Lithang. In Lithang, einer am Rande der chinesischen Provinz Sichuan gelegenen Siedlung, leben noch viele Einwohner trotz politischen Drucks ganz offen ihre traditionsreiche Kultur und ihren Glauben.

Es sind zwei Tage Fahrt aus der Provinzhauptstadt Chengdu, die Straße schlängelt sich durch die Berge der Kham Region. Die Busreifen streifen in den Kurven immer wieder am Abgrund vorbei. Es ist wie in der Achterbahn „Wilde Maus“ sitzen, nur macht es im voll besetzen Bus niemandem Spaß, auf den Abgrund zuzusteuern und erst im letzten Moment umzulenken. Erschreckend regelmäßig kommen hier Busse von der Straße ab. Im Herbst und Winter schneiden Erdrutsche und Schneestürme den Ort Lithang, unser Ziel, immer wieder von der Außenwelt ab.

Auf über 5000 Metern hält der Bus auf der Spitze eines Passes. Die ersten Schritte fühlen sich verwirrend an. Nicht nur, weil wir nach sechs Stunden Sitzen etwas wackelig auf den Beinen sind, sondern weil uns auch nach wenigen Schritten die Puste ausgeht. Das liegt an der Höhenluft. Ein Spaziergang fühlt sich an wie eine Jogging-Runde. Auch der Ausblick ist atemberaubend. Diese endlosen Bergketten unter dem knalligen Himmelblau. Pluster-Wolken über der dunkelgrünen Baumgrenze, die von oben wie mit einem Lineal gezogen aussieht – entlang der steilen Bergflanken. Darüber karge Steppenlandschaft, gelb und lebensfeindlich.

Der Blick über die Stadt zeigt die Weite der Landschaft rund um Lithang Foto: Sally Meukow
Der Blick über die Stadt zeigt die Weite der Landschaft rund um Lithang Foto: Sally Meukow © Sally Meukow

Der Bus fährt weiter, 1000 Höhenmeter abwärts. Es wirkt wie ein Tal, dabei hält der Fahrer in Lithang auf einem Plateau auf 4014 Metern. Zum Vergleich: Die Zugspitze ist 2962 Meter hoch. Bei über 4000 Metern sprechen Experten von extremer Höhe, mehr als die Hälfte der Menschen wird höhenkrank. Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit und Schlafstörungen sind die häufigsten Symptome. Für diejenigen, denen es wirklich schlecht geht, gibt es nur einen Weg: schnell runter!

Wir haben Glück, uns begleiten nur leichte Kopfschmerzen und schwere Müdigkeit. Vielen vergeht der Appetit, aber wir haben Höhenluft-Hunger. Überall lockt die tibetische Küche. Wir probieren den salzigen Buttertee, den wir nur aus dem Klassiker „Sieben Jahre in Tibet“ von Heinrich Harrer kennen. Und es gibt Maultaschen, die auf Tibetisch „Momo“ heißen, mit Yakfleisch gefüllt sind und gewöhnungsbedürftig stark nach Hammel schmecken.

Das Leben in der Kleinstadt Lithang (50.000 Einwohner) hat was von Wildem Westen mitten auf dem Dach der Welt: die Menschen mit sonnengegerbten Gesichtern, der Staub, die Schweine und Kühe auf der Straße. Frauen, die auf dem Bürgersteig Wäsche waschen. Und doch umgibt das Städtchen, das die meiste Zeit des Jahres von schneebedeckten Bergen umgeben ist, eine ganz besondere Magie. Die Magie des ehrlichen tibetischen Lebens.

Morgens schleppen blutbefleckte Männer ganze Yakviertel auf den Markt. Vor Ort schneiden sie Leber, Herz und Nieren heraus, hängen das Tier an Fleischerhaken auf und verfüttern die Schlachtabfälle an wartende Hunde. Es riecht nach Innereien und nach Abgasen von Motorrädern, die sich durch das Gedränge hupen. Obwohl man als Tourist ständig im Weg steht, freuen sich die Menschen. Nicht viele Besucher kommen hierher. Jeden Morgen kaufen die Restaurantbesitzer auf dem mit Wellblech überdachten Markt ihr Fleisch ein, das sie abends den Gästen zubereiten. Es ist so frisch, dass Kühlung kaum fehlt. Neben den Fleischständen sitzen alte Frauen mit faltigen Gesichtern im Schneidersitz auf Decken und preisen Kartoffeln an. Junge Männer hocken auf den Fersen und schlagen mit dem Hammer Tausende Punkte eines Ornaments in Metallschalen.

