Nicht nur gefährlich, sondern auch furiose Natur können Wanderer auf dem Kalalau Trail auf Kaua‘i erleben. Veronica Frenzel hat sich mit Wanderpartner John auf den Weg gemacht.

Rote, schlammige Erde stürzt zu meiner Rechten Hunderte Meter tief in den Pazifik, links streckt sich eine Wand steil in den Himmel empor. Dazwischen laufe ich, auf einer handbreiten Stufe, und denke: Dieser Pfad hat seinen Platz nur geborgt. Auf ungewisse Zeit. „Wir sind an der höchsten Stelle“, ruft John, mein Wanderpartner, ein weißhaariger Mittsechziger. Er setzt seinen schweren Rucksack ab und zieht eine Stange mit dicken, getrockneten Blüten heraus. „Pakalolo“, sagt er und grinst. Pakalolo ist Hawaiianisch und heißt wörtlich übersetzt: verrücktes Gras. Marihuana also.

John und ich sind im Morgengrauen auf dem Kalalau Trail gestartet. Dieser Wanderweg auf der Insel Kaua‘i gilt als der gefährlichste Hawaiis. Und das besonders nach einem starken Regen. In der Nacht hatte mich das Trommeln der Tropfen auf dem Wellblechdach meiner Unterkunft geweckt. Ich lag wach und musste daran denken, dass es auf dem Trail keinen Handyempfang gibt. Wieso mache ich das? Die Antwort gab ich mir im Halbschlaf: Weil der Trail durch die wahrscheinlich spektakulärste Küstenlandschaft der Welt führt; durch die Kulissen der Hollywood- Blockbuster „Fluch der Karibik“, „Herr der Fliegen“ und „Jurassic Park“.

Als ich beim Loslaufen im Dunst des Morgens John ausmachte – der Regen hatte zum Glück aufgehört –, erschien er mir wie mein Retter. Ich fragte, ob ich ihn begleiten dürfe. Er nickte.

Na Pali nennen die Hawaiianer den Küstenabschnitt, an dem der Weg beginnt: hohe Klippen. Den Pfad haben sie vor gut 200 Jahren angelegt, um die stärkehaltigen Knollen der Taropflanze aus den umliegenden Tälern nach Hanalei zu transportieren. Seit dieser Zeit kämpft der Weg mit dem Wind, dem Regen und den Wellen, die an den Klippen nagen, und muss sich immer wieder neu erfinden. Etwa 18 Kilometer schlängelt er sich entlang der Küste auf, ab, auf, ab, auf, ab – wie ein Schluckauf. Umständlich, dachte ich, als ich die Beschreibung las. Seit ich auf dem Weg laufe, finde ich: waghalsig.

Kalalau bedeutet auf Hawaiianisch: „Wo man im Moment lebt“

John, mein Retter, setzt sich 244 Meter über dem Meer auf einen kleinen Felsvorsprung, lässt die Beine baumeln und dreht sich einen fingerdicken Joint. Als er fertig ist, beugt er sich nach vorn. „Meeresschildkröten!“ Im hellblauen Wasser treiben ein paar schwarze Punkte. „Manchmal sieht man auch Buckelwale“, sagt er und inhaliert tief. Wir haben nicht mal ein Drittel der Strecke geschafft, keine fünf Kilometer, erst einen von drei reißenden Flüssen überquert. Die richtig gefährlichen Abschnitte liegen noch vor uns.

Seit 1971 läuft John den Kalalau Trail jedes Jahr mindestens einmal, meist häufiger. Beim ersten Mal war er 21 Jahre alt und gerade von Chicago auf die Insel gezogen. Damals befand sich am Ausgang des Wanderwegs eine Kommune, das Taylor Camp. Das Grundstück hatte Elizabeth Taylors Bruder Howard den Hippies zur Verfügung gestellt, daher der Name.

John verbrachte viel Zeit im Camp und begann, die Bewohner zu fotografieren. Noch faszinierender als die Kommune fand er aber jene Hippies, die im Kalalau-Tal am Ende des Trails lebten, isoliert, ohne Annehmlichkeiten. Sie wollte er nicht beobachten, mit ihnen wollte er leben. Er sammelte Feuerholz, pflückte Guaven, Bananen, Mangos, Papayas, angelte, jagte. Das Taylor Camp wurde 1977 geräumt, die Gemeinschaft im Kalalau-Tal existiert noch. Und immer wenn John, der mittlerweile als Ingenieur auf Kaua‘i arbeitet, Zeit hat, wandert er ins Tal. Dort leben heute keine zehn Menschen dauerhaft, ein paar Dutzend vorübergehend.

