Guggenheim ist nicht mehr alles: Wie aus der ehemaligen Industriestadt Bilbao die lebenspralle Kulturmetropole des spanischen Baskenlandes wurde

Den Bogen vom verrücktesten Museum Europas zur Elbphilharmonie in Hamburg hat Virginia Ybarra, die Kunstlehrerin aus Bilbao, schnell geschlagen: „Auch so ein Wahnsinns-Projekt, das ihr euch da vorgenommen habt. Aber glaub mir, es wird funktionieren, so wie es damals mit der Oper in Sydney funktioniert hat. Die Leute, die sich heute noch das Maul zerreißen, sie werden kommen, staunen und begeistert sein. Wir hier nennen es den Guggenheim-Effekt.“

Und wirklich: Der glänzende Fisch, das silbrige Segel, der aufgefächerte Blütenrausch, wie immer man es deuten mag, was der Amerikaner Frank O. Gehry da 1997 der alten Hafen- und Industriestadt ins müde Herz implantiert hat, es wurde zum Schrittmacher, der bis heute Wunder wirkt. Jedes Jahr kommen eine Million Besucher, und sie erleben nicht nur den spektakulären Museumsbau, sondern längst auch eine lebensfrohe Stadt, die sich auf alte Tugenden besonnen und sich neue Attraktionen zugelegt hat: Bilbao ist Guggenheim – und viel mehr.

Von der Entscheidung über den Baubeginn bis zur Fertigstellung lief allerdings alles sehr viel zügiger als in Hamburg. Sogar die Kosten blieben im festgelegten Rahmen. Man vertraute dem Stararchitekten und seinen Experten, holte sich den besten Kalkstein aus Granada, und für die Außenhaut durfte es Titan aus Russland und Australien sein. Die anfängliche Skepsis war längst dem Stolz fast aller Bilbaínos gewichen, als das „verschachtelte Ding“ nach nur vier Jahren Bauzeit im Oktober 1997 eröffnet wurde.

Nachdem Gehry die Stadt wachgeküsst hatte, kamen mehr geniale Architekten

Virginia, die Lehrerin mit deutschen Wurzeln – eine Großmutter lebte in Hamburg –, erinnert sich noch gut, wie Bilbao ausgesehen hat, bevor Gehry die Stadt wachgeküsst hat: „... schmutzig, grau, mit einem stinkenden Fluss im Zentrum. Kein Tourist hat sich damals zu uns verirrt.“ Aber dann kam ein Zug ins Rollen, auf den immer mehr geniale Geister aufsprangen. Norman Foster, der in Berlin dem Reichstag die Kuppel aufsetzte, baute U-Bahn-Stationen, die als Fosteritos berühmt wurden. Der große Santiago Calatrava, der schon Valencia verwandelt hatte und in einer Liga mit Gehry und Foster spielt, fing mit einer Brücke an, die über dem längst wieder sauberen Rio Nervion zu schweben scheint. Vor Kurzem hat dieser Calatrava der Stadt, die gerade mal 350.000 Einwohner hat (weniger als der Bezirk Wandsbek), einen Flughafen von Weltformat beschert, der die Besucher schon bei der Ankunft staunen lässt. Übers Zentrum verteilt, bestens harmonisierend mit Jugendstil und Gründerzeit, haben sich Designer wie Philippe Starck und Architekten wie Zaha Hadid und Arata Isozaki Denkmäler gesetzt, die den Einheimischen wie den Gästen gefallen.

Mit den neuen Fassaden kam die alte Lebensfreude zurück. Man traf sich wieder in den einst so berühmten Kaffeehäusern und in den frisch geputzten Bodegas. Ein paar aufregende Neubauten, eine Handvoll genialer Architekten und viele Tausend optimistischer Bilbaínos ließen eine Stadt aufblühen, von der es kurz zuvor hieß, sie hätte ihre beste Zeit längst hinter sich.

Auf zum Stadtbummel mit Isa, die eigentlich Izaskun heißt. Sie ist Baskin, Angehörige einer nationalen Minderheit im Norden Spaniens und im Südwesten Frankreichs, die mit ihren Unabhängigkeitsbestrebungen lange für ungute Schlagzeilen auch bei uns gesorgt hat. Schnee von gestern, sagt Isa, auch die radikalen Separatisten, ohnehin eine Minderheit unter den Euskaldun, wie sich die Basken selber nennen, haben der Gewalt längst abgeschworen. In Bilbao jedenfalls pflegt dieses Völkchen, dessen Herkunft umstritten ist, geradezu inbrünstig seine Sprache, seine Musik und seinen Sport. Mit Begeisterung spielt man Pelota, das Schlagballspiel der Region. Überall stößt man auf Fontons, Pelota-Hallen, in denen nicht nur alte Männer mit der Baskenmütze das Geschehen kommentieren.