Die Präsenz der Polizei ist allgegenwärtig und bedrückend

Und mittendrin in diesem Gewimmel sind Hunderte buddhistische Mönche. Ihre roten Gewänder prägen das Stadtbild wie das buddhistische Kloster von Lithang, das wunderschön auf einem Hügel thront. Der Aufstieg ist kurz und steil, ein reinstes Höhentraining. Jeder Satz wird durch zweimaliges Durchatmen unterbrochen. Doch die Anstrengung lohnt sich. Oben landen wir mitten im tibetischen Alltag. Acht- bis zehnjährige Mönche jagen einander in der Pause mit ihren langen Gewändern, spielen Fangen. Ein erwachsener Gelehrter führt durch das Wohnheim der jungen Gläubigen. Fotografieren verboten, erklärt er mit Handzeichen. Überall hängen Bilder des Dalai Lama. Außerhalb von Klöstern ist das in China verboten, auch über ihn zu reden, ist gefährlich. Umso mehr überrascht der Mut der Menschen.

Auf der Hauptstraße gibt es einen Laden, kaum größer als eine Einzimmerwohnung, in dem die Mönche ihre Gewänder und die an den Ecken nach unten gefalteten, gelben Kopfbedeckungen kaufen, die nur besonders Gelehrte tragen dürfen. Im Halbdunkel des kleinen Raumes läuft eine Tonbandaufnahme von einer Rede des 14.Dalai Lama. Nur 20 Meter entfernt steht eine mobile Polizeistation: ein Bus mit vielen Kameras auf dem Dach.

Die Präsenz der Polizisten ist bedrückend, ein Wasserwerfer patrouilliert durch die Stadt, Militärjeeps parken am Straßenrand. Ende der 1950er-Jahre formierte sich hier eine von der CIA unterstützte bewaffnete Guerilla-Gruppe, die gegen die Chinesische Armee kämpfte. Während eines Pferderennens 2007 sprach sich der Tibeter Runggye Adak öffentlich gegen die Besatzer aus – und wurde festgenommen. Die Polizei beendete Demonstrationen gewaltsam, es kam zu mehreren politisch motivierten Festnahmen und einem, wie es hieß, „patriotischen Umerziehungsprogramm“ der Zentralregierung. Die Stadt war zwischenzeitig für Touristen gesperrt.

Eine tibetische Familie steht vor der fahlgrünen Steppe Foto: Sally Meukow
Eine tibetische Familie steht vor der fahlgrünen Steppe Foto: Sally Meukow © Sally Meukow

Wir können ohne chinesischen Begleiter durch die Straßen Lithangs laufen, dürfen reden, mit wem wir wollen und ungestört das Geburtshaus des 7.Dalai Lama besuchen. In Lhasa ist das anders. Die Erlaubnis, dorthin zu reisen, gibt es für Ausländer nur, wenn man eine geführte Gruppenreise bucht – mit Führer, der ganz genau aufpasst, was er einem zeigt, mit wem man spricht. Eine Woche gibt es ab 700 Euro. Nach Lithang kostet die Busfahrt von Chengdu über die sehenswerte Stadt Kangding rund 35 Euro, ein Essen gibt es für 2,50 Euro, und ein Doppelzimmer mit Gemeinschaftsbad ist für unter 10 Euro pro Nacht zu haben. Unser Hotelchef redet ganz offen über die Repressionen der Chinesen, deshalb möchte er seinen Namen auch nicht in einer Zeitung lesen. Wie seine Landsleute in der autonomen Region Tibet besitzt er keinen Reisepass, darf sein Land nicht verlassen, das er nicht China, sondern Tibet nennt.

Seine Rache für die vielen Ungerechtigkeiten ist subversiv. Jedes Jahr zu den chinesischen Nationalfeiertagen, an denen Hunderte Millionen durchs Land reisen, erhöht er die Preise enorm – nur für Chinesen. Von ihnen verlangt er 600 Yuan pro Zimmer. Von Nicht-Chinesen nur 60. Umgerechnet sind das rund 80 Euro zu 8.

