wallfahrtskirche auf dem Hülfensberg mit ihrem 1000 Jahre alten Christus-Altar zieht Kunstliebhaber an. Hunderte kommen zu den Messen, die auch nach außen übertragen werden.Es hat aber wohl auch etwas mit dem Eichsfeld zu tun und seinen Bewohnern.„Heimatverbunden, bodenständig, fleißig“, beschreibt Ute Morgental vom Heimat- und Verkehrsverband die Eichsfelder und auch sich selbst. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben, wird auch was draus. Ein Beispiel? Seit einigen Jahren schuckelt auf der Bahnstrecke zwischen Dingelstädt und Geismar wieder ein Zug. Was mit einer Gruppe Enthusiasten begann, ist inzwischen veritable Wirtschaftskraft. Die Kanonenbahn, wie sie in Erinnerung an die Bestimmung der 1865 eingeweihten Trasse heißt, war in den 1990er-Jahren stillgelegt worden, mangels Passagieren. Jetzt fahren wieder 30.000 Gäste im Jahr auf der 24-Kilometer-Strecke. Wer will, kann auch mit einer Draisine über drei Viadukte und durch fünf Tunnel strampeln. Der Draisinenverein beschäftigt 14 Mitarbeiter und plant, so der Geschäftsführer Frank Schröter, „den Ausbau nach Westen bis nach Eschwege“.

Der Bahnhof in Lengenfeld unterm Stein ist stilgerecht saniert und bietet außer Eisenbahnerromanik auch Gas­tronomie. Auf der Karte steht „eine Tasse Bohnenkaffee 1,60 Euro“ und die Eichsfelder Stracke, eine würzige Mettwurst. Denn so nah sich hier West und Ost sind, es geht auch um die Wurst. Was dem Eichsfelder seine Stracke, ist dem Nordhessen seine „Ahle Wurscht“. So weit ist es mit der Einheit nicht, ein Glück.

Burg, Land, Fluss – Wald. Auf der Spur der deutschen Einheit führt die Grenzlandtour Richtung Wartburg-Stadt Eisenach und mitten hinein in den, wie manche sagen, deutschesten aller deutschen Wälder. Ankunft im Nationalpark Hainich. Das größte zusammenhängende Buchenwaldgebiet Europas genießt seit 1998 den höchsten Naturschutzstatus, knapp die Hälfte der 13.500 Hektar sind zudem Bestandteil des Unesco Weltnaturerbes. An manchen Stellen fühlt man sich unter dem Blätterdach der Jahrhunderte alten Bäume wie in einem Urwald. Oder man wandert in schwindelnder Höhe über den Baumkronenpfad. Auch die scheue Wildkatze ist hier heimisch.

Mittendrin, gerade mal 15 Kilometer entfernt vomehemaligen Grenzstreifen waren zu DDR-ZeitenTausende russische Soldaten stationiert. och acht Jahre vor dem Ende der DDR ließen sie einen ganzen Höhenzug mit knapp 500 Hektar, den Kindel, für eine Erweiterung des Truppenübungsplatzes abholzen. Und noch ein Paradoxon der Geschichte: „Ohne die Truppenübungsplätze würde es den Nationalpark wohl nicht geben“, sagt Revierleiter Jens Wilhelm. Im Sperrgebiet war Forstwirtschaft verboten, der Wald konnte sich entwickeln.

Wie die Natur sich jenseits poli­tischer Grenzen ihren Raum erobert, lässt sich heute etwa auf dem Wildkatzenpfad in Hütscheroda sehen, einem der 120 Wanderwege durch den Nationalpark. Wo einst Panzer kurvten und Unmengen Munition verschossen, wachsen inzwischen wieder Heckenrosen, Erlen, Birken und junge Eichen. Und irgendwann kommen auch die Buchen wieder. Man wird demütig hier in dieser Landschaft. Die Einheit, das wird fühlbar, ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Das gilt für die Natur, aber auch für die Menschen des wiedervereinten Landes.