Eine Expeditionskreuzfahrt führt in die entferntesten Gebiete Alaskas und der Beringsee – Luxusleben an Bord inklusive

Mit Genuss zerrt der kapitale Braunbär am Kadaver eines gestrandeten Wales. Eine Tatze hält die Beute am Boden, mit den Zähnen reißt er das Fleisch in mundgerechte Stücke. Wer sich bis zum arktischen Winter keine wärmende Fettschicht für den langen Schlaf anfrisst, gerät in Schwierigkeiten.

Das weiß natürlich auch der noch kapitalere Bursche mit gelblichem Fell, das gezeichnet ist von zahlreichen Kämpfen um Nahrung und Weibchen. Selbstsicher kommt er den Hang herunter zum gedeckten Bärentisch. Ein strenger Blick, ein kurzes Grunzen – der Braune sieht ein, dass er keine Chance hat und zieht sich zurück. Von nun an heißt es, aus gebührendem Abstand zusehen und warten. Ein Jungtier, das sich durch das Wasser entlang der Felsen und der nicht nur für sensible Bärennasen wahrnehmbaren Duftspur der ersehnten Mahlzeit nähert, ist von vornherein chancenlos. Hinten anstellen und warten, heißt es.

Es sind tägliche kleine Dramen der Wildnis, die sich in der Amalik Bay im Katmai-Nationalpark an der Südküste Alaskas beobachten lassen. Die Passagiere der „Silver Discoverer“ sitzen in Zodiacs, stabilen Schlauchboten mit Außenbordmotor, wenige Meter vom Geschehen, aber in Sicherheit. Sie haben sich für eine Expeditions-Kreuzfahrt in Amerikas hohen Norden entschieden – für Wildnis und Abenteuer. Und sind so weit von Verteilungskämpfen um Nahrung und Annehmlichkeiten entfernt wie Alaska von Sylt.

Das Schiff wurde Ende der 80er-Jahre in Japan gebaut, ist 103 Meter lang und bietet 120 Passagieren Unterkunft. Im vergangenen Jahr generalüberholt, bietet es modernsten westlichen Komfort. Statt fernöstlicher Sitzbadewannen gibt es marmorverkleidete Duschen, auf dem Pooldeck wurde eine von zwei Wendeltreppen zugunsten eines Grills entfernt, auf dem obersten Deck findet sich ein Fitnessstudio.

Im Schlauchboot treibend, nähern sich die Passagiere einer Gletscherzunge

Silversea-Chef Manfredi Lefebvre d’Ovidio, Herr über eine kleine Flotte von Luxus-Cruisern, ist Italiener. Und das sollen die Passagiere auch spüren. Vom Interieur bis zur Verpflegung. Für die ist vor allem Küchenchef Rainer zuständig, Koch aus dem Nordschwarzwald. Kreuzfahrten sind ein internationales Geschäft. Und so ist die Hotelchefin an Bord eine Österreicherin, Kapitän Denis Radja Kroate, Expeditionsleiter Conrad Combrink Südafrikaner... Auch die Passagierliste, wenngleich das Gros aus US-Amerikanern besteht, trägt Züge der Globalisierung: von Neuseeland über Europa bis Kanada.

Die Butler schließlich, die jede Kabine an Bord und deren Bewohner betreuen, kommen aus Indien. Sie weisen nicht nur in die Kabine ein und erklären, wo der Champagner in der täglich nach eigenen Wünschen aufgefüllten Minibar lagert. Sie erkennen so ziemlich jeden Wunsch, bevor ihn der Gast selber registriert hat. Kaum hat man das Quartier verlassen, wird alles geputzt, gerichtet und in Ordnung gebracht. Wer nicht möchte, dass fremde Hände die eigene Kleidung berühren, muss stets seine Sachen selbst zusammenlegen.

