Beim Schneeschuhwandern in Lappland kommt der Tag über eine schwache Dämmerung nicht hinaus. Nachts bietet der Himmel dafür oft ein fantastisches Farbenspiel

Die Sonne lässt sich gar nicht blicken. Nicht einmal für ein kurzes Blinzeln schaut sie über den Horizont. Entsprechend kurz sind die Tage, wenn man während der Polarnacht von Mitte Dezember bis Mitte Januar nach Lappland fährt. Und selbst in diesem kleinen Zeitfensterchen für Tageslicht wird es nicht richtig hell. Erst gegen zehn Uhr beginnt es zu dämmern. Auch die dunkelblaue Silhouette des im Tiefschnee versunkenen Toilettenhäuschens, das 50 Meter hinter der rustikalen Wildnishütte gebaut wurde, schält sich dann erst in gemächlichstem Tempo aus der Dunkelheit. Viel entscheidender ist allerdings etwas anderes: das, was sich drum herum andeutet und wovon bei der Ankunft im finnischen Nirgendwo am Abend zuvor noch nicht das Geringste zu sehen war.

Alles beginnt rund 20 Stunden vorher weiter westlich im Örtchen Kilpisjärvi, hoch über dem Polarkreis und nur einen Katzensprung vom Polarmeer entfernt. Dort treffen wir Gareth Hutton, einen Neuseeländer, der eigentlich für ein Freiwilligenprogramm in einer Husky-Farm nach Lappland kam. Der Liebe wegen blieb er und macht sich seine Kenntnisse als Outdoor-Guide mit einer eigenen kleinen Schneesafari-Firma zunutze. Mit ihm wollen wir auf Schneeschuhwanderung gehen, in einer Hütte in der Wildnis übernachten und uns Tipps für die schwierige Fotografie von Nordlichtern geben lassen. 16 Kilometer hin und zurück durch die hügelige Fjell-Landschaft nahe der schwedischen und norwegischen Grenze.

Zur Vorbereitung verteilt Gareth eine Plastiktasse für jeden, eine Gabel-Löffel-Kombi als Besteck und ein paar Energiebomben zum Auftanken zwischendurch. Dann werden Schlafsäcke und andere Utensilien auf zwei Schlitten verschnürt. Einen davon zieht Gareth hinter sich her; der andere soll unter den Mitwandernden rotieren. Wir greifen uns noch die Wanderstöcke und schnallen die Schneeschuhe unter, die verhindern sollen, dass wir in die anderthalb Meter dicke Schneeschicht einsacken. Schließlich setzt sich der Treck wie eine kleine Roboter-Armada mit großen Kunststofflatschen in Bewegung: drei deutsche Großstädter außerhalb ihrer Komfortzone und ein drahtiger Naturverrückter vom anderen Ende der Welt. Schritt für Schritt. Ganz idiotensicher entlang der Kreuze einer Motorschlitten-Trasse klackernd.

Weil wir erst mittags gestartet sind, bleibt nicht viel Tageslicht. Es dämmert immer heftiger, und die große Rentierherde in der Ferne verschwimmt schon im Dunkelblau. Gegen drei Uhr nachmittags ist es völlig finster. Bei minus fünf Grad bläst der Wind glücklicherweise nicht von vorn, sondern lässt die kleinen Schneeflocken waagerecht vor den Augen vorbeifliegen. Einmal pro Stunde legen wir eine kurze Pause ein und stellen uns in einen von Dunkelheit umzingelten Lichtkreis. Energieriegel essen wir dann oder ein paar Happen getrocknetes Rentierfleisch. Der Trockenfisch, den Gareth herumreicht, pappt wie zähes Esspapier mit Fischaroma am Gaumen und stößt auf wenig Gegenliebe. Ganz anders das Wasser aus der Thermoskanne. Es ist zwar einfach nur heißes Wasser, und doch schmeckt es so gut, wie man es bei heißem Wasser eigentlich niemals für möglich gehalten hätte. Wenig später stapfen wir weiter durch das dunkle Nichts.

