Noah, Dichter, Goldentdecker – an den Häfen des Schwarzen Meeres warten so viele Heldengeschichten, dass man vor lauter Kultur das Wasser nicht mehr sieht. Und die Bösewichte sind zum Anfassen.

Da sitzt er, der böse alte Stalin, als sei nichts gewesen, und die Leute nehmen ihn in den Arm. Erinnerungsfotos mit einem Massenmörder, wo gibt es denn so was? Nur in der Stadt, die häufiger Unmögliches ermöglicht, wie zum Beispiel Olympische Winterspiele in ein subtropisches Klima zu verlegen: Sotschi. In dem russischen Urlaubsort bewohnte der Revolutionär mehrere Monate im Jahr eine Datscha, die heute noch genauso da steht, als sei Stalin nur mal eben um die Ecke, ein paar Feinde erledigen. Ein gruseliger Ort, zugegeben, aber absolut sehenswert, da er Geschichte zum Anfassen ermöglicht, und zwar wortwörtlich. Man kann Stalins Telefon in die Hand nehmen, das ihn mit dem Kreml verband, die Türen des Schreibtisches öffnen, hinter dem er als Wachsfigur sitzt, oder auf dem schusssicheren Sofa Platz nehmen, von dem aus er die ganze Nacht lang Filme guckte. Immer allein, denn der knallharte Herrscher wollte nicht, dass jemand seine Tränen sah.

Stalins Familienfotos befinden sich in seinem ehemaligen Arbeitszimmer

In Stalins ehemaligem Arbeitszimmer befinden sich auch Familienfotos: seine Frau, die sich erschoss, sein Sohn, den er im KZ sterben ließ, seine Tochter, die in die USA floh, und sein Enkel, der mal sagte, er würde niemals Kinder bekommen, weil er fürchte, Stalins Genmaterial weiterzugeben. Stalin hatte eine Reihe von Häusern, aber dieses bei Sotschi war sein liebstes. Er besuchte es sehr häufig, weil es in der Nähe der Heilquellen von Mazesta lag, wo er sein Rheuma behandeln ließ. Die Heilquellen machten Sotschi Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem beliebten Kurort. Sie sind leicht zu finden: immer dem Geruch nach fauligen Eiern folgen. Stalins Landsitz hingegen liegt absichtlich versteckt etwas erhöht auf einem Berg. Wissenschaftler hatten vor dem Bau testen müssen, wo sich die absolut reinste Luft der Region befand, und an genau dem Punkt wurde das Sommerhaus des Diktators errichtet. Es ist waldgrün angestrichen, weil der Hausherr es getarnt haben wollte. Bei einem Rundgang springt einem überall Stalins Verfolgungswahn entgegen: Die Balkone sind so hoch wie er, damit ihn niemand von außen sah. Die Vorhänge verkürzt, damit sich kein Mörder dahinter verstecken konnte, die Betten zahlreich, weil er mehrmals die Nacht sein Lager wechselte. Man sieht das Kaminzimmer, in dem er Besucher betrunken machte und aushorchte, den Pool, in den er aus Angst vor Wasser nie ging und den Billardtisch, an dem er nur Erfolge feierte, weil sich niemand traute, gegen ihn zu gewinnen. Draußen steht eine Hollywoodschaukel.

Brautpaare hören Rammstein und Britney Spears aus gemieteten Limousinen

Sotschi überrascht. Viel hat man zu den Olympischen Winterspielen bereits gehört, aber wie skurril und besonders es tatsächlich ist, das erlebt man nur vor Ort. In der Stadt, die wegen des subtropischen Klimas nur drei Jahreszeiten kennt (Frühling, Sommer, Herbst), gibt es ein Wintertheater. Vor den schönen 88 korinthischen Säulen lassen sich am Wochenende Brautpaare fotografieren. Aus den Boxen ihrer gemieteten meterlangen Limousinen tönen dazu Songs von Rammstein und Britney Spears. Anschließend geht die Festgesellschaft zu McDonald’s. Ein paar Meter weiter befindet sich die Bibliothek, die aussieht wie eine zu groß geratene Playmobilburg. Daneben eine Büste von Puschkin, dem bedeutenden russischen Schriftsteller. Er war nie in Sotschi. Überall Oleander, es riecht wunderbar. Blumen werden in einer Art Etagere dargeboten oder in Form von aufgestellten Plastiktafeln. Mit einer Seilbahn kann man hoch in Russlands größten Botanischen Garten fahren, das Dendrarium, und dann langsam an 1800 verschiedenen Baum- und Pflanzenarten vorbei hinunterwandern.

In Sotschi spielen Preise keine Rolle

Spannender ist ein Spaziergang entlang der Uferpromenade oder durch die Boutiquen. Viele hübsche Dinge sind nicht mit Preisen ausgezeichnet, denn Geld spielt in Sotschi keine Rolle. Vor