Zurück zur Natur. Von der gibt es im äußersten Nordwesten der USA reichlich. Die „Silver Discoverer“ ist dort in See gestochen, wo die meisten Standardkreuzfahrten der großen Anbieter, von Seattle kommend, enden: in Seward. Das Hafenstädtchen knapp 200 Kilometer südlich von Anchorage ist Ausgangspunkt für Reisen entlang der Südküste der Alaska-Halbinsel, entlang der Aleuten quer über die Beringsee, um schließlich in Nome, einer Goldgräberstadt am Ende der Welt, zu enden.

Erster Höhepunkt ist der Holgate-Gletscher. In den Bekleidungsempfehlungen für die Kreuzfahrt hieß es, man möge mehrere Lagen wärmende Bekleidung einpacken, wasserdichte Hosen und Gummistiefel. Einen Parka gibt es an Bord. Schon bei der ersten Exkursion erweist sich, dass es sich hier nicht um unverbindliche Tipps handelt, sondern um unbedingt zu befolgende Empfehlungen. Die Zodiacs schwimmen vor dem Gletscher wie Früchte auf einem überdimensionierten Cocktail mit crushed Eis. Man zieht freiwillig alles an, was man hat, inklusive Mütze und Handschuhe. Spritzwasser lässt sich nicht immer vermeiden.

Aber das spielt alles keine Rolle bei dem Anblick, der sich bietet. Eine Kreuzfahrt in dieser Region ist quasi ein Ausflug ins Hochgebirge auf Seehöhe. Nur dass man nicht wandern muss, sondern sich einer Gletscherzunge treibend in einem Boot nähert. Wenn dann noch die Sonne durch die morgendlichen Wolken bricht und die Eismassen in allen erdenklichen Weiß-, Blau- und Grünschattierungen erstrahlen lässt, ist das Schauspiel perfekt. Fast. Denn zum Gletscher gehört nicht nur der Anblick, sondern auch der Klang. Nicht nur das donnernde Kalben, wenn tonnenweise Eis von der Kante abbricht und ins Wasser stürzt. Fast immer ist ein lautes Knacken und Knistern aus dem Inneren der Eismassen zu hören. Ein Schauspiel für alle Sinne.

Wer keine Vorträge über die Natur mag, nimmt einen Drink auf dem Pooldeck

Zumal sich auch die ersten Seeotter blicken lassen und diverse Vögel zu beobachten sind. Unter den Passagieren ist ein großer Teil an Hobby-Ornithologen, „Birder“ genannt. Sie werden, ausgerüstet mit Ferngläsern und Wechselobjektiven, in den kommenden Tagen voll auf ihre Kosten kommen. Irgendetwas gibt es immer zu beobachten: Lummen auf ihren Brutfelsen, Papageientaucher, Möven sowieso oder majestätische Albatrosse. Ob für Vogelkunde, Geologie, Meeresbiologie, Klimakunde oder Geschichte – an Bord gibt es für jedes Wissensgebiet einen Lektor, der bei den täglichen Briefings gegen 17 Uhr oder mit Vorträgen bei längeren Seepassagen Wissen weitergibt. Meist im angelsächsischen Stil – lehrreich, pointiert und unterhaltsam.

Diese Zusatzbildung gibt es auf freiwilliger Basis – wie so ziemlich alles an Bord. Von der Sicherheitsinstruktion vor dem Ablegen in Seward einmal abgesehen. Wem nicht nach Vorträgen ist, kann an der Bar auf dem Pooldeck mit einem Drink in der Hand die Weite des Meeres oder den Anblick der Küste genießen. Niemand muss zu den von 6.30 Uhr bis 11 Uhr möglichen Frühstückszeiten, mittags zum Lunch, zum Nachmittagstee oder zum Dinner in den verschiedenen Bordrestaurants erscheinen. Man kann sich auch auf der Kabine versorgen lassen. Oder hungern. Beides ist nicht zu empfehlen.