„Ihr Deutschen habt doch gerade keine Festwoche, oder?“, fragt er grinsend. Humor ist alles, was ihm bleibt. Und die Freiheit, mit Touristen zu reden, ihnen von der tibetischen Kultur zu erzählen. „Die Gebetsfahnen hängen wir an heiligen Orten auf. Wenn der Wind die Stofffetzen verwittert hat, wurde das Gebet erhört.“

Gläubige haben über Jahre den heiligen Berg Zhaga damit eingehüllt, eine halbe Stunde mit dem Motorrad südlich von Lithang entfernt. Das Farbenmeer ist von Weitem zu sehen und sogar auf Satellitenbildern bei Online-Kartendiensten. Im Berg versteckt sich eine Höhle. Wer durch die Öffnung passt, hat ein reines Leben, heißt es.

Die Himmelsbestattung ist Ausdruck der Kultur und Bestandteil des Glaubens

Später stellt uns der Hotelchef eine Frage, die unseren Aufenthalt verändern wird: „Wollt ihr einmal auf eine Himmelsbestattung? Das ist ein wichtiger Teil unserer Kultur, eine Tradition Tibets!“ Die Tibeter glauben, dass die Seele den Körper wenige Tage nach dem Tod verlässt. Die fleischliche Hülle wird auf einem heiligen Berg an Geier verfüttert. Eine letzte Gabe an den Lebenszyklus. Dem Glauben nach tragen die heiligen Vögel den Verstorbenen ins Bardo, einen Zustand zwischen Tod und Wiedergeburt. Weltlich betrachtet hat die Tradition ihre Wurzeln darin, dass die Erde auf dem Plateau die meiste Zeit im Jahr gefroren und oberhalb der Baumgrenze Feuerholz für Einäscherungen knapp ist.

Die Himmelsbestattung wird von vielen Han-Chinesen als grausam empfunden – sie sehen darin einen Beweis für die barbarische Kultur der Tibeter. Während der Kulturrevolution war sie deshalb von Ende der 1960er- bis in die 1980er-Jahre auf chinesischem Gebiet verboten. Für unseren Hotelchef und seine Landsleute ist sie Ausdruck ihrer Kultur und Bestandteil ihres Glaubens. „Das ist der Kreislauf des Lebens. Als ein entfernter Verwandter von mir gestorben ist, habe ich geholfen“, sagt er. Der enge Familienkreis sei bei der Himmelsbestattung aber meist nicht anwesend. Warum das auch besser ist, erleben wir am nächsten Tag.

Wir stehen um kurz vor 7 Uhr morgens am Rand des Berges, zehn Autominuten westlich von Lithang. Es herrscht eine gespenstische Stille neben den Hunderten, zum Teil verblichenen Gebetsfahnen. Dann fahren etwa zwei Dutzend Autos vor, viele Männer und Frauen steigen aus. Der Leichnam eines alten Mannes wird aus einem weißen Tuch gewickelt und mit dem Gesicht nach unten auf die Erde gelegt. Über die Hügel kommen, wie verabredet, die ersten Geier angeflogen.

Zwei Leichenbestatter, Ragypas genannt, beugen sich über den Körper. Mit scharfen Messern schneiden sie Wunden in das tote Fleisch, um die Geier anzulocken. Innerhalb von fünf Minuten haben sich die rund 40 Aasfresser auf den Körper gestürzt, bis nur noch das Skelett übrig bleibt. Die Vögel, die das Ritual bereits kennen, entfernen sich dann einige Meter. Einer der Ragypas nimmt eine Axt und zertrennt die Gliedmaßen. Ein dumpfes Knacken dringt ins Tal. Es ist ein Geräusch, das wir nicht vergessen werden. Wir gehen. Später werden die Knochen zerschlagen und mit Tsampa, einer Paste aus Gerstenmehl und Yakbutter vermischt, damit die Vögel alles fressen. Von dem Toten bleibt nichts übrig.

Wir wissen nicht, ob wir das wirklich hätten sehen müssen. Aber Himmelsbestattungen sind Teil der tibetischen Kultur und der Stadt Lithang, die ein ehrliches tibetisches Leben führt.

Die beiden Weltenbummler Sally Meukow und Julien Wilkens berichten auch im digitalen Tagebuch auf www.ersieweltreise.de