Die Weinlese in der Champagne hat schon begonnen. Dort, wo Könige gekrönt wurden, entsteht das kostbarste Getränk der Welt.

Reims. Morgens, halb zehn in Frankreich: plopp! Der Korken knallt, das Frühstück ist angerichtet. "Am besten entfalten sich die Aromen auf nüchternen Magen", sagt Isabelle Pierre und reicht ein Glas Champagner. Prickelnder kann eine Führung nicht beginnen. Hier geht es nämlich darum, etwas zu lernen. Dass man dabei trinken darf, macht die Sache pädagogisch umso wertvoller, weil gleich mehrere Sinne angesprochen werden: Man hört die Informationen, sieht die tanzenden Bläschen im Glas, spürt die Kälte der Kellerräume und schmeckt das Getränk, das vor weltweiter Beliebtheit nur so überschäumt. Es begießt Geburtstage, tauft Schiffe, bespritzt Rennfahrer, begrüßt das neue Jahr und sagt mit jedem Schluck: "Ich bin etwas Besonderes." Flüssiger Luxus, der rund um Reims und Épernay entsteht, ungefähr 100 Kilometer nordöstlich von Paris. Dort führt die gut ausgeschilderte Champagner-Straße (Route Touristique du Champagne) vorbei an den wichtigsten Anbaugebieten, Produzenten und Dörfern.

Die Gegend gleicht dem Aufbau eines Eisberges: Oben liegen hübsch und wohlgeordnet die Weinberge, der Kern der Sache aber versteckt sich unter der Oberfläche, in den Kellern der Champagnerhäuser. "Hier entsteht unser Savoir Vivre und ein Symbol Frankreichs", sagt Führerin Isabelle Pierre und steht dabei am Anfang eines 24 Kilometer langen Kellerlabyrinths, welches das Haus Veuve Clicquot in einem alten Kreidebruch unter Reims besitzt. Millionen von Flaschen lagern hier 20 Meter unter der Erde, angestrahlt von sanfter Beleuchtung, umgeben von kuscheligen zwölf Grad. Durch die pyramidenähnliche Bauart der Gewölbe fühlt man sich wie in einer unterirdischen Kathedrale - mit Verkehr. Arbeiter fahren in elektrischen Wagen durch die Gegend und hupen Touristen zur Seite, die zahlreich kommen, um dem Geheimnis des Getränks auf den Grund zu gehen.

+++Übersichtskarte zur Route de Champagne+++

+++Dom Pérignon der Benediktinermönch+++

Eineinhalb Stunden dauern die Touren, sie kosten zwischen 16 und 75 Euro, je nachdem, was man verkosten möchte. "Am Ende sind alle glücklich, ich liebe diesen Job", sagt Pierre, die eigentlich Kulturhistorikerin ist, und erzählt beim Gang durch die Keller die Geschichte der Witwe (franz. Veuve) Clicquot. Ihr Mann starb 1805, da war sie erst 28 Jahre alt. Obgleich ohne jede Erfahrung, übernahm sie seinen Weinhandel und wurde zur reichsten Unternehmerin Frankreichs. Heute strahlen ihre Produkte mit den dottergelben Etiketten auf der ganzen Welt Lebensfreude aus. Ihre Trauerkleidung legte die Witwe jedoch bis zu ihrem Tod im Alter von 89 Jahren nicht ab. Ob der Champagnerkonsum für ihr langes Leben verantwortlich gewesen sei, fragt eine Engländerin und erntet zustimmendes Nicken von Madame Pierre: "Natürlich ist Champagner gesund. Schon Babys geben wir hier ein paar Tropfen auf die Lippen, wenn sie Zähne bekommen."

Keine andere Gegend der Welt definiert sich so über ein Produkt wie die Champagne, was den Touristen überall mit Stolz vor Augen gehalten wird: Es gibt Wegweiser in Form eines Fasses, Schokolade in Form eines Korkens und Fenster (zum Beispiel die der Straßenbahn in Reims) in Form eines Glases. Nachmittags treffen sich die Damen nicht zum Kaffeekränzchen, sondern auf ein Glas Champagner in der Brasserie. Abends kann man im Restaurant aus 300 verschiedenen Sorten wählen, und das Essen kennt ohnehin nur die eine Basis. Fisch, Fleisch, Nudeln, Risotto, Marmelade, Biskuit - alles mit Schampus gekocht, darin gewälzt, dadurch veredelt.

