Ein Hamburger Paar reist einen Monat per Couchsurfing von Moskau aus Richtung Osten – während sich der Konflikt mit dem Westen gerade immer mehr zuspitzt

Vom Putz ist nicht mehr viel übrig, der 60er-Jahre-Bau zeigt nackte Steine. Hinter einer schweren Metalltür geht es fünf Stockwerke hoch durch das dunkle Treppenhaus. Einige Fenster fehlen, der Wind weht vergilbte Gardinen ins Haus. Die Stufen aus grauem Beton sind von Tausenden Schritten abgetreten. Von der Decke hängen Stromkabel. Es riecht nach Fleisch, Schweiß und Staub.

Der erste Eindruck unserer Unterkunft in Nischni Nowgorod, der fünftgrößten Stadt Russlands, ist ernüchternd. Igor, der gerade einen unserer Rucksäcke durchs Treppenhaus in seine Wohnung trägt, kennen wir nicht. Bei dem 36-Jährigen und seiner Ehefrau Angela, 34, werden wir drei Tage leben. Bei Fremden auf der Couch.

Den ersten Monat unserer Weltreise verbringen wir in Russland. Wir, das sind Sally, 28, und Julien, 27. Unsere Jobs haben wir gekündigt, unsere Wohnung in Eimsbüttel untervermietet und sind jetzt mit der Gewissheit unterwegs, Familie und Freunde ein Jahr lang nicht zu sehen. Dafür leben wir unseren Traum. Mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren wir von Moskau bis an den Baikalsee. Auf keinem unser Stopps in den Städten buchen wir ein Hotel, unsere Unterkünfte sind immer privat. Über die Internetseite Couchsurfing. org suchen wir uns Gastgeber, sie machen ein Sofa, ein Bett, eine Schaum- oder Luftmatratze für uns frei, kostenlos. Ihr einziger Lohn: Fremde treffen. Weltweit machen beim Sofa-Teilen über drei Millionen Menschen mit.

Für die Couchsurfing-Gastgeber Angela und Igor in Nischni Nowgorod, vier Stunden von Moskau, sind wir die ersten Gäste. Als Igor die Tür der Zweizimmerwohnung aufschließt, riecht es nach Tee und Reis mit Rindfleisch. Die doppelte Tür mit fünf Sicherheitsbolzen trennt das staubige Treppenhaus von der liebevoll eingerichteten Wohnung. Mit den Rucksäcken legen wir auch unsere Zweifel ab. Willkommen in der russischen Herzlichkeit.

„Coffee, tea?“ – Angela ist nach diesen zwei Worten mit ihrem Englisch am Ende. Wir nicken, also bekommen wir Tee. Dazu zuckrige Eierschaum-Bonbons und Kekse. Für das Wochenende entwerfen der PR-Mensch und die Callcenteragentin ein Programm: das Ewige Feuer, die Mahnmale des Zweiten Weltkriegs. Die Statue von Waleri Pawlowitsch Tschkalow, der 1937 von Moskau nonstop nach Vancouver flog. Sogar eine Privatführung durchs Straßenbahn-Museum steht auf dem Plan. Und immer ein: „Braucht ihr noch etwas? Seid ihr zufrieden?“

Am Abend übersetzt Igor einen Satz seiner Frau. Es sind Worte, die wir nicht vergessen werden: „Ihr schlaft in unserem Ehebett und wir auf der Couch, ihr werdet auf eurer Reise noch in so vielen unbequemen Betten schlafen.“ Widerworte zwecklos.

Die Gastfreundschaft der Russen ist entwaffnend. Dabei ist das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen so schlecht wie seit dem Kalten Krieg nicht mehr. Das Wettrüsten mit Worten ist allgegenwärtig in Russlands Medien. Als wir in Nischni Nowgorod im Wohnzimmer sitzen, sagt der Nachrichtensprecher im TV: „Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel entzieht Präsident Putin ihr Vertrauen.“ Igor übersetzt es und winkt ab. Der 36-Jährige ärgert sich über Putins Provokationen. Wenn es um sein Heimatland geht, sagt er Sätze wie: „Das ist Propaganda... Ups, habe ich das gerade gesagt?“, „Unser Staat betrügt uns immer wieder“ und „Es gibt keinen unabhängigen TV-Sender“. Er habe 1300 Facebook-Freunde, „viele davon in der Opposition“.

Er ist einer von wenigen, die wissen, dass die TV-Sender in einem Mix aus Druck und vorauseilendem Gehorsam manche Facetten der Wahrheit verschleiern. Weil er fließend Englisch spricht, informiert er sich auch bei „Westmedien“. In Russland sagen alle „Westmedien“, es ist, als würde der Eiserne Vorhang immer noch Rundfunkwellen aus der Freien Welt abfangen.

Courchsurfen ist wie Russland den Puls zu fühlen. Was denken die Menschen, was bewegt sie? Ein Blick hinter den Vorhang, hinter das abstrakte, kalte Gesicht, mit dem Präsident Putin sein Land nach außen repräsentiert.

