Die Route 66 steht für die Suche nach dem Glück und Mobilität. Sie entstand 1926 im Rahmen des nationalen Highway-Ausbaus. Eine kleine Tankstelle zeigt ihre Geschichte

Wer den Mythos der Traumstraße verstehen will, sollte in der 2075 Peoria Street in Springfield, Illinois, mit der Suche beginnen: in Shea’s Gas Station Museum, einem Tankstellenhäuschen samt Werkstatthalle, vollgestopft mit Erinnerungsstücken der Route 66. In der Luft liegt Benzolgeruch. Ein halbes Jahrhundert automobiler Vergangenheit Amerikas trug Tankwart Bill Shea hier zusammen. Sie waren eine Einheit: der alte Mann und der Mythos.

„Ich arbeite, bis ich 90 bin“, hatte der Sammler der verflossenen Zeit seinen Besuchern immer versichert, „und danach nur noch halbtags.“ Das mit dem Ganztagsjob hat er eingehalten. Bis kurz vor seinem 91. Geburtstag war Bill Shea täglich in seinem Museum anzutreffen, hat die alten Zapfsäulen poliert und dabei Geschichten erzählt von früher. Dann streikte sein Körper wie sein geliebter, vor der Tür geparkter weißer Ford Mustang Baujahr 1969: Bill Shea musste ins Pflegeheim. Im vergangenen Dezember starb er, zwei Wochen vor seinem 92. Geburtstag. Wird nun mit ihm auch das Museum, eine Institution der Route 66, zu Grabe getragen?

Der Junior empfängt uns wie einst sein Daddy: mit Blaumann, Arbeiterpranken, Schirmmütze. Nur ohne die blickdichte Pilotenbrille, die der Alte stets trug und die ihn cooler, abgeklärter wirken ließ als den sanftmütig lächelnden Sprössling. Der Sohn hat mit 64 Jahren Bills Erbe angetreten. „Das bin ich Daddy schuldig“, sagt Bill junior. Denn „Daddy“ war ein Original der „66“. Praktisch sein ganzes Leben hat Bill Shea an der berühmten Straße verbracht. Mit einer Ausnahme: als er im Zweiten Weltkrieg der US-Armee gedient hat. Er war bei der Invasion in der Normandie dabei, hat den D-Day überlebt, erzählt Bill junior. Nach dem Krieg war der Vater in Bad Mergentheim stationiert. Zurück in den USA, eröffnete er seine erste Texaco-Tankstelle an der Route 66. Später zog er mit ihr einige Straßenzüge weiter. Verlassen haben er und seine Familie die Straße aber nie. Legendär sein Spruch, den Bill junior heute gern zitiert: „Ich wurde an der Straße geboren und wohnte niemals mehr als zwei Häuserblocks entfernt.“

Bill erzählt, wie sein Vater die Gallone – etwa 3,7 Liter – Benzin noch für 90 Cent verkaufte. Heute kostet sie gut 3,80 Dollar, etwa 2,80 Euro. Von 1945 bis 1982 arbeitete der alte Bill in seiner Tankstelle. Vergilbte Fotos zeigen Farmer aus der Umgebung, die während der Depression über die Route 66 aus Illinois flohen, um in Kalifornien neues Glück zu suchen. „Das waren schwere Zeiten“, sagt Bill junior und wirkt, als holen ihn Kindheitserinnerungen ein. „Wenn Vater von den 1930ern erzählte, sagte er immer, dass er die hoffnungsvollen Gesichter der Leute genau vor sich sehe. Damals reiste man anders. Die Autos waren nicht so komfortabel, manchmal war der ganze Hausstand auf dem Dach befestigt. Es gab keine Motels, und eine Landkarte brauchte man nicht. Es gab nur diese eine Straße.“

Der Konkurrenzkampf war groß. „Es gab keine Selbstbedienung, und von den Tankwarten wurde verlangt, dass sie den Ölstand und den Reifendruck checkten. Die Autos waren noch nicht so perfekt.“ Das Ende kam in den 70ern, als eine Umgehungsstraße und die Interstate 55 gebaut wurden. Die Schnellstraße nahm viele Kunden weg. Der alte Shea musste kämpfen – 1982 gab er auf. Nachdem er in Ruhestand gegangen war, baute er die alte Werkstatt zu einer Fundgrube für „66“-Erinnerungsstücke aus. Zur Jahrtausendwende wurde die Tankstation 21 Meilen weiter verfrachtet, an den Ort, wo sie heute steht. „Es hat uns elf Monate gekostet, alles so herzurichten, wie es war“, sagt der Sohn. Mit Erfolg: „Zeitungen schrieben über uns, erst die nationalen, dann auch internationale.“

Das kleine Museum zeigt eine beeindruckende Sammlung von Vintage-Tankstellen. An der Wand kleben Briefmarken von Orten entlang der Route. Alte Zapfsäulen erzählen die Geschichte und Weiterentwicklung des Pumpsystems. Telefonzellen, Schilder, Automagazine, Werkzeug, Fotos erinnern daran, was eine Tankstelle einst in einem riesigen Land wie den USA war: lebensnotwendig. Ein Sehnsuchtsort, ein Ort zum Rasten und Auftanken.

