Diese Stadt ist gänzlich unkonventionell und vor allem sehr innovativ: Kopenhagen wächst und wird dabei immer noch sympathischer. Wie das geht? Eine Begegnung mit Architekt Jan Gehl, dem Planer des Wunders

Er trägt ein zerknittertes Leinensakko, gelenkschonende Halbschuhe und am Hosenbund ein streichholzschachtelkleines Gerät, auf das er in den nun folgenden Stunden immer wieder einen prüfenden Blick werfen wird. Durch die Innenstadt streift er und über einen ehemaligen Parkplatz, der kürzlich zum Spielplatz wurde, als ihm ein Plakat in die Augen fällt.

Jan Gehl nestelt eine Digitalkamera aus seiner Hosentasche und löst aus. Vor ihm: eine großformatige Gratulation von Kopenhagen an Kopenhagen. Die dänische Hauptstadt wurde von dem britischen Magazin „Monocle“ gerade zur lebenswertesten Metropole der Welt gewählt. Sympathischer als zum Beispiel Sydney (Platz 9), besser als Barcelona (Platz 21). Es ist eine große Ehre, gerade für Jan Gehl, den Kopf hinter Kopenhagens Aufstieg.

„Wer vor einem Jahrzehnt Kopenhagen besucht hat, stieß auf eine Stadt in permanenter Semi-Winterstarre“, heißt es in der Begründung der Jury, dann habe die dänische Hauptstadt eine radikale Veränderung durchgemacht. Aus einer verschlafenen Metropole am Nordrand Europas wuchs eine Modellstadt, die im Zentrum des weltweiten Interesses steht. Mit Sluseholmen, Ørestad, Nordhavn blühen ganz neue Stadtviertel, unter der Innenstadt wird ein kompletter Ring für die Metro gebuddelt, während auf dem Flughafen quasi wöchentlich ausländische Delegationen landen, die von Kopenhagen lernen wollen. Denn der 560.000-Menschen-Metropole gelingt etwas, um das sie heute Stadtplaner aus aller Welt beneiden: Kopenhagen schafft es, größer und zugleich sympathischer zu werden.

Wer nach den Wurzeln dieses Wunders gräbt, gelangt bis tief in die 60er-Jahre, zu einer unkonventionellen Idee und jenem grauhaarigen Spaziergänger, der jetzt in die Fußgängerzone einbiegt. Jan Gehl war damals frischgebackener Absolvent der Königlich Dänischen Kunstakademie für Architektur und seine Heimat Kopenhagen eine Stadt, die sich willig dem Autoverkehr ergab. „Straßen, die nie für Autos geplant worden waren, hatte man zu Autobahnen degradiert und die Plätze der Innenstadt zu Parkflächen“, erklärt Gehl.

Was aber macht eine Stadt lebenswert? Auf diese einfache und zugleich so komplizierte Frage fand Gehl eine einfache und bis heute gültige Antwort: ihr menschliches Maß. Wenn eine Stadt im Tempo der Fußgänger und Radfahrer ticke. Wenn auf ihren Plätzen wieder Menschen auf Menschen träfen, weil man sie aus ihren Karossen und Häusern hinaus auf die Straßen gelockt habe. Mit dieser Erkenntnis überzeugte Gehl die Kopenhagener Stadtverwaltung, einen Teil der Innenstadt den Fußgängern zurückzugeben. Im November 1962 wurde gegen den Widerstand vieler Ladenbesitzer die Strøget als erste Straße offiziell für den Autoverkehr geschlossen. Tatsächlich begannen die Geschäfte bald zu florieren, sodass in der Folge auch Fiolstræde, Gammeltorv, Amagertorv sowie Dutzende weiterer Straßen und Plätze weitgehend Fußgängern und Radfahrern überlassen wurden.

Wer heute mit Jan Gehl Kopenhagens Innenstadt durchquert, fühlt sich, als begleite er einen siegreichen Feldherrn, der von Schlachtfeld zu Schlachtfeld schreitet. Überall erobertes Terrain: der kopfsteinerne Neue Hafen, einst eine Art lang gestreckter Parkplatz – nun beliebt bei Touristen und Kneipengängern. Die schmale, früher völlig zugeparkte Strædet-Straße im Zentrum: mittlerweile eine sogenannte Fußgänger-Vorzugsstraße. Alle 18 Plätze der Innenstadt: frei von Autos, voll von Menschen.

Kopenhagens Innenstadt zählt heute viermal so viele Besucher wie in ihrer autogerechten Vergangenheit. 36 Prozent sind per Fahrrad unterwegs, 35 Prozent kommen zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln – ein Weltrekord. Im Gegenzug wurden im Großraum Kopenhagen rund 1000 Kilometer Radwege geschaffen, von denen viele so breit sind, dass man selbst auf den hier so beliebten Lastenfahrrädern bequem zu zweit nebeneinander hergleiten und überholen lassen kann.