Als wir unsere Reise in Moskau starten, bestimmt der Abschuss der MH17-Maschine über dem umkämpften Donezk in der Ukraine die Nachrichten. Es ist das einzige Mal, dass wir unsere Couchsurfing-Gastgeberin Julia barsch erleben. Die 29-Jährige fragt: „Was erzählen euch eure Medien so?“ Unsere Antwort wartet sie nicht ab. „Warum sollte Präsident Putin ein Flugzeug abschießen? Eure Medien lügen!“

Die Angestellte in einem Reisebüro schüttelt den Kopf und ist im nächsten Moment wieder die fröhliche Frau, die uns so herzlich empfangen hat. Die Russland am Tag unserer Ankunft ein Gesicht gegeben hat. Der Flug war anstrengend, der Transfer zur Metro-Station lang. Auf dem Bahnsteig Paveletskaya tummeln sich Reisende. Die Stadt empfängt uns ruppig und rau. Wir sprechen kein Russisch, wissen nicht, wo wir schlafen werden. Und sind verabredet: mit Julia, der völlig Unbekannten.

Freunde und Familie fragten: „Ihr wollt wirklich zu Fremden? In Russland? Wie könnt ihr sicher sein, dass euch nichts passiert?“ Und wir antworteten: „Wie können unsere Gastgeber sicher sein, dass ihnen nichts passiert?“ Wir sagen das, aber das Unbehagen bleibt. Bis wir Julia treffen. Sie hält einen Zettel in den Händen: „Sally & Julien“ steht da. Julia lächelt, als sie uns sieht, wir umarmen uns wie Freunde.

Wir fahren quer durch die chaotische Stadt, Julia wohnt in einer Sowjet-Platte am Rande Moskaus mit ihrem Mann Michail, 25, und dem gemeinsamen Sohn Max, 3. In seinem Kinderzimmer dürfen wir schlafen, er ist für die Zeit unseres Besuchs bei der Oma. Vormittags besichtigen wir den Kreml, gehen in die berühmte Basilius-Kathedrale. Wir bewundern die prunkvollen Metro-Stationen mit Kronleuchtern, wahrhaftige unterirdische Paläste.

Nachmittags zeigt Julia uns ihre Lieblingsplätze: den Gorki-Park, kolossale Bauten und vergoldete Prunk-Springbrunnen abseits der Touristen-Magneten. Abends sitzen wir zusammen, trinken Bier, spielen Uno. Julia kocht Pelmeni, russische Maultaschen.

Die Frage, was wir gern essen und was probieren wollen, zieht sich durch alle Küchen. Während Gastgeber in Nischni Nowgorod uns Spiegeleier zum Frühstück machen, weil sie denken, das mache man in Deutschland, bekommen wir im dritten Stopp Kasan selbst gemachte Blini, russische Pfannkuchen.

Dort wohnen wir bei Galina und ihrem Ehemann Sergej. Beide haben in Deutschland studiert, in den USA gearbeitet. Der 24-Jährige ist eigentlich Strafverteidiger, doch er hat umgeschult auf Elektrotechnik. Einen Verbrecher zu vertreten kann tödlich sein, sagt er. Galina, die fließend Deutsch und Englisch spricht, hat sich mit einem Schmuckstand im Einkaufszentrum selbstständig gemacht. Doch die Traditionen des Landes holen sie ein: Wenn sie jetzt ein Kind bekommt, soll sie dann ihren Job aufgeben, wie ihr Mann und ihre Tanten es auf den Familientreffen fordern? Als die 25-Jährige uns davon erzählt, kennen wir uns erst wenige Stunden. Es ist, als könne sie mit uns Man-sieht-sich-doch-eh-nicht-wieder-Fremden viel offener reden als mit ihren Freundinnen, die meist schon Kinder haben.

Nach diesem Crash-Kurs durch russische Erwartungen an ein gutes Leben besichtigen wir in Kasans Innenstadt den Kreml von 1552, seit 2000 Unesco-Weltkulturerbe. Die Hauptstadt Tatarstans ist das Zentrum des russischen Islam, im Kreml steht die Kul-Scharif-Moschee mit ihren vier Minaretten direkt neben der Mariä-Verkündigungs-Kathedrale – Zeichen des friedlichen Zusammenlebens der Muslime und Orthodoxen.

Zum Abschied bringt Galina uns zum Bahnhof, sie winkt uns zu, als sie die Treppen zur U-Bahn hinabsteigt. Eine Stunde später kommt eine SMS von ihr: „Ich weiß nicht wieso, aber ich hätte gerade in der Metro fast geweint.“ Die Tatsache, dass wir auf Weltreise sind, löst etwas in den Menschen aus. Sie stellen sich Fragen wie: „Will ich mich selbst verwirklichen? Und wenn ja, wie und wann?“

So geht es auch unseren Gastgebern in Ischewsk, weit abseits der Touristen-Route. Man muss sieben Stunden mit der Elektrischka fahren, einem Vorortzug mit Holzbänken, der an jeder Straßenkreuzung hält, und irgendwo im Nirgendwo umsteigen. Für Artem ist es eine Ehre, uns seine Stadt zu zeigen. „Es kommen wenige zu uns, das ist schade“, sagt der 30-Jährige. Es sei inspirierend, mit uns zu reden, sagt er in gebrochenem Englisch. Und dann dieses unvergessliche: „Gute Nacht“. Unvergesslich, weil Artem und seine Frau Xenia, 24, ihre Einzimmerwohnung mit uns teilen. Die Luftmatratze liegt neben ihrem Bett, aufgepumpt und bezogen.

