Mit zwei Eseln durch die dünn besiedelte Landschaft im Nordosten Deutschlands ziehen – das ist Entschleunigung bis zum ungeplanten Stillstand.

Regel Nummer zwei bereitet noch etwas Ratlosigkeit. „Sprechen Sie viel mit Ihrem Esel“, steht in dem Merkblatt neben weiteren sechs Regeln für den Umgang mit dem Esel, das man vor der Wanderung in die Hand gedrückt bekommt. „Denn ein Esel ist ein guter Zuhörer und freut sich, wenn jemand ihm gut zuredet.“ Aber was erzählt man schon zwei Eseln, während man an ihrer Seite durch das Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin wandert? Vom Urlaub in Südfrankreich vielleicht? Oder von dem Arcade-Fire-Konzert vor Kurzem? Letztlich läuft es erst einmal nur auf die wenig kreativen Standards hinaus: „Prima, Sofie!“ oder „Das machst du wirklich gut, Emma!“. Es geht alles so reibungslos, als wären wir schon immer ein eingespieltes Team gewesen. Und auch den grünen Versuchungen am Wegesrand widerstehen die beiden Eseldamen souverän auf den ersten Kilometern nach dem Start der dreitägigen Wanderung.

Die begann auf Katrin von Zwolles Hof in Flieth-Stegelitz, wo sie eine ausführliche Einweisung gab: Wie man die Esel füttert, führt und ordentlich striegelt, damit keine Scheuerstellen entstehen. Sie zeigt, wie man sie richtig und gleichmäßig bepackt. Und wie man das Verhalten des Esels liest. „An der Stellung der Ohren kann man erkennen, ob ein Esel gerade ganz entspannt oder verärgert ist“, sagt von Zwolle. Dann zeigt sie noch, wie man das Tier am Kopf greift, wenn die Situation mal außer Kontrolle zu geraten droht. „Das passiert zwar so gut wie nie, aber vorbereitet sollte man darauf trotzdem sein“, fügt die Exil-Berlinerin hinzu, die eher zufällig auf den Esel kam. Nachdem sie in die Uckermark gezogen war, bot sie zunächst nur Planwagenfahrten für Touristen an. Dann landete jedoch der erste Esel bei ihr, der eigentlich als Geschenk für einen Freund gedacht war und nun bei ihr Unterschlupf fand. Weil Elias so unterfordert war, dass er ständig Blödsinn anstellte, überlegte sie, wie sie ihn am besten beschäftigen könnte. Da kam ihr die Idee, Eselswanderungen durch die Uckermark anzubieten. Ein Jahr wurde Elias dafür trainiert. Die ersten Testwanderungen funktionierten. Heute besteht die Esel-Armada aus zwölf Tieren. „Esel sind sehr schlau und vielschichtig“, sagt sie. „Die haben alle ihren eigenen Charakter.“ Der zeigt sich auch bei Sofie und Emma. Schon bald stellt sich auf der Wanderung heraus, dass die 20-jährige Sofie die abgeklärtere Eseldame ist. Emma hingegen, erst etwa sieben Jahre alt, schaut sich oft um und lässt sich häufiger mal ablenken. Wie störrisch sie aber beide sein können? Sehr, natürlich!

Nachdem sie durch den nächsten Ort Gerswalde und dort unter anderem an Matthias Platzecks neuem Einfamilienhaus ohne weitere Vorkommnisse vorbeigelaufen sind, geht kurz vorm Ortsausgang plötzlich überhaupt nichts mehr. Ziehen und zerren würden eh nichts bringen, und deshalb kann man es auch gleich lassen. Also grasen sie los und lassen sich natürlich auch nicht beeindrucken von der finsteren Wolkenfront, die näher und näher kommt und sich schließlich über dem Trekking-Grüppchen ausschüttet. „Komisch, wie traurig Esel im Regen aussehen können“, denkt man sich beim Plündern des Lunchpakets, die Picknickdecke wird kurzerhand zum Regenschutz umfunktioniert.

Doch der Schauer ist nur kurz, und mit den ersten Sonnenstrahlen hellt sich auch die Stimmung wieder auf. Die Luft riecht nach Erde, nach Blumen, nach dem warmen Sommerregen. Und nach höflicher, aber bestimmter Aufforderung kommen Emma und Sofie wieder in die Gänge: ein ruhiger Trott im Rhythmus der klackernden Hufe und eine Extrem-Entschleunigung aufs Eselstempo. Das lässt Zeit und öffnet den Blick für Dinge, die einem sonst kaum auffallen. Die Nacktschnecke zieht in aller Ruhe ihre Schleimspur über den Asphalt, und auch der Tausendfüßer hat genug Zeit, sich entspannt auf die andere Seite des Weges zu füßeln. Nach Uno-Kriterien gilt die Uckermark als unbesiedelt – so wenige Menschen leben hier pro Quadratkilometer. Man ist also meist allein, nur mit den Eseln und seinen Gedanken. Ganz selten fährt ein Auto vorbei. Ein bisschen erinnert es an eine Wüsten-Karawane. Nur dass man statt mit Kamelen mit Eseln unterwegs ist. Und statt weiter Dünenmeere liegen in sanften Hügeln goldene Getreidefelder bis zum Horizont. Die Sonne flutet die Landschaft mit warmem Licht. Der Wind kämmt seine Muster in die Getreidefelder und wirbelt die blauen Kornblumen und den intensiv roten Mohn vorsichtig durcheinander. Der Wegrand muss so etwas wie ein Schlaraffenland für die Eselinnen sein. Überall was zu essen, und viel zu oft sollen sie daran vorbeilaufen. Hin und wieder wird im Vorbeigehen doch der eine oder andere Blumensnack abgebissen.

