Eine Gedenkstätte auf dem Kapi-Hügel erinnert an das Massaker von Kalavrita, bei dem am 13. Dezember 1943 fast 500 Griechen von deutschen Soldaten ermordet wurden

Von Diakofto aus erreicht man Kalavrita, hoch im Norden der Peloponnes, mit der Zahnradbahn. Zwanzig Kilometer klettern die Waggons die Vouraikos-Schlucht hoch. Bäume balancieren auf Felsvorsprüngen, Wasser fällt in die Tiefe, und Gestein schichtet und formiert sich zu einem Canyon mit Gardemaß. Sonnenstrahlen prallen am dichten Blätterwerk ab, und selbst der Fluss Vouraikos plätschert an manchen Stellen waldmeistergrün dahin. Doch die paradiesische Landschaft vor den Zugfenstern lügt. Ihre Schönheit ist echt, ihr Idyll aber eine Täuschung. Da liegt kein unverfälschtes und unverdorbenes Territorium, seinen Frieden hat es vor über 70 Jahren verloren, als Soldaten der deutschen Wehrmacht mit der Zahnradbahn nach Kalavrita hinauffuhren.

Heute transportiert diese Bahn Touristen. Kalavrita ist ein beliebtes Urlaubsziel für Wanderer und Wintersportler. Ferienhäuser im Stil Schweizer Chalets, Restaurants, Cafés und Souvenirläden prägen den Ortskern. Mit hellgetünchten Fassaden, ziegelroten Dächern und gusseisernen Straßenlaternen wirkt die Stadt wie aus dem Bausatz für Modelleisenbahndörfer. Alles ist hübsch, sauber und makellos. Nur die ramponierte Turmuhr der Kirche passt nicht in das Bild des schicken Städtchens. Das schmutziggraue Ziffernblatt neigt sich so weit nach vorn, als stürze es im nächsten Moment herab. Seine Zeiger stehen still – seit fast 72 Jahren. Mehr als 37 Millionen Minuten blieben ungezählt, seit die Kirchturmuhr um 14.34 Uhr die Zeit anhielt. Genau in jenem Moment des 13. Dezembers 1943 hallten die letzten Schüsse über die Stadt. Es war das Ende einer fünf Stunden dauernden Hinrichtung, ein Vergeltungsakt der Wehrmacht. 477 Kalavriter mussten sterben, um den Tod deutscher Soldaten eines Jägerregiments zu rächen. Die Deutschen waren Geiseln der Widerstandsorganisation Elas, die mit ihnen die Freilassung griechischer Häftlinge erpressen wollte. Als dieser Versuch scheiterte, erschossen die Elas-Kämpfer ihre deutschen Gefangenen. Die Wehrmacht nahm Rache: Ihre Soldaten brannten achtundzwanzig Dörfer nieder und ermordeten mehr als 1300 Griechen.

Einheimische und Gäste blicken jeden Tag auf das Betonkreuz über der Stadt

Sichtbar wird die Erinnerung an die Opfer durch die stillstehende Kirchturmuhr und durch ein massiges Betonkreuz. Milchweiß leuchtet der fünf Meter hohe Kreuzriese vom Kapi-Hügel herunter auf die Stadt. Von fast jedem Punkt in Kalavrita aus ist das Kreuz zu sehen. Jeden Tag schauen Einwohner und Feriengäste von den Fenstern ihrer Wohnungen und Hotelzimmer darauf, schieben seine weißen Betonbalken sich in ihre Augenwinkel, wenn sie auf dem Weg zum Bäcker sind, im Restaurant sitzen oder ins Nachbardorf fahren. Und nachts, wenn die letzten Lichterketten über den Café-Terrassen verlöschen, wird das Kreuz von Scheinwerfern angestrahlt.

Alle männlichen Einwohner Kalavritas, die im wehrpflichtigen Alter, also älter als 15 Jahre waren, hatten die deutschen Soldaten dort hinaufgebracht. Frauen, Kinder und Greise pferchten sie in die Klassenräume der Grundschule. Mit ihnen als Geiseln hielt man die Männer auf dem Kapi-Hügel in Schach. Das Schreien und Weinen ihrer eingesperrten Familien drang bis zu ihnen hoch. Keiner wagte es, Widerstand zu leisten, als die Deutschen begannen, Kalavrita zu plündern und alle Gebäude in Brand zu setzen. Sie mussten zusehen, wie Häuser einstürzten, wie sich Wolken aus Rauch und Staub über die Stadt legten und wie um die Mittagszeit grüne und rote Signallichter aufstiegen – Zeichen für die deutschen Soldaten, mit der Exekution zu beginnen.