Auch die Landschaft hat jetzt Pakalolo geraucht. Am azurblauen Himmel schweben Wattebausch-Wolken, darunter sonnt sich türkisfarben der Ozean. Pistaziengrüne Farne tanzen mit sattem Gras im Wind. Zwischen den Ingwerbüschen zwitschern Kleidervögel, Verwandte von unserem Spatz, mit langen Schnäbeln und lippenstiftroten Hauben.

Plötzlich färbt sich der Boden pink: Blüten. „Ohi‘a‘ ai“, sagt John. Malaiische Rosenapfelbäume. Am Wegrand wachsen auch Sträucher mit herzförmigen Blättern, Taro.

Der Weg biegt ins Hanakoa-Tal, in eine breite, dunkle Senke, an deren Ende sich Felsmassen türmen. Der Farbrausch ist zu Ende. Aus grauen Wolken, die in den Gipfeln hängen, stürzt ein Wasserfall 100 Meter tief ins Tal. Auf einer Lichtung hier übernachten die meisten Wanderer, um am nächsten Tag ins Kalalau-Tal hinabzusteigen. John aber stapft weiter, im Rhythmus seiner Gedanken. Ich setze mich auf den Zeltplatz, hole aus meinem Rucksack Wasser und die Trockenfrüchte, die ich in Hanalei gekauft habe, im letzten Ort vor dem Einstieg. Sechs Stunden sind wir schon unterwegs.

Widerwillig schultere ich nach der Pause meinen Rucksack. Allein will ich nicht hierbleiben. Ein stechender Schmerz im linken Fuß lässt mich so- fort wieder auf den Boden sinken. Weiß bläht sich eine münzgroße Blase auf dem großen Zeh. Ich verfluche die ultraleichten Stiefel, die ich extra für die Wanderung gekauft habe, und die zwölf Kilo auf meinem Rücken. Aber es hilft nichts: Rucksack auf, und weiter!

Den Schmerz zu ignorieren gelingt mir erst, als ich vor einem Schild stehe, das mich warnt, der Boden könne auf den nächsten Metern jeden Moment und völlig unerwartet wegbrechen. Die anschließende Aufforderung, von der Kante fernzubleiben, kann nur höhnisch gemeint sein: Der Pfad begnügt sich mit weniger als einem halben Meter zwischen Felswand und Abgrund. Vor mir liegt der gefährlichste Abschnitt des Weges. John ist weit vorausgelaufen, und über dem schwarzen Vulkangestein flimmert die Luft. Ich taste mich durch die Mittagsglut, vergrabe einen Fuß in der roten, feuchten Erde, bevor ich mit dem anderen neuen Halt suche. Und erst, wenn der Fuß vergraben ist, verlagere ich vorsichtig das Gewicht. Jeder Schritt eine Unendlichkeit.

John hat erzählt, Kalalau bedeute auf Hawaiianisch „Wo man im Moment lebt“. Weil der, der ankommt, dem Ende so nahe gewesen ist, denke ich mir. Und dann, plötzlich, stehe ich auf dem Pohakuao, einem erdroten Hügel, vor mir liegt Kalalau, das mir jetzt wirklich wie das Paradies vorkommt. Am Fuße des faltigen Gebirges stürzt übermütig der Ozean auf den hellen Strand, baut eine endlose Gischtkante, um sie gleich wieder zu zerstören.

John baumelt schon in einer Hängematte zwischen zwei Rosenapfelbäumen, als ich schließlich am Zeltplatz am Strand ankomme. Neben ihm sitzt ein langhaariger, bärtiger Mittfünfziger in einem Liegestuhl. „Uncle Tee“, sagt John, zeigt auf den Bärtigen, der zustimmend brummt. Ich werfe den Rucksack ab, laufe zum Meer. Das Salzwasser brennt an meinem lädierten Zeh und in den Augen. Ich schließe die Lider und genieße das Schwarz.