Nach rund sieben Kilometern ist die erste Tagesetappe geschafft und das Ziel erreicht: der Straußenhof von Hartmut und Andrea Rätz im Örtchen Berkenlatten, wo es fast schon mehr Strauße als Einwohner geben dürfte. Etwa 100 Tiere laufen über eingezäunte Grünflächen, recken neugierig die Hälse und machen zwar nicht gerade den cleversten Eindruck, sind jedoch ziemlich unterhaltsam. „Eine persönliche Bindung kann man nicht aufbauen. Gesichter merken sie sich nicht“, sagt Andrea. „Das Beste ist das Fleisch“, fügt sie lachend hinzu. Und das ist extrem mager und im Grunde in Bioqualität, wenn auch nicht zertifiziert. Zwei Tiere werden pro Woche zur Schlachterei gebracht. Und auch heute Abend landet es als Steak und als Bratwurst auf dem Teller. Übernachtet wird in der einfachen Holzhütte mit Freiluftdusche, den Eselstall in Sichtweite und viele Straußenbabys als Nachbarn. Morgens weckt ein tiefes Gebrüll aus dem Schlaf im kleinen Holzhäuschen. Ein Bulle? Ein Löwe? Nein, nur ein Straußenhahn.

Ohne viel Gesprächsstoff hat man sich doch an die Eselgesellschaft gewöhnt

Nach dem Frühstück wird Emma bepackt, und die Ucker-Karawane zieht weiter. Nur weit kommt sie nicht. Schon nach ein paar Hundert Metern streiken die Esel zum ersten Mal. Ein Anruf bei Katrin von Zwolle hilft. Sie gibt den Tipp, hinter den Tieren mit Eichenlaub zu rascheln – jedoch so, dass sie es nicht sehen. Das funktioniert tatsächlich. Allerdings wieder nur ein paar Meter weiter, bis zu einem Einfamilienhaus, wo unter den skeptischen Blicken eines älteren Uckermärkers die nächste Kapitulation stattfindet: Ja, sollen sie doch einfach fressen. Irgendwann müssen sie ja satt und bereit sein weiterzulaufen.

Doch als auch nach einer Stunde Gras-Pause nicht mehr als ein paar Meter drin sind, schleicht sich langsam Verzweiflung ein. Wenn das in dem Tempo weitergeht, ist die Strecke an einem Tag nicht mehr zu schaffen. Glücklicherweise kommt nach einem weiteren Notfalltelefonat eine Assistentin von Katrin von Zwolle mit dem Auto angefahren. Sie bringt Emma und Sofie so auf Spur, dass sie sich länger als nur für wenige Minuten in Bewegung setzen. Das kleine Wäldchen wird etwas schneller durchquert, um den unnachgiebigen Bremsattacken von Emma und Sofie ein Ende zu bereiten. Und am kleinen Strand des Badesees zieht der Eseltreck ohne abkühlendes Bad vorbei, weil es gerade wieder so gut läuft.

Das bleibt auch so, bis zur Ankunft beim zweiten Nachtquartier in Herberts Gesindehaus 7 in Temmen. Herbert, der eigentlich aus dem Spreewald stammt und in den 80ern in West-Berlin mal für das Kulturamt gearbeitet hat, hat den Hof vor zwölf Jahren einer alten Dame abgekauft. Seitdem renoviert, baut, bastelt er daran herum und schafft kreatives Durcheinander: Alte Bücher und Bilder, Scharniere und Türen, Teppichklopfer und manch obskures Fundstück ergeben zusammen mit Kaninchen, Hühner, Katzen, Ziegen und zwei Hunden ein eigenwilliges Sammelsurium. „Das sind alles Kunstwerke, man muss sie nur richtig präsentieren“, sagt der Großstadtaussteiger beim Abendessen, bei dem die Keule einer selbst geschlachteten Ziege auf den Tisch kommt. Emma und Sofie verbringen die Nacht auf der Koppel.

Der Abschied fiel letztlich doch nicht leicht, nachdem man sich langsam aneinander gewöhnt hatte. Doch wenn auf der Tour der Spaß mit Machtkämpfen kollidierte und es für jeden Entspannungsmoment einen sturen Stress-Augenblick gab, haben Emma und Sofie eines geschafft: dass man auf ungewöhnliche Weise von den Verfolgungen des Alltags wegkam – auch wenn man nicht wusste, was man ihnen eigentlich so erzählen soll.