Dafür, dass es eigentlich immer nur geradeaus geht, fühlt sich die Situation nach deutlich mehr Abenteuer an und befeuert die Fantasie. Mal entsteht durch das Licht von Gareths Kopflampe das Gefühl, dass ein Schattenriese nebenhertrottet. Mal wehen Gedanken an Eiswüsten-Expeditionen auf dem mühsamen Weg zum Nordpol in den Sinn. Erst wenn eines der Lichter das nächste Wegkreuz anstrahlt, wird man wieder in die finnische Tundra zurückgeholt. „In völliger Dunkelheit zu laufen ist nicht einfach“, sagt Gareth. „Der Körper fährt runter.“ Das macht tatsächlich furchtbar müde, und obwohl es erst 17 Uhr ist, haben wir nach gerade einmal vier Stunden Wanderung im Lichtkegel das Gefühl, als seien wir deutlich länger unterwegs. Ort und Zeit scheinen auf seltsame Weise verschoben, und man wüsste irgendwann gar nicht mehr, ob man sich überhaupt voranbewegt, wäre da nicht Gareth, der sagt, dass es nicht mehr weit sei.

Doch die Hüften ziehen, die Schuhe drücken und die letzten paar Hundert Meter über die dicke Eisschicht eines Sees erscheinen endlos, bis sie endlich vor uns steht: die eisig umtoste Hütte, in der die kleine Gruppe erschöpft in sich zusammensackt. Gareth hackt Holz, macht ein Feuerchen im Ofen, schmilzt auf dem Herd eimerweise Schnee zu Trinkwasser und jongliert so lange mit den Küchenutensilien, bis ein dampfendes Risotto auf dem Tisch steht. Die Wahrscheinlichkeit, dass danach für uns noch Nordlichter über den Himmel tanzen werden, ist trotz der idealen Lage ohne jede Lichtverschmutzung drum herum gering. Gegen Mitternacht die Überraschung: Kurz funkeln die Sterne hell im aufgeklarten Himmel. Aber ein Polarlicht? Das entdeckt Gareth erst auf einem seiner Fotos als grünlichen Lichtstreifen, der viel zu schwach ist, um ihn mit bloßem Auge zu erkennen. Ein Wolkenvorhang zieht den Himmel wieder zu, und während das Brennholz im Ofen umzüngelt vor sich hin knackt, rollen wir uns in die Schlafsäcke.

Von der schönen Illusion, dass der Körper acht Stunden später wieder fit ist, muss ich mich morgens schnell verabschieden. Trotzdem schlüpfen wir wieder auf die Schneeschuhe und schauen uns im bläulichen Dämmerlicht um. Langsam schälen sich aus der Nacht die Silhouetten der Landschaft heraus, die motiviert, weiterzugehen. Gareth läuft zunächst vorweg, und obwohl er recht klein ist und nicht weiter von einem finnischen Naturburschen entfernt sein könnte, zieht er wie ein kleines Energiekraftwerk beide Schlitten hinter sich her. Bergauf, bergab, über vereiste Seen und durch eine Landschaft, die oberhalb der Baumgrenze fast schon abstrakt wirkt.

Mit jeder Perspektive ändern sich die Eindrücke durch das beeindruckende Natur-Spiel mit Farben, Formen und Licht. In einem Moment laufen wir durch ein Weiß in Weiß, bei dem man schnell vergessen könnte, wo eigentlich oben und unten ist und der Himmel beginnt. Dann glimmen rosafarbene Lichtstrahlen in den Wolken und tönen die unberührte Schneedecke, die mit ihren geschwungenen Wellen an die Dünen einer frostigen Sahara erinnert. Mittags bricht schließlich der Himmel so weit auf, dass wir einem hellblauen Wolkenloch entgegenwandern. Die Dramatik der Alpen hat das nicht, sondern auf geschmeidige, sanfte Weise eine majestätische Erhabenheit. Von der großen Rentierherde, die gestern im Halbdunkel am Fuße der Berge entlangzog, sind heute lediglich Abdrücke im Schnee geblieben. Und nur eine Familie auf Schneemobilen rauscht winkend durch das Gefühl absoluter Abgeschiedenheit.

In der klarenWinterluft reicht der Blick heute bis nach Norwegen und Schweden, und auch die markanten Berge Saana sowie Pikku- und Iso-Malla sind deutlich zu erkennen. Während einer Suppenpause liefert Gareth dazu die Legende der Riesen, die früher in der Gegend gelebt haben: Der Riese Saana wollte einst die reizende Malla heiraten. Pätsa allerdings war eifersüchtig und bat die nordischen Jungfrauen um Hilfe, die Zeremonie aufzuhalten. Die riefen wiederum die erzürnten Winde des Nordens, die die Landschaft mit Eis überzogen, das erst Tausende Jahre später schmolz. Seitdem sind Saana und Malla, die sich Hilfe suchend in die Arme ihrer Mutter flüchtete, wieder zu sehen, und bis heute füllen ihre Tränen den Kilpisjärvi-See, über den schließlich unser Schneeschuh-Endspurt führt.