Die kulinarische Vielfalt Singapurs lernt man am besten durch die einfachen Garküchen kennen. „Hawker Food“ werden die Gerichte von der Straße genannt

Was ist das für ein seltsames Land, in das man neben Waffen und Drogen auch keine Kaugummis einführen darf? Wenn es nicht die Wolkenkratzer sind, die Singapur kulturell ausmachen, was dann? Lässt sich das in drei Tagen herausfinden? Wo soll man suchen zwischen all den Widersprüchen? Fragen über Fragen – vielleicht liegt die Antwort darauf wiederum in einer Frage: „Haben Sie heute schon gegessen?“

Wenn sich zwei Singapurer treffen, sprechen sie nicht über körperliche Gebrechen oder über all die Wolkenkratzer. Nicht einmal das Wetter ist Thema, obwohl es oft so unerträglich heiß ist – und doch fast täglich kurz regnet. Viel wichtiger ist das Essen. Darüber wird hier – ob auf Englisch, Chinesisch, Malaiisch oder Tamil – am meisten geredet. Also scheint der seit 1963 unabhängige Stadtstaat in Südostasien ein Paradies für jeden zu sein, für den das Einnehmen einer Mahlzeit mehr ist als ein Tagesordnungspunkt zwischen arbeiten und weiterarbeiten. So steht es jedenfalls sinngemäß im Reiseführer.

Wer sich einen schnellen und preiswerten Überblick über die kulinarische Vielfalt Singapurs verschaffen will, speist auf der Straße. „Hawker Food“ ist der Überbegriff für die Gerichte, die man hier bei Fliegenden Händlern mit Garküchen bekommt – entweder direkt auf den Straßen, die teilweise gesäumt werden von Ständen, oder in einem sogenannten Hawker-Center. Eric Low kennt das alles schon, und doch ist ihm die Vorfreude anzusehen, als er eines dieser Hawker-Center, eine an den Seiten offene Halle, betritt. Der stämmige Mann mit dem kindlichen Gesicht und hochgegelten Haaren ist der Chef eines Unternehmens für kulinarische Beratung. Alles, was in Singapur auf den Tisch kommt, hat er irgendwann schon mal gegessen. Und Hawker Food, erklärt er ganz beiläufig, sei die „Seele der lokalen Küche“.

Während an der Decke der Halle Dutzende Ventilatoren verzweifelt gegen die Hitze ankämpfen, ziehen von den ebenso vielen Ständen unsichtbare Schwaden in die Mitte der Halle. Düfte von Zitronengras, gegrilltem Lamm, Nudelsuppe und kurz gebratenem Gemüse vereinen sich dort zu einem einzigartigen Appetitanreger. Hier gibt es alles, und hier kommt jeder regelmäßig her. Mit dem Lineal angerichtete Luxus-Häppchen und ungeschriebene Dresscodes sind dann weit weg – und die Teller trotzdem voller Köstlichkeiten von hoher Qualität.

Als Nationalgericht gilt – ganz bodenständig – Laksa. Eine einfache Suppe aus Kokosmilch, Reisnudeln, Gemüse, Fisch, Krabben und Chili. Ein noch passenderes Paradebeispiel für die Gerichte, die hier, im Hawker-Center, angeboten werden, ist die Frühlingsrolle. Was in Deutschland oft als pappig-neutrales Zubrot zu den Glasnudeln in Glutamatbad daherkommt, sind hier verschiedenste aromatisch-angebratene Gemüsesorten in einer krossen und dünnen Teighülle. Plötzlich erschließt sich auch der Name dieses Gerichts.

Noch verblüffender ist jedoch das Dessert: Kokosnussmilch, rote Bohnen und Eiscreme sind nur einige der Zutaten von Cendol. Warum auch immer – es schmeckt. Wer mit ein bisschen Mut probiert, wird meist belohnt. Und das, sagen viele, sei eigentlich so etwas wie das Geheimnis des kulinarischen Singapurs. Die Lust auf Unbekanntes auf der Zunge.

Es sind keine speziellen Gerichte, die die Einzigartigkeit der singapurischen Küche ausmachen. Es ist diese Vielfältigkeit, die sich auf fast jedem einzelnen Teller ausbreitet, sodass oft keiner mehr weiß, ob das Gericht nun eher chinesisch, japanisch oder sogar europäisch ist. Meistens ist es eben irgendwie alles. Es vereinen sich die Einflüsse aus allein einem halben Dutzend asiatischer Länder zu einer Nationalküche, die jeden Gaumen erfreuen wird. Fast jedes Gericht birgt Schärfe, aber fast nie wird auch nur eine Zutat vom Chili ausgeknockt.

An einem Ausgang der Halle mit den Dutzenden Garküchen schließlich grätscht der Gestank von Durian in die eben noch verwöhnte Nase. Das Obst wird landläufig „Stinkfrucht“ und in der RTL-Sendung aus dem Dschungel noch treffender „Kotzfrucht“ genannt. Nichts, was essbar ist, polarisiert wohl so sehr wie die Durian-Frucht, die ganz anders schmeckt, als sie riecht – jedenfalls gibt es Menschen, die das hartnäckig behaupten.