Ischewsk, die Hauptstadt der Republik Udmurtien, ist die Waffenschmiede Russlands. Lokaler Held: Michail Timofejewitsch Kalaschnikow, Erfinder und Namensgeber des bekannten Sturmgewehrs. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 100 Millionen Kalaschnikows im Umlauf sind – Kopien und Weiterentwicklungen eingeschlossen – und dass rund eine Viertel Million Menschen Jahr für Jahr durch sie sterben.

Die Avtomat Kalaschnikowa von 1947, kurz AK-47, wurde in Ischewsk gebaut. Zu ihren zweifelhaften Ehren steht ein Museum mitten in der Stadt. Wie Trophäen liegen die Prototypen aus den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in Vitrinen. Und die leichtere, präzisere und tödlichere Weiterentwicklung von 1974, die aktuellen Modelle von Polizei und Armee. „Herr Kalaschnikow ist im letzten Jahr gestorben, leider“, sagt Artem und seufzt.

Abends sitzen wir bei Tee und Wasserpfeife auf dem Balkon. In den Hunderten Fensterscheiben der Blocks gegenüber spiegelt sich der Sonnenuntergang. Dann sagt er: „Die Ukrainer sind unsere Brüder.“ Auch Artem will wissen: „Was erzählen die Westmedien?“ Artems Englisch reicht nicht, um westliche Artikel zu verstehen. Wir sind sein Guckloch in eine Welt, in der Putin nicht vorgibt, wo es langgeht.

Couchsurfing führt uns nicht nur geografisch quer durch das riesige Land, sondern katapultiert uns auch durch die unterschiedlichen Schichten der Gesellschaft. Haben wir uns in Ischewsk noch zu viert ein Zimmer geteilt, wohnen wir in Jekaterinburg in einer Luxuswohnung bei Anastasia, mit eigenem Zimmer. Die Eltern der 21-Jährigen haben nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Verleger viel Geld gemacht. Die Wohnung zeigt das auch – sie hat einen direkten Blick auf die „Kathedrale auf dem Blut“. Der russisch-orthodoxe Bau ist zur Pilgerstätte russischer Monarchisten geworden und Touristen-Hauptattraktion in der Stadt. Zwischen 2002 und 2003 wurde die weiße Kathedrale mit Museum an dem Ort erbaut, an dem die Zarenfamilie Romanow 1918 in den Nachklängen der Oktoberrevolution ermordet wurde.

Anastasia selbst war noch nie drin, auch wenn sie so dicht wohnt. Dafür zeigt sie uns, was für sie typisch russisch ist: Kaviar und Wodka – und ein langer Abend unter Freunden.

In den Nachrichten dominiert das Ukraine-Thema. Während im Westen von den Kämpfen in Donezk und russischer Unterstützung für die Separatisten die Rede ist, bringt das Radio Meldungen über ukrainische Soldaten, die in Russland Asyl suchen. Während Experten im Westen wegen der EU-Sanktionen und des russischen Einfuhrverbots von EU-Lebensmitteln eine Rezession in Russland befürchten, bleiben die Russen gelassen. In einem Mix aus Humor und Schadenfreude bemerkt unser Gastgeber in Nowosibirsk, dass noch Äpfel aus Polen in den Regalen liegen.

Und weder in Tomsk noch am Baikalsee erwarten uns leere Regale. Dafür begrüßt uns die deutschlandbegeisterte Oxana in der Studentenstadt Tomsk. Weil Gastgeber Aleksey seinen Eltern auf dem Land helfen muss, zeigt sie uns die Stadt. Die 23-Jährige erklärt uns die Monumente und bringt uns in einen heruntergekommenen Hinterhof. Im „Stolowaja“, einer russischen Kantine, essen wir zu Mittag. Und wieder ist da so ein Moment, in dem wir glücklich sind, dem Unbekannten eine Chance zu geben, mitten in Russland, mitten in der Krise. Denn ohne Couchsurfing hätten wir die besten Blini unseres Lebens verpasst. Wir hätten das echte Russland hinter den erschreckenden Nachrichten nicht kennengelernt.

Und wir hätten jetzt keine russischen Freunde, die uns nächstes Jahr in Deutschland besuchen wollen.

Die Weltenbummler Sally Meukow und Julien Wilkens, hier vor der Kul-Scharif-Moschee in Kasan, berichten auch in ihrem digitalen Tagebuch auf www.ersieweltreise.de