Kaixo statt Ola, Egun on statt Buenos dias... Wer mit ein paar Grußworten auf Baskisch zum Beispiel das Kaffeehaus Iruña betritt, erhält sofort ein Lächeln zurück. Seit gut 110 Jahren startet, wer in Bilbao etwas auf sich hält, in diesem Jugendstil-Café mit einem Cortado, dem unverzichtbaren Milchkaffee, und einem Bollo de Mantequila, einer Buttersemmel, in den Tag. Was für ein Ambiente: viel Marmor, viel Messing, viel Kristall- und Spiegelglas.

Jetzt ist es schon fast Mittag, und Isa und ich suchen uns drei, vier Pintxos an der Theke aus. Das sind Häppchen, Kanapees – mit Schinken belegt, mit Salami oder Thunfischmousse. Sie sehen aus wie Tapas, aber wir sind im Baskenland, und da werden eben Pintxos bestellt. Dazu trinken wir, wie die meisten Bilbaínos um diese Zeit, ein Glas Txakoti, den erfrischenden, leicht prickelnden Weißwein aus der Region, um Gottes willen keinen Vino blanco aus dem Süden.

Wie in fast allen spanischen Großstädten laufen Gassen und Boulevards sternförmig auf die großen Plazas zu. Nur ein paar Hundert Meter vom Kultcafé nach Westen, und die Plaza Moyua ist erreicht, das Herz der baskischen Metropole: Neben dem legendären Grandhotel Carlton ist dieses Rondeel gesäumt von imposanten Fassaden aus Jugendstil, Neobarock und Eklektizismus. Ganz anders das Bild auf der Plaza Nuevo – ein großes Geviert nahe der Markthalle und dem prachtvollen alten Teatro Arriago.

Laubengänge rahmen diese Plaza ein, Familien schlendern die Arkaden entlang, smartes Jungvolk und seriös gekleidete Senioren streben dem Bilbao zu, ins Stammlokal der Fans von Athletic, dem Fußballclub, für den – Isa versichert es glaubhaft –, alle, wirklich alle Bilbaínos durchs Feuer gehen. Seit Beginn der Primera División 1928 spielen neben Bilbao nur Real Madrid und der FC Barcelona ohne Unterbrechung in dieser ersten spanischen Liga.

Mit einem Happen und einem Dämmerschoppen in dieser wunderbar-altmodischen Bar kann das Pintxos-Hopping beginnen, ein genussfreudiger Bummel durch die Altstadt. Sieben Gassen sind es nur, eng, voll feierfreudiger Menschen und praller Lebenslust ab etwa neun Uhr abends. Aber nicht niedrige Häuser aus dem späten Mittelalter, wie etwa in Córdoba oder anderswo, säumen die Siete Callas, sondern vier- bis fünfgeschossige Gebäude, an deren bunten Fassaden hölzerne und voll verglaste Balkone kleben, die an orientalische Erker erinnern.

Eine Riesenspinne namens La Maman und ein Blumenhund, der Puppy heißt

Somera, Artecalle, Tenderia... Heute Abend schaffen wir nur die ersten drei der sieben Gassen, bleiben hier bei einem Pilz-Pintxo hängen, klönen uns nebenan mit Isas Freunden fest, müssen ein Haus weiter auch Bacalhau probieren, den Stockfisch, der zu Nordspanien gehört wie zum benachbarten Portugal, hier aber mit der fürs Baskenland typischen scharfen Pil-Pil-Sauce serviert wird. Und, claro, Miesmuscheln, Tortillas, Tintenfische in der eigenen Tinte gekocht, gut gereifter Schafskäse, zu guter Letzt ein Gläschen Patxarán, Schlehenlikör auf Eis, wie ihn die Bilbaínos lieben.

Letzter Tag, noch einmal mit Virginia, der Kunstkennerin, zum Guggenheim geschlendert. Die Sonne scheint, das Museum glitzert. An der Wasserseite drängen sich die Touristen für ein Foto vor La Maman, der Riesenspinne von Louise Bourgeois, weiter oben ist der Blumenhund Puppy von Jeff Koons ein beliebtes Motiv. Und im Innern machen Richard Serras Skulpturen sprachlos: rosteiserne Wände, die sich wellenförmig durch den angeblich größten Saal der Welt ziehen, sich verengen, sich erweitern, sich neigen oder öffnen und dabei immer wieder die eigene Perspektive infrage stellen, einfach grandios.

Als wir über eine breite Treppe nach oben und ins Freie treten, ziehen Wolken über die grünen Hügel, die Bilbao einrahmen. Es beginnt zu nieseln, „...wie zu Hause“, sagt Virginia, und meint Hamburg. Die Haut des Weltwunders schimmert jetzt matt, wie mit einer Folie überzogen, und glänzt doch schon im nächsten Moment, als es nur eine Spur heller wird, wieder in allen Nuancen von Silbergrau bis Blaumetallic. Der pure Wahnsinn.