Der Weg führt in einen Wald. Den vermutet man in unmittelbarer Nähe zur Nordseeküste am allerwenigsten. Das Laub der Pappeln raschelt im Seewind, Erlen stehen im Morast. Wie mit dem Zirkel gezogen liegt im weiten Bogen ein stilles Gewässer in diesem Gehölz, das seltsam statisch wirkt.

Dies hier, das platte Land zwischen Eiderdamm im Westen und Horizont im Osten, war einst der Mündungstrichter des Flusses Eider, dessen Austausch mit dem Meer seit mehr als 40 Jahren vom Sperrwerk südlich dieses Beobachtungspostens geregelt wird. Dieses Land war von den Gezeiten der Nordsee beherrscht. Solche Ästuare – so heißen tidebeeinflusste, trichterförmige Flussmündungen an der Nordsee – sind selten. Vom Menschen unbeeinflusst ist dieser einmalige, ökologisch wertvolle Lebensraum großflächig in Deutschland nirgends mehr.

Der Eiderdamm riegelte den Mündungstrichter dauerhaft von der See ab

Aber er ist aufgrund seiner Landschaftsform eine Schwachstelle für den Küstenschutz: Nach der Orkan-Flut von 1962 mit mehr als 300 Todesopfern an der Nordsee und in Hamburg bändigten die Menschen die See: Der 1973 fertiggestellte Eiderdamm mit dem Sperrwerk riegelte den Mündungstrichter dauerhaft von der See ab – und nahm dem Ästuar seine prägenden Elemente Ebbe und Flut. Im Rahmen der Abdämmung wurde die Hälfte des Mündungstrichters mit seinen 1200 Hektar Wattflächen und Salzwiesen trockengelegt. „Egidorae fluminis“ – Tor des Schreckens nannten sie ganz früher den Fluss und sein Mündungsgebiet, das der Kraft des Meeres Einlass bis weit ins Binnenland gewährte. „Aegir“, der Meeresriese des Schreckens aus der nordischen Mythologie, war Namenspate. Aus „Aegyr Dör“, dem Tor des Schreckens, wurde einfach – die Eider. Und Ackerland. Und ein merkwürdiger Wald.

Feriengäste wünschen sich einen Wald

Ein Drittel der ehemaligen Flussmündung wurde der Landwirtschaft überstellt und umgepflügt; Mais steht dort und Raps. Und der Rest? „Nun wollte man einen Erlebnisraum für naturnahe Erholung schaffen – es wurde eine Umfrage bei Feriengästen gemacht, und die wünschten sich: einen Wald!“, erzählt Sibylle Stromberg. Also wurde ein Wald angelegt; bis 1982 wurden auf 300 Hektar ehemaliger Wattfläche 1,75 Millionen Bäume angepflanzt. Aus Watt wurde Wald, der in der Marsch natürlicherweise nicht vorkommt. Aus ökologischer Sicht ist dieser isolierte Katinger Wald ein Fremdkörper und dort völlig fehl am Platze. Typische Waldtiere können den Wald kaum besiedeln – es soll hier bis heute keine Eichhörnchen geben.

Vor ein paar Jahrzehnten fuhren hier noch Schiffe

Der Weg führt vorbei an Gehölzen und Gewässern nach Nordwest, der Fahrradreifen versinkt im aufgeweichten Boden. Hinter den Erlen raschelt Röhricht im Wind, der alte Strom reicht noch bis Katingsiel, vor ein paar Jahrzehnten fuhren hier noch Schiffe in den kleinen Ort, der einst ein bedeutender Umschlagplatz für Getreide war. Heute fahren Radfahrer über das ehemalige Watt. Sumpfwurz, eine Orchidee, blüht, und Libellen tanzen durch den Sommer, dort, wo früher das Tor des Schreckens war. Und wo einst Störe schwammen, stehen jetzt Pferde, die wilde Mähne im Wind zerzaust.

Wilhelm Andresen ist die älteste Schankwirtschaft

An den Deich schmiegt sich das alte Backsteingebäude der Schankwirtschaft Wilhelm Andresen. Seit fast 350 Jahren steht ein Gasthaus hier in Katingsiel. Als das Gebäude 1668 errichtet wurde, herrschte an der alten Schleuse reges Treiben. Am Übergang von der Süderbootsfahrt zur Eider nach Garding wurde gehandelt und geladen, verzollt und gezecht. Die Schankwirtschaft war bei Händlern, Einheimischen und Seeleuten wohlbekannt. Heute kommen die Leute wegen des Kuchens und Eiergrogs; sitzen draußen unter den Linden oder drinnen auf dem Samtsofa. Die gute Stube ist eine gelebte Erinnerung – Kachelofen und Häkeldecken, Büfetts und alte Fotos. Die verwinkelte Gaststube ist die wohl älteste Schankwirtschaft an der Westküste.