Mehr als 15 000 Winzer leben in der Champagne, viele von ihnen bieten Führungen durch ihre Produktionsstätten an, für die ein inoffizieller Besichtigungs-Knigge drei Regeln hätte: 1. Ziehen Sie sich warm an. In den Kellern ist es kalt und feucht. 2. Seien Sie trinkfest. Eine Probe abzulehnen gilt als grob unhöflich, Ausreden wie "Ich muss fahren" oder "Ich hatte heute wirklich schon sechs Gläser!" werden nicht akzeptiert. 3. Haben Sie Geduld. Auch wenn man Ihnen zum x-ten Mal erklärt, aus welchen drei Rebsorten Champagner gekeltert wird (Chardonnay, Pinot Noir und Pinot Meunier), woran man die besseren Champagner erkennt (kleinere Perlen), wie geerntet wird (alles per Hand, um die Trauben-Hülle nicht zu verletzen), was den Boden hier auszeichnet (der hohe Kreidegehalt) oder warum nur Amateure den Korken knallen lassen (es geht zu viel CO2 verloren) - hören Sie zu, und Sie werden feststellen, dass hier keine Landwirte sprechen, sondern Künstler.

"Wir produzieren etwas, das sinnlos ist, das Leben allerdings etwas schöner macht", sagt Jean-Hervé Jacquesson, der mit seinem Bruder einen kleinen, aber sehr feinen Familienbetrieb in Dizy führt. An der Hand trägt er den goldenen Siegelring seines Großvaters, in der Hand drei Weißweingläser. Daraus schmecke der Champagner besser als aus den schmalen Kelchen. Auch die Wahl des passenden Glases ist ein viel diskutiertes Thema, ein ungarischer Weinkenner behauptet beim Tasting, in einem von ihm durchgeführten "repräsentativen Test" habe das Schott Zwiesel 1872 das Rennen gemacht. Das Glas kostet mindestens 20 Euro, noch ohne Inhalt versteht sich. "Champagner trinken ist Luxus, klar, aber das macht es ja so besonders", sagt Jacquesson. "Das Getränk hat einen mystischen Effekt."

Dessen haben sich schon viele bedient: Casanova verführte die Frauen damit, Napoleon befeuerte damit seine Feldzüge, Marilyn Monroe badete darin. Das Getränk scheint flexibel einsetzbar zu sein. Coco Chanel sagte: "Ich trinke Champagner nur zu zwei Gelegenheiten: Wenn ich verliebt bin und wenn nicht." Die universellste Philosophie aber lieferte Lilly Bollinger: "Ich trinke Champagner, wenn ich glücklich bin und wenn ich traurig bin. Manchmal trinke ich ihn, wenn ich allein bin. In Gesellschaft ist er ein Muss. Ich nippe daran, wenn ich Hunger habe. Ansonsten lasse ich die Finger davon - außer natürlich, wenn ich durstig bin."

Als dritte kluge Trinkerin muss hier Madame Pompadour zitiert werden: "Champagner ist der einzige Wein, von dessen Genuss eine Frau schöner wird." Die Mätresse von Ludwig XV. machte das Getränk bei Hofe populär, jeden Sommer bestellte sie 200 Flaschen bei Moët, sie war sozusagen die erste Werbebotschafterin des Hauses.

1743 wurde das Unternehmen in Épernay gegründet, damals lag es einsam am Rand des Dorfes, im Laufe der Jahre haben sich viele inzwischen große Häuser wie Perrier-Jouet und Mercier dazugesellt. Gemeinsam bilden sie nun die Avenue de Champagne, eine Promenade der Großzügigkeit. Kleine Schlösser und große Villen reihen sich aneinander, auf den kalkweißen Gehwegen geben sich Touristen gegenseitig Tipps, bei welcher Führung es am meisten zu probieren gibt. "Dies ist die Hauptstraße des Champagners", sagt die Führerin bei Moët & Chandon und prostet der Gruppe zu. Der Ursprung des Champagners befindet sich allerdings einige Fahrtminuten weiter in Hautvillers. Neben Oger ist es eines der schönsten Dörfer der Region mit einem tollen Blick auf das Marnetal, wo zurzeit sehr viele Arbeiter zwischen den Reben herumwuseln. Die Weinlese findet in diesem Jahr eher statt als sonst, was an den heißen Temperaturen im April liegt.