Drei Generationen von Männern starben an diesem Tag 1943. Das älteste Opfer war über achtzig, das jüngste zwölf Jahre alt. Die Frauen der getöteten Männer und Mütter der Jungen machten weiter, weil sie überlebende Kinder hatten. Die meisten waren im Jahr des Massakers an ihren Männern unter dreißig Jahre alt. Kaum eine hat später wieder geheiratet, und keine hat je Hilfe oder materielle Wiedergutmachung erhalten, weder vom griechischen Staat noch von der Bundesrepublik, obwohl das oberste Gericht Griechenlands, der Areopag, Deutschland im Jahr 2000 zur Zahlung einer Kriegsentschädigung in Höhe von fünfundfünfzig Millionen Mark verurteilte.

Die verantwortlichen Befehlshaber gelten seit 1945 als vermisst

Die Bundesrepublik erklärte das Urteil für rechtsungültig. Klagen von Angehörigen der Opfer auf Wiedergutmachung wurden abgelehnt, da Deutschland als souveräner Staat Immunität genießt. Das Gericht eines Staates – in diesem Fall Griechenland – kann demnach einen anderen Staat – Deutschland – nicht verklagen. Auch der Europäische Gerichtshof wies Ansprüche auf Schadensersatz wegen der Massenexekution in Kalavrita im Februar 2007 ab. Bereits in einer Akte des Auswärtigen Amtes von 1953 heißt es: „Die Errichtung eines Denkmals wäre schädlich für die Beziehung zwischen beiden Ländern.“ Die Massaker an der Zivilbevölkerung werden gewertet als „tragische Kettenfolgen eines Partisanenkrieges. Folglich dürfte eine eventuelle deutsche Hilfe nicht die Form einer Wiedergutmachung haben, sondern wäre die Folge reinen Mitgefühls des wirtschaftlich Stärkeren an seinen ehemaligen Rivalen.“ Wie viel ließ man sich dieses reine Mitgefühl kosten? Bundeskanzler Konrad Adenauer überreichte der Kalavrita-Hilfe 1954 einem Scheck in Höhe von 50.000 Mark. Die Bremer Bürgerschaft spendete 10.000 Mark zur Anschaffung neuer Webstühle, und mit Spenden deutscher Unternehmen konnte ein Ski-Zentrum mit Schlepplift errichtet werden. Als Bundespräsident Johannes Rau Kalavrita im Jahr 2000 besuchte, hofften viele dort auf eine Entschuldigung. Rau sprach von Trauer und Scham, nicht aber von Reue und Verantwortung. Auch daran erinnert das Kreuz auf dem Kapi-Hügel. Vierzehn Jahre später wagte es Bundespräsident Joachim Gauck bei seinem Versöhnungsbesuch in Griechenland, als erster Repräsentant Deutschlands um Verzeihung zu bitten.

Die verantwortlichen Befehlshaber der Aktion Kalavrita gelten seit 1945 als vermisst. Die Schützen des Exekutionskommandos konnten nicht ermittelt werden.

Die Verbitterung darüber ist zu spüren, wenn sich die Einwohner Kalavritas alljährlich am 13. Dezember unterhalb des Kreuzes versammeln und um Gerechtigkeit bitten. Sie halten dann Transparente in die Höhe, auf denen „Nie wieder Krieg, nie wieder Nazis!“ steht und lassen Salutschüsse durch die tränenfeuchte Luft ins Tal knallen. Der Bürgermeister verliest die Namen der Ermordeten in alphabetischer Reihenfolge.

Es sind 477 Namen und damit 477 Geschichten von Trauer, Schmerz und Verlust. Erst hat die Wehrmacht die Toten gezählt, um eine Erfolgsbilanz zu erstellen, später dann die Historiker, der wissenschaftlichen Präzision wegen. Auf den Gedenktafeln in Kalavrita sind die Namen der Ermordeten nicht durchnummeriert, aber Hunderte Öllampen brennen in einer Krypta, die in den Kapi-Hügel hineingebaut wurde. Für jeden Toten des Massakers ein Ewiges Licht.