Damit die Schafe nicht ersaufen, wurden welche mit langen Hälsen gezüchtet

Entlang der alten Süderbootsfahrt führt der Weg nach Garding. Hinter dem alten Kanal, nahe Hülkenbüll, steht auf einer Warft ein Haubarg. Sonderbare Tiere stehen auf der Weide; sie sehen aus wie Schafe mit langem Hals. Eiderstedt ist an Kuriositäten gewiss nicht arm; Urlaubern fielen diese merkwürdigen Tiere auf, die einträchtig mit den Schafen grasten. Im Dorf Welt angekommen fragten die Urlauber den nächstbesten Einheimischen nach den komischen Tieren. Und erfuhren von Eiderstedter Langhalsschafen. Gezüchtet in 30 Jahren; die Eiderstedter Bauern waren es nämlich leid, dass ihnen die Schafe bei jeder größeren Flut ersaufen – also züchteten sie eben welche mit langen Hälsen. Ein Spaß natürlich nur; es sind Alpakas.

Kunstdünger kommt nicht auf die Weiden

Ungestüm rast die Schafherde über die Weide, als Monika Volquardsen das Gatter zur Seite schiebt. Rund 120 Tiere beweiden die Flächen nahe Tetenbüll und „... unsere Milchschafe leisten einen Beitrag zum Erhalt dieser einzigartigen Naturlandschaft auf Eiderstedt. Das saftige Grünland mit seinen breiten Gräben und Tümpeln sorgt nicht nur für schmackhafte Milch, sondern dient auch anderen Tier- und Pflanzenarten als Lebensraum!“ Kunstdünger kommt nicht auf die Weiden. Monika und Redlef Volquardsen haben den Betrieb auf Bio umgestellt und erhalten mit den Milchschafen und der Käserei eine alte Tradition.

Innerhalb von vier Wochen wird aus dem „Frischen Friesen“ zum Beispiel der „Rote Friese“, ein cremig-pikanter Käse. In den Holzregalen reifen zum Beispiel „Goldtaler“ heran und der nussige „Tetenbüller“. Das Geheimnis des guten Geschmacks? Liegt bei Volquardsens im Keller. Und die Schafe laufen draußen auf den Weiden rum und stellen Touristen, die sich hinter das Gatter gewagt haben.

Der ehemalige Leuchtturmwärter führt Interessierte auf Westerheversand

Inzwischen hat sich die Abendsonne durchgesetzt, am Ende von Eiderstedt spannt sich ein Regenbogen über die Salzwiesen und den Leuchtturm. Vor dem Horizont steht Deutschlands bekanntestes Leuchtfeuer, und Hein Geertsen schließt die Tür zum Turm auf. Oben auf dem umlaufenden Balkon wollen alle den Regenbogen gucken und weit übers Land. Gewiss war es auch diese Aussicht, die Hein Geertsen hierherführte. Er war der Wärter des Leuchtturms auf Westerheversand – so lange, bis die Anlage ab 1980 automatisiert blinkte.

Schon der Vater von Hein Geertsen war dort Leuchtturmwärter

„Das war die beste Zeit unseres Lebens“, erinnert sich Geertsen. Und man hat nicht den Eindruck, dass dies schon 34 Jahre her ist. Hein Geertsen und dieser Leuchtturm – eine Leidenschaft früher und heute. Mit Ehefrau Traute und den beiden kleinen Kindern zog Geertsen 1965 vom Festland in das Wohnhaus neben dem Turm. Der Bund hatte als Betreiber damals Sorgen, einen Nachfolger als Wärter zu finden, und Hein Geertsen längst eine feste Stelle im Landhandel. Was dazu kam: Schon der Vater von Hein Geertsen war dort Wärter; Geertsen also kannte den Geschmack der Freiheit und das Gefühl, da draußen sein eigener Chef zu sein.

Leuchtturmwärter ist kein Beruf, das ist eine Berufung

Draußen vor dem Deich war die Familie den Naturgewalten unmittelbar ausgeliefert: Als am Morgen des 3. Februar 1976 der Wetterbericht das Schlimmste ankündigte, reagierten die Geertsens mit Gelassenheit. „Morgens wussten wir endgültig: Da kommt was auf uns zu – und das wird gar nicht gut. Wir haben dann noch schnell im Garten den Rosenkohl gepflückt, und ich habe einen Tampen vom Turm zur Haustür gespannt“, erinnert er sich. Mit diesem starken Tau hätten sie sich notfalls die knappen zehn Meter zum Turm herüberhangeln können. Doch sie blieben im Haus, warm und trocken.

Es ist Abend geworden. Der Leuchtturm schickt sein Führlicht über die Nordsee. Hein Geertsen hat den Leuten ein paar Geschichten erzählt. Die Tür zum Turm hat er nicht zum letzten Mal zugeschlossen, Geertsen kommt wieder. „Leuchtturmwärter ist kein Beruf, das ist eine Berufung“, sagt er leise und blickt aufs Meer vor Eiderstedt.