Zum Abendessen kocht Uncle Tee Reis und Fisch über dem offenen Feuer, in rußigen Töpfen. Das Wasser hat er am Wasserfall geschöpft. Den Fisch am Morgen im Meer gefangen. Den Reis hat John mitgebracht. „Lass uns zum Heiau gehen“, sagt Tee, als er mit dem Kochen fertig ist. Der Heiau, zwei tennisplatzgroße, ovale Plätze auf zwei Ebenen, war die Kultstätte der alten Hawaiianer, dort beteten sie und opferten den Göttern. Wir blicken aufs Meer und ins Tal, an dessen Ende sich ein Regenbogen spannt. Das Essen ist kalt und köstlich.

Uncle Tee kam Anfang der 1990er-Jahre von Arizona nach Big Island. Er wollte auf einem Hochseefischerboot in den Südpazifik schippern. Doch die Reederei, bei der er angeheuert hatte, ging kurz vor dem Auslaufen pleite. Uncle Tee suchte nicht nach einem neuen Schiff, sondern blieb auf Big Island. Jahrelang dachte er, er hätte das Paradies gefunden. Bis ihn Freunde 1998 nach Kalalau mitnahmen. Seitdem hat er das Tal nicht länger als ein paar Wochen verlassen. Seine beiden Söhne, die hier zur Welt kamen und mittlerweile in Oregon leben, sieht er nur, wenn sie ihn besuchen. Auch sein Geld – er sagt, er brauche keine 800 Dollar im Jahr, für Reis, Nudeln, Öl, ein paar Kleider – verdient er im Tal. Besucher bezahlen ihn dafür, dass er ihnen die Feuerstelle bereitet, Holz sammelt, für sie kocht.

Am nächsten Morgen, die Sonne hat es noch nicht über die Berge geschafft, knattert ein Hubschrauber über die Baumwipfel, unter denen wir unsere Zelte aufgeschlagen haben. Einer der Ausflugshubschrauber, die gehfaulen Touristen das Tal zeigen, denke ich. Das Knattern wird lauter und verstummt.

Uncle Tee kriecht aus seinem Zelt, läuft den Hang hinauf, duckt sich hinter einen dicken Ingwerbusch. Ich renne hinterher. Ein Funkgerät knackt, und plötzlich stehen drei breitschultrige Männer in Tarnanzügen und mit schwarzen, schusssicheren Westen auf dem Zeltplatz. „Parkranger“, flüstert Tee, „eine Razzia!“

Seit 1983, seit das Kalalau-Tal zum Naturschutzgebiet erklärt wurde, kommen die Parkranger mindestens einmal im Jahr: Man braucht nun eine Genehmigung, um auf dem Kalalau Trail zu wandern. Und in dem Tal darf man höchstens fünf Nächte lang bleiben. Ich habe als Einzige von uns dreien diese Genehmigung. „Und John?“, frage ich. „Der schwimmt bestimmt den knappen Kilometer zum nächsten Strand.“ Tee klingt nicht besorgt, eher belustigt. Er erklärt, dass er sich während solcher Razzien immer wie Koolau fühle.

Koolau war ein leprakranker Hawaiianer, der 1892 mit seiner Familie vor der Staatsmacht ins Kalalau-Tal floh. Er wollte nicht ohne seine Frau leben und in die Leprasiedlung auf der Insel Moloka‘i verfrachtet werden. Am 24. Juni 1893 rückte der Hilfssheriff mit Polizisten nach Kalalau vor. Koolau erschoss ihn, bei einem weiteren Verhaftungsversuch noch zwei weitere Soldaten und versteckte sich mit Frau und Sohn im Tal, bis er drei Jahre später starb. Jack London hat ihn in einer Kurzgeschichte verewigt.

Hinter dem Ingwerbusch erklärt Tee stolz, er sei kein einziges Mal erwischt worden; oben im Tal, wo er sich verstecke, würden die Ranger nie suchen. Und obwohl ich eine Genehmigung in der Tasche trage, beschließe ich, ihn beim Versteckspiel zu begleiten.

Die Männer in den Tarnanzügen drehen Richtung Wasserfall ab. Wir schleichen gebückt den Hang entlang, bis zum Fluss, laufen am Ufer bergauf, vorbei an alten Mangobäumen, Guaven, Tomatenstauden. Die Vormittagssonne zeichnet durch Äste und Blätter ein psychedelisches Mosaik auf den Waldboden. Wir schrecken ein Moa auf, ein hawaiianisches Bankivahuhn, treiben es ungewollt laut gackernd vor uns her. Und immer wieder passieren wir Steinhaufen. Überreste von Häusern.

