Als Kulturhauptstadt 2015 wird Pilsen ein buntes Kaleidoskop bieten – mit Schwerpunkt auf die Tradition des Marionettentheaters.

In der Sonne leuchtet es so grell, dass es blendet. Aus einer güldenen Skulptur, vier Meter hoch, sprudelt Wasser in ein grafitgraues Becken. Gleich drei dieser Goldbrunnen markieren die Eckpunkte des Republikplatzes, des Foyers von Pilsen. Präsenter kann Prunk kaum sein. Und das in einer Stadt, die auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs lange als schmucklos galt.

Für viele Pilsener waren die Objekte ein Ärgernis, als sie 2008 aufgestellt wurden. Andere sehen in ihnen den Anbruch einer neuen Zeit. „Pilsen ist eine konservative Stadt“, sagt die Architektin Anna Hosticková, die an der Neugestaltung der Fläche um die Bartholomäus-Kathedrale beteiligt war. Es bewege sich etwas, sagt sie – langsam.

Inzwischen wird das Image als Industriestandort dem rundum erneuerten Antlitz der viertgrößten Stadt Tschechiens nicht mehr gerecht. Nach der Wende von 1990 hat sich Pilsen sukzessive verschönert und erhielt eine „grüne Renovierung“, bei der Parks mit bunten Rabatten, Liegewiesen, Wasserspielen und Cafés entstanden. Das historische Herzstück zeigt sich heute wie eine Puppenstuben-Altstadt.

Sauber herausgeputzte Häuser gruppieren sich um den Platz der Republik – aus der Zeit der Gotik, der Renaissance, des Barocks und des Jugendstils. Imposante Denkmäler aus Epochen, in denen die westböhmische Metropole durch Handel, Bier und Stahl reich wurde. Die goldenen Designbrunnen des Künstlers Ondrej Cisler schlagen einen eleganten Bogen ins 21. Jahrhundert.

„Open up“ heißt das Motto für Pilsen im kommenden Jahr als Europäische Kulturhauptstadt – öffne dich. Öffne die Augen für das andere, das Fremde, das Ungewohnte, formuliert es Jirí Sulzenko, der Programmdirektor von Pilsen 2015. Der Anspruch ist ebenso hochgesteckt wie selbstkritisch: Mentale Mauern sollen niedergerissen werden – bei den Gästen wie bei den Pilsenern selbst, die angeblich immer noch Stacheldraht im Kopf haben. Pilsen war lange ein vergessener Winkel, ein geschundenes Gebiet nahe der einstigen „Ost-West-Grenze“, das sich wie eine Festung verschanzt hatte. Öffne dich, und du findest Neues.

Wie üblich für Kulturhauptstädte – die zweite ist im kommenden Jahr übrigens das belgische Mons – wird Pilsen 2015 ein Kaleidoskop von Ausstellungen, Tanz, Theater, Festivals, Konzerte von Klassik bis Pop auf die Beine stellen sowie 600 weitere Aktionen. Eine wirkliche Besonderheit aber ist der Schwerpunkt „Neuer Zirkus“. In der Manege ohne Tiere, große Gala und Tusch-Kapelle sieht Petr Forman die Fortsetzung der in Pilsen verwurzelten Tradition des Marionettentheaters und des tschechischen Humors.

Pilsen hält der Künstlerische Leiter des Großevents für den idealen Ort, um Fantasiewelten, Träume und Emotionen anzusiedeln. Sie seien heutzutage besonders wichtig, weil der Mensch zu viel denke und zu wenig fühle. Ihm fehle der Zirkus, sagt Petr, der Sohn des berühmten Filmemachers Milos Forman. Dafür werden im Kulturjahr gleich mehrere Zirkus-Companies in Zelten, auf Bühnen und Plätzen spielen.

Worüber Menschen lachen, habe nichts mit der Nation zu tun, glaubt Forman. Es komme nur auf die Interpretation an, ob man auch bereit ist, über sich selbst zu lachen. Das kann bei „Open up“, wo sich Gäste und Gastgeber trotz Sprachbarrieren näherkommen sollen, gewiss nicht schaden.