Die italienisch beeinflusste Küche wurde schon genannt (es werden natürlich auch alle Arten von Burgern zubereitet), eine solche Reise gewinnt aber auch durch die Menschen, die an Bord anzutreffen sind. Hier kommt Oberkellner Martin ins Spiel. Mit seinen stramm zurückgegelten Haaren und unerschütterlicher, gleichbleibender Freundlichkeit scheint er einer englischen TV-Serie entsprungen. Martin sorgt für passende Tischgesellschaft. Es gibt an Bord keine festgelegten Platzierungen. Wer mag, kann sich zu jeder Mahlzeit, auch zum Abendessen, andere Gesellschaft suchen – und sich dabei von Martin beraten lassen. So kann, wenn er oder sie es will, jeder jeden in drei Tagen kennenlernen. Oder mit den mitgebrachten oder neu gewonnenen Freunden unter sich bleiben. Ganz, wie es beliebt.

Auch die Etikette unterscheidet sich von großen Kreuzfahrtschiffen. Schließlich ist es bei allem Luxus doch eine Expedition in die Wildnis. Und da allein Gummistiefel einiges an Transportkapazität im Koffer beanspruchen, muss niemand noch einen Smoking oder die große Abendgarderobe einpacken. Am Begrüßungsabend oder beim Kapitänsdinner sind Herren mit Sakko und Damen in Kleid oder Hosenanzug völlig korrekt gekleidet. Das mag ebenfalls Kapitän Denis so, der schon die großen Schiffe über die Weltmeere gesteuert hat. Was natürlich seinen Reiz habe, sagt er. „Aber ich mag diese kleinen Schiffe“, fügt er hinzu. „Es ist intimer, es muss nicht alles so streng reglementiert werden.“ Mit der „Silver Discoverer“ können sowieso noch ganz andere Seegebiete – enge Fjorde, versteckte Buchten – angelaufen werden, in die große Pötte gar nicht kommen.

Zumal sich das Schiff hier ohnehin in einer Region bewegt, die von den großen Anbietern noch weitgehend unentdeckt ist. „In der Antarktis muss man mittlerweile ganz genau planen, wann welches Schiff welche Stelle anläuft, damit es zu keinem Stau kommt“, sagt Kapitän Denis.

Dieses Problem gibt es hier nicht: Weder auf den lediglich von Hunderttausenden Vögeln bewohnten St.-Matthews-Insel, nicht in der 1969 von den letzten Bewohnern verlassenen ehemaligen Goldgräberstadt Unga Village noch bei einer Wanderung über die Tundra auf den Semidi-Inseln, die sich dank flach auf dem Boden wachsender Weiden und einer Vielzahl von Gräsern und Kräutern anfühlt wie ein Gang über eine endlose Federkernmatratze.

Selbst Dutch Harbour, mit 4000 Einwohnern größte Siedlung auf der Reiseroute und der wichtigste Fischereihafen der USA, macht alles andere als einen überlaufenen Eindruck. Dabei holt uns hier wieder die Geschichte ein. Zum einen erinnert die orthodoxe Kirche daran, dass die Aleuten und Alaska zuerst von Russland kolonisiert wurden, bevor der klamme Zar die gesamte entlegene Region 1867 an die Amerikaner verkaufte. Die Ureinwohner sind dem russisch-orthodoxen Glauben treu geblieben. Bis heute. Zum anderen wurde Unalaska, die Insel, auf der Dutch Harbour liegt, am 3. Juni 1942 von der japanischen Luftwaffe angegriffen, die Inseln Kiska und Attu als einziges US-Territorium während des Zweiten Weltkrieges von den Japanern sogar zeitweilig besetzt. Die Bewohner der Inseln wurden für viele Jahre in den Südosten Alaskas deportiert, wo eine ganze Generation Sprache sowie Sitten und Gebräuche ihres Volkes vergaß.

Es ließe sich noch viel schreiben über Natur und Menschen der Region. Wer aber wirklich wissen will, wie es hier ist, wie das Ausatmen eines Wales oder das Geschrei auf einem Vogelfelsen klingt, wie dieser oder eine Kolonie Pelzrobben riecht, wie sich ein Gletscher anhört und die Mitternachtssonne aussieht, der wird sich selbst auf den Weg machen müssen.