Vor rund 200 Jahren hat die letzte hawaiianische Familie das Tal verlassen. Als es noch keine Straßen auf Kaua‘i gab, war das Kalalau-Tal eine beliebte Wohngegend – durch seine Lage bleibt es vom Regen meist verschont, gleichzeitig versorgte der Fluss die Menschen mit ausreichend Wasser. Rund sechs Jahrhunderte lang sollen hier mehrere Hundert Menschen gelebt haben. Das zumindest vermuten Archäologen wegen der Größe des Heiau, der vielen Grundmauern und Terrassenfelder.

Und dann liegt vor uns ein üppiger Garten. Taropflanzen stehen in einem gefluteten Feld, in einem anderen wachsen Bananenstauden, Papayabäume, Kaffee- und Tabakpflanzen. Ein Seitenarm des Kalalau-Flusses fließt zwischen den Feldern hindurch, große Steine leiten das Wasser um.

Ein hochgewachsener, kräftiger Mann mit blondem Wuschelkopf untersucht gerade eines der herzförmigen Taroblätter. „Brook“, raunt Uncle Tee, „die Parkranger!“ Wir folgen Brook bis zu seinem Zeltplatz auf einer Terrasse oberhalb eines Wasserfalls. Von hier oben können wir bis aufs Meer blicken. Aus einer Holzkiste, die er in der Erde vergraben hat, holt Brook ein paar Streifen geräucherten Fleisches. Wildes Schwein. Er hat das Tier mit einer Falle gefangen und erlegt. Brook ist Ende 30, seit knapp zwei Jahren lebt er im Kalalau-Tal. Davor hat er in Florida als Segellehrer gearbeitet. Die anderen Talbewohner nennen ihn „den Gärtner“. Er ist nach Kalalau gekommen, um die Felder wie die alten Hawaiianer zu bestellen. Sein Garten soll einmal das ganze Tal ernähren.

Essen, Gitarrenspiel und GEsang am Strand - da überlegt man zu bleiben

Die Sonne steht tief über dem Meer, als wir uns aufmachen. „Wir sehen uns bei Ronny“, sagt Tee zum Abschied. Immer wenn die Ranger da waren, lädt Ronny, der von allen Bewohnern am längsten in Kalalau lebt, zum Pasta-Abend. „Den Rangern haben wir es gezeigt“, knurrt Ronny am Strand, hinter ihm kocht Pasta über dem Feuer. „Yeah“, antworten die anderen, knapp zwei Dutzend Bewohner und Besucher. Niemand außer mir hat eine Genehmigung. Niemand ist erwischt worden. Auch John hat sich wieder eingefunden, krebsrot von der Sonne, weil er tatsächlich den ganzen Tag am abgelegenen Strand verbracht hat.

Ronny, 67 Jahre alt, trägt ein zerschlissenes, grauweißes T-Shirt, um die Hüften ein ausgeblichenes Wickeltuch, Haare und Bart lang. Im Sand vor seinen nackten Füßen spielt seine dreijährige Tochter. Nur für ihre Geburt hat er das Tal in den vergangenen 30 Jahren länger als einen Monat verlassen. „Eigentlich wollte ich das auch hier erleben“, sagt er. „Aber kurz vor dem Termin lief bei einer anderen Geburt etwas schief, und wir mussten die Frau mit dem Helikopter ausfliegen lassen.“ Ronny, den sie hier „Bürgermeister“ nennen, besitzt ein Funkgerät für solche Fälle. „Da haben wir dann doch Angst bekommen.“

Zu den Nudeln geht eine Flasche mit selbst gebranntem Guavenschnaps herum. Nach dem Essen bläst der Bürgermeister auf einer Flöte, ein junger Mann, der den Sommer im Kalalau-Tal verbringt, spielt Gitarre, ein barbusiges Mädchen singt. Ich blicke in den Nachthimmel, über den jede Minute eine Sternschnuppe rast. Und frage mich, ob ich wirklich am nächsten Morgen aufbrechen soll.

Der leicht gekürzte Text entstammt dem „Geo Special Hawaii“. Das Heft ist für 8,50 Euro im Handel erhältlich