Originell ist auch das Projekt „Verborgene Stadt“. So heißen Stadtführungen per mobiler App, bei der erlebte Geschichten von Bewohnern erzählt werden. Sie sind in Themen wie Architektur, Bier, Zivilcourage oder Kunst zusammengefasst und über Headphones zumindest auf Englisch zu hören. Wer sich für „Industrie“ entscheidet, erfährt von einem früheren Mitarbeiter der Skoda-Werke, dass dort Bomben im Auftrag der deutschen Wehrmacht gebaut und über London abgeworfen wurden – aber nicht explodierten.

Nicht alles in Pilsen ist zu Ende gedacht oder gar fertiggestellt, und man spürt den Druck der Organisatoren. Bis zur Eröffnung am 17. Januar 2015 ist es nicht mehr lange hin. Vor dem neuen J.-K.-Tyl-Theater stehen noch Bauzäune, und der Umbau von Industriebrachen wie der Svetovar-Brauerei zu Kulturräumen ist nicht abgeschlossen.

Zum Inventar gehört allerdings das moderne interaktive Marionetten-Museum, das Pilsens kulturelles Erbe zeigt: Drei Stockwerke voller Spielpuppen – wertvolle Marionetten, Mannequins und Stockpuppen, expressiv gestaltete Köpfe aus Holz, Pappmaschee oder Gummi. Mit den ältesten aus dem 18. Jahrhundert tourten fahrende Komödianten durchs Land.

Die Pilsener Urquell Brauerei erstreckt sich über 14 Kilometer Kelleranlagen

Den Nerv der Zeit trafen die Puppenspieler mit dem erwachenden Nationalismus der Tschechen durch Stücke wie „Der brave Soldat Schwejk“ von Jaroslav Hasek. Böhmen gehörte noch zur Habsburger Monarchie. Puppen gegen Österreich, humorvoll und auf Tschechisch gespielt – das fand regen Zuspruch. Dank der Pilsener Künstler Josef Skupa, der das Revolutionskasperle und die Figuren Spejbl und Hurvínek erfunden hatte, und Jiri Trnka wuchsen mehrere Generationen in Osteuropa mit Marionetten auf, auch in Deutschland.

Hat man die Brauerei Pilsener Urquell besucht, die Kelleranlagen, die sich über 14 Kilometer erstrecken, das Franziskanerkloster aus dem 13. Jahrhundert und Europas zweitgrößte Synagoge, ist hier das Pflichtprogramm normalerweise absolviert. Neugierige Städtetouristen müssen ihren Blick schärfen, um mehr zu entdecken. Denn zum Shoppen ist man nicht hergekommen. Noch wurden die alten Fassaden nicht weit aufgemacht für Schaufenster mit teuren Designerstücken, noch sind die Luxuslabels hier nicht eingezogen. Viele Besucher Pilsens ahnen schon, dass sie sich beeilen müssen, wenn sie hier vom authentisch Andersartigen noch etwas aufschnappen wollen. Alles wirkt eine Spur bescheidener und unaufgeregter. Und irgendwie kommt einem genau das so sympathisch vor. Pilsen ist herrlich altmodisch.

Schaut man genauer hin, sind zarte Anfänge mutigen Unternehmertums zu erkennen. Dafür stehen zum Beispiel das gemütliche Orient Coffee mit eigener Rösterei, das vegetarische Bistro Andel, das Restaurant Delish, das Burger aus Biofleisch serviert, oder die Vinothèque Le Bouchon mit erstklassigen Weinen aus Mähren. Und das alles in glücklicher Koexistenz mit den göttlichen böhmischen Knödeln in den vielen traditionellen Gasthäusern.

Das Pilsener Urquell fließt überall, denn der Gerstensaft ist billig und verleiht Sitzfleisch. Andere Biere findet man höchstens in Zach’s Irish Pub, wo man zehn verschiedene Sorten kennt. Das Nachtleben spielt sich fast ausschließlich in Bierlokalen ab, und Glück bedeutet für viele, dass sie sich im The Pub Club ihr Bier selbst zapfen können.

Es gibt vor Ort aber noch eine weitere Instanz für Glück. Pilsener nennen sie den „Abgetasteten“. Seinetwegen machen viele einen Umweg zur Kathedrale, vor der sich ein Gitter mit 25 Engeln befindet. Der eine entscheidende ist der elfte von links, sichtbar blank poliert. Wenn man ihn berührt, gehen in Pilsen alle Wünsche in Erfüllung.