Die Häuser in Hautvillers werden von 140 Zunftzeichen aus Messing geziert, und in ihrer Mitte steht die alte Abtei, die Wiege des Champagners. Hier war der Mönch Dom Pierre Pérignon 47 Jahre lang Kellermeister, er formulierte die "Goldenen Regeln der Winzerkunst", die bis heute befolgt werden. Sein Geschmackssinn war legendär, angeblich konnte er am Geschmack einer Traube erkennen, von welchem Feld sie stammte. Er komponierte unterschiedliche Aromen miteinander, und als er zum ersten Mal sprudelnden Champagner schmeckte, soll er gerufen haben: "Kommt herbei, Brüder. Ich habe die Sterne gekostet!" Aber nur wenige werden sich in den Keller hinab getraut haben. Weil die Flaschen früher durch den Innendruck häufig explodierten, nannten ihn die Mönche "Teufelswein".

Pérignons Grab kann heute in der Abteikirche besichtigt werden. "Wir stoßen jeden Tag auf unseren Erfinder an", sagt ein Bauer, der mit einer ersten Ladung Trauben vom Feld kommt und lacht. Ohne den feinsinnigen Mönch gäbe es hier nämlich keinen Tourismus, sondern nur die Friedhöfe aus dem Ersten Weltkrieg, der in der Region Champagne-Ardenne unzählige Opfer forderte. Auf den Schlachtfeldern von früher wächst heute das größte Produkt der Lebensfreude.

Bei Vranken-Pommery in Reims inszeniert man sie auf ganz besondere Weise. Schon die Außenanlage ist spektakulär: Eine fliegende Untertasse liegt im Vorgarten, ein Elefant hängt kopfüber von der Decke in der Wartehalle. Besucher steigen die 116 Treppen hinab in die Stollen und erleben neben der üblichen Champagner-Führung auch eine Kunststunde. In jedem Kellerraum steht eine neue Skulptur: ein fliegender Batman, ein regnendes Haus, zwei halbe Nilpferde, ein schwarzes Loch aus Schrottteilen. Alles sehr interpretierungsbedürftig, aber über Geschmack lässt sich gerade in der Champagne nicht streiten. An den Wänden befinden sich gigantische Reliefs, beleuchtet von Kerzenlicht. Sie wurden 1882 von Louise Pommery in Auftrag gegeben. Die Gründerin des Hauses glaubte, dass Kunst und Champagner einander adelten; diese Philosophie verfolgt das Haus noch heute. So entstand das prickelnde Museum unter Tage.

In der Champagne lohnt sich allerdings nicht nur der Blick nach unten, sondern auch nach oben. Auf einem Hügel vor Reims liegt das Fort de la Pompelle, die einzige Kriegshochburg der Gegend, die im Ersten Weltkrieg in den Händen der Alliierten blieb. Richtig berühmt ist die Kathedrale Notre Dames de Reims, die dieses Jahr ihr 800-jähriges Bestehen feiert. In dem Meisterwerk der Gotik wurden einst die französischen Könige gekrönt. 1962 war sie Schauplatz der deutsch-französischen Versöhnung, als Konrad Adenauer und Charles de Gaulles hier bei einem Gottesdienst gemeinsam niederknieten. Ein besonderes Zeichen an Deutschland war nun, dass der Düsseldorfer Künstler Imi Knoebel zum Jubiläum sechs neue Kirchenfenster gestalten durfte. Die Farben Blau, Gelb und Rot strömen so hell durch die heiligen Hallen, dass man unweigerlich die Bibel zitieren möchte: "Und es ward Licht!"

Wer aber denkt, in der Kirche eine Champagner-freie Zone zu finden, irrt. Ein paar Meter weiter wurde das Thema auch hier aus der Taufe gehoben: Drei riesige Fensterbilder aus dem Jahr 1954 zeigen die Arbeit im Weinberg und Szenen aus Dom Pérignons Leben und huldigen die Hersteller des Rebensaftes. Vielleicht ist das Gelobte Land in Wirklichkeit die Champagne.