Ein leidenschaftlicher Esser und Hobbykoch, der Singapurs kulinarisches Cross-over auf die Spitze treibt, ist Danny Lorenzo. Was er sich und seiner Familie in der Küche zubereitet? „Zum Beispiel Labskaus.“ Lorenzo, 54 Jahre alt, ist ein kleiner, etwas untersetzter Mann. Wenngleich er die deutsche Grammatik nicht perfekt beherrscht, verfügt er über eine originelle Eloquenz. Er redet viel und gern. Der gebürtige Singapurer mit brasilianischen und indischen Wurzeln ist bei der Regierung als Guide beschäftigt. Nico Rosberg und Johann Lafer hat er schon herumgeführt, Tom Hanks und Tom Cruise. Nur den Auftrag von ProSieben, Heidi Klum durch die 5,4-Millionen-Einwohner-Metropole zu begleiten, lehnte er ab.

1978 war Lorenzo einer von sieben gemeldeten Singapurern in ganz Deutschland. Mit den Ersparnissen von zwei Jahren in der Tasche war er Richtung Norden getrampt, eigentlich Schweden als Ziel. Nach drei Monaten hatte er es bis nach Hamburg geschafft, aber das Geld war aufgebraucht. Er bezog eine kleine Wohnung am Eppendorfer Weg und blieb. 16 Jahre. Wenig überraschend beschreibt er Deutschland heute als „Auto-Nation“. Und Singapur? „Essen-Nation.“ Natürlich. Als Lorenzo nach Singapur zurückkam, fand er ein seltsames Land vor – und trat als Erstes in den Deutschen Club ein. „Ich habe mich hier fremd gefühlt“, sagt er. Heute ist es wieder sein Singapur, aber seltsam ist es mehr denn je. Denn auch das ist Singapur: ein in zwei Jahren aus dem Boden gestampfter botanischer Garten mit 1000 Jahre alten extra aus Spanien eingeschifften Olivenbäumen. Ein klimatisiertes Fußballstadion, das Milliarden gekostet hat.

Und selbst den eigenen Lebensraum haben sich die Singapurer quasi selbst gebaut. 35 Prozent der Fläche, die etwas kleiner als Hamburg ist, aber in ihren Wolkenkratzern fast dreimal so vielen Menschen Wohnraum bietet, sind aufgeschüttet. Um ein weiteres Viertel soll das Land noch vergrößert werden. Dann endet nicht der Größenwahn der Regierung – aber der Bereich des Meeres, in den sie einfach tonnenweise Sand kippen darf.

7000 Deutsche hat es inzwischen nach Singapur verschlagen, die allermeisten kamen zum Arbeiten. Hermann Freidanck ist einer von ihnen. In seinem weißen Kittel sieht der 61-Jährige aus wie ein Arzt, sein fester Händedruck und die durchdringende Bass-Stimme passen dazu. Freidancks Berufsbezeichnung kommt mit vier Buchstaben nicht aus: „Manager Inflight Services/(Food and Beverage)/Product & Services Division“ steht auf seiner Visitenkarte. Freidanck ist so etwas wie der Chefkoch bei Singapore Airlines.

Er ist mit dem Motorrad zum Flughafen gekommen, während der tägliche Schauer über die Insel geht. „Es reeechnet“, stellt Freidanck fest. Er ist in Norddeutschland aufgewachsen, bei Uelzen. Nun hat er sein ganz eigenes kulinarisches Paradies entdeckt. Hier braucht er sich nur zu bedienen bei all den Eindrücken, die die lokale Küche bietet. „Es ist eine Mischung aus allen Himmelsrichtungen“, schwärmt er. Es hat aber auch etwas Mechanisches, wie er über jede Tomate entscheiden muss, die auf die Vorspeisenteller kommt – oder eben nicht. Die stundenlangen Testessen finden in speziellen Kammern statt, in denen Luftdruck und Luftfeuchtigkeit herrschen wie in den Fliegern über den Wolken. Die Geschmacksnerven reagieren anders, erklärt Freidanck – und auch, warum er niemals der beste Koch sein wird: „Im Kindesalter zwischen vier und neun Jahren bilden sich die Geschmacksnerven. Deswegen ist immer Mutter der beste Koch, und deswegen essen Chinesen chinesisch.“

Es bleibt die Frage nach dem Kaugummi. Die kann natürlich Danny Lorenzo beantworten. 1986 habe jemand die Lichtschranke einer U-Bahn-Tür zugeklebt, erzählt er. Die Tür sei drei Tage nicht zugegangen, „und niemand wusste, warum“. Als die Ursache gefunden war, erteilte die Regierung von heute auf morgen Kaugummi-Verbot bei Androhung von Gefängnisstrafen – auch das ist Singapur. Inzwischen werde das aber schon wieder lockerer gehandhabt, erzählt Lorenzo. „Wenn ich Lust auf Kaugummis habe, kann ich auch nach Malaysia fahren und mir von dort welche mitbringen.“

Am letzten Tag der Reise kommt es in einer Seitenstraße, zwischen spektakulären Hochhäusern, die etwas Schutz vor dem ungewöhnlich lang andauernden Regenschauer bieten, zu einer ganz normalen Szene. Zwei grauhaarige Herren begegnen sich zufällig – und beginnen eine Unterhaltung, die den Eindruck von diesem seltsamen Land nach einer halben Woche wohl bestätigen soll: Der eine, er humpelt stark, grüßt seinen Bekannten. Dieser bleibt stehen. Er ist vom Regen nass bis auf die alten Knochen. Er sagt: „Have you eaten yet?“