Bills Blick schweift durch den Raum. „Je mehr wir sammelten, desto häufiger kamen Menschen, die ihre Stücke brachten. Wir haben alle mit Namen, Land und Jahr beschriftet. Also Guys, wenn ihr was bringen wollt ...“ Auch Carolin aus Wiesbaden und Nadine aus Frankfurt waren jüngst da, zeigt der Blick ins Gästebuch – alle Nicht-US-Bürger sind gelb markiert. Manche Seiten sind mehr gelb als weiß.

Was mag noch immer die besondere Magie der Route 66 sein? Er überlegt. Dann sagt er: „Dads Platz war immer hier. Die Magie, vermute ich, ist die, dass die Straße ein Teil von uns ist. Und wir ein Teil von der Straße.“ Und ergänzt: „Die Route 66 ist für uns die Verkörperung von grenzenloser Freiheit. Sie gehört zu Amerika und dessen Geschichte. So wie wir Amerikaner davon träumen, einmal über eine deutsche Autobahn zu brettern, so wollen Deutsche die Strecke abfahren. Es ist eben so ein Traum.“ Seit 1993 war Bill Shea offiziell Teil dieses Traums. Der Senior wurde in die „Route 66 Hall of Fame“ (Ehrenhalle) aufgenommen und 2002 auch die Familie. Mit 90 Jahren wurde Bill Shea noch einmal Vater, im übertragenen Sinn: Springfields Bürgermeister ernannte ihn anlässlich seines runden Geburtstags und des 65. Jahrestags als bekanntester Tankwart der USA zum „Father Of The Mother Road“. Amerikas fast 4000 Kilometer lange „Main Street“, wie die Route 66 auch genannt wird, ist eine Lebenseinstellung. Egal ob Hippie oder Anzugträger – bei ihrem Namen fangen die Augen vieler USA-Fans zu leuchten an. Die Geburtsstunde schlug 1926 im Rahmen des nationalen Highway-Ausbaus. Viele Arbeitslose fanden durch den Bau der Straße einen Job. Für rund 200.000 Menschen wurde sie zur „Straße der Hoffnung“ auf ihrem Weg vom Osten ins boomende Kalifornien. Schnell schossen Shops, Motels und Tankstellen aus dem Boden. Die Inhaber hatten fette Jahre vor sich. Die Strecke entwickelte sich zum Sinnbild des mobilen Amerika und verband acht Staaten zwischen Chicago und Santa Monica: Illinois, Missouri, Kansas, Oklahoma, Texas, New Mexico, Arizona, Kalifornien.

Unsterblichkeit erlangte die Route 66 mit dem Roadmovie „Easy Rider“

Bereits in den 70ern verfiel jedoch die historische Reiseroute: Der Ausbau des „Interstate Highway“, des US-Gegenstücks zu den deutschen Autobahnen, ließ die „Mother Road“ ins Abseits rücken, nun ist sie aber wieder zu 85 Prozent befahrbar. Es gibt reichlich historische Truckstops, Cafés und Tankstellen, die inzwischen Kult sind – die Bill Shea’s Gas Station war eine von ihnen. Die Landstraße regte eine eigene Kultur an und wurde in Liedern, Büchern und Filmen gefeiert. Unsterblichkeit erlangte sie mit dem Roadmovie „Easy Rider“. 1946 schuf Bobby Troup den ersten passenden Song über die Fahrt vom staubigen Mittleren Westen zum Golden State Kalifornien. Nat King Cole machte „Get Your Kicks On Route 66“ zum Schlager.

Stolz ist Bill Shea junior vor allem auf die Lebensleistung seines Vaters, des kleinen Tankstellenbesitzers aus einfachen Verhältnissen, der es geschafft hat, eine touristische Berühmtheit zu werden. Und dann mit Foto von sich und seiner Frau Helen und der Route 66 auf der Cornflakes-Packung zu landen – und damit auf quasi jedem Küchentisch der USA. Es klingt nach dem ewig süßen Aufsteigertraum der Amerikaner – an einem staubigen Straßenrand einer hässlichen Ausfallstraße von Springfield.