Mehrere populäre Radlerrouten hat die Behörde bereits zu „Grüne-Welle-Strecken“ umgebaut, auf denen die City nonstop mit 20 km/h durchradelt werden kann. Die Dr. Louises Bro hat sie auf sechs Radspuren erweitert, an der Farimagsgade testet sie ein System im Radwegasphalt versenkter Leuchtdioden, die nahenden Radlern signalisieren, ob ihre Geschwindigkeit sie noch über die nächste Grünphase trägt. Ehrgeizigstes Vorhaben der Behörde ist ein Netz neun komfortabler, von Servicestationen flankierter „Fahrrad-Superautobahnen“, die kilometerweit in die Vorstädte hineinreichen sollen.

Von der Dr. Louises Bro aus ist einer der spektakulärsten neuen Bauten in 20 Fahrradminuten zu erreichen. Auf der Amager-Insel, einem rund 310 Hektar großen ehemaligen Militärgelände, entsteht gerade ein neuer Stadtteil mit Wohnungen für 10.000 und Arbeitsplätzen für 70.000 Kopenhagener. Der Weg dorthin führt über einen kilometerlangen Boulevard, vorbei an Seen, Kleingartenkolonien und dem prätentiösen Bella Sky Hotel, bis man zu der von saftigen Wiesen umgebenen Satellitensiedlung Ørestad gelangt.

Mit betonkalten Mehrfamilienhäusern, gläsernen Konzern-Niederlassungen und einer Hochbahntrasse, die den Stadtteil wie ein zementiertes Schwert durchschneidet, wirkt Ørestad auf den ersten Blick wie die gebaute Antithese zu Jan Gehls Credo von einer menschlichen Stadt. Tatsächlich aber findet sich zwischen Kränen, Baugruben und öder Unternehmensrepräsentanz einiges vom Besten, was Dänemarks Architektur zu bieten hat.

Zum Beispiel das 8house, geformt wie eine gigantische Acht. In seinem Inneren schraubt sich eine 1000 Meter lange Gangway empor und verbindet die Maisonettewohnungen wie Häuser einer Reihenhaussiedlung miteinander. Jede Wohnung verfügt über einen Mini-Vorgarten. Jeder Bewohner kann einen der Gemeinschaftsräume mieten, die in dänischen Wohnkomplexen üblich und hier in der Mittelspange der Acht untergebracht sind.

„Auf diese Weise ist das 8house typisch Kopenhagen“, sagt Bo Christiansen, Veranstalter exklusiver Stadtführungen. „Weil es nicht nur Sinn, sondern auch Spaß macht.“ Christiansen führt Bürgermeister, Architekten und Ratsherren durch seine Heimatstadt. Das dänische Innovationsmodell sei eines der vorsichtigen Schritte und passe zum Biorhythmus der Welt. Als das Modell des „Immer mehr, immer größer“ mit der Finanzkrise an Attraktivität verlor, hätten sich Regierungen nach Alternativmodellen umgesehen. Immer wieder hört Bo Christiansen von ausländischen Delegationen den Wunsch, den Kopf hinter Kopenhagens Wandel zu treffen. Aber Jan Gehl ist meist unterwegs. Kürzlich war er in Sankt Petersburg und Moskau, weil beide ihren Ruf als lebensfeindliche Metropole loswerden wollen. Am Umbau Sydneys arbeitet er, New York verdankt ihm seinen verkehrsberuhigten Times Square.

Für Städte ist es wichtig, fußgänger- und fahrradfreundlich zu werden

Als der Architekt am Nachmittag wieder vor seinem Büro im Gammel Kongevej steht, zieht er ein letztes Mal das Gerät an seinem Gürtel hervor. „Erst 7776 Schritte“, sagt der 77-Jährige mit Blick auf das Display des Schrittzählers. „Wussten Sie, dass regelmäßige Bewegung im Schnitt sieben zusätzliche Lebensjahre bringt?“ Er habe sich deshalb vorgenommen, jeden Tag mindestens 10.000 Schritte zu gehen. Einfacher könne man doch kaum etwas für seine Gesundheit tun. Städte wiederum könnten überhaupt nichts Besseres für Bürger tun, als ihre Straßen fußgänger- und fahrradfreundlich umzubauen.

Sechs der zehn Städte, die das „Monocle“-Ranking als lebenswerteste der Welt listet, gehören zu Gehls Klienten. Noch in dieser Woche wird er wieder nach Sydney fliegen. Danach erwarten sie ihn in Moskau. Dann in Sankt Petersburg. Der Mann, der Städte verwandelt, hat einen weiten Weg vor sich. An diesem Tag, in seiner Stadt, sind es noch 2224 Schritte.

Der (gekürzte) Text entstammt dem neuen „Geo Special Dänemark“, das für 8,50 Euro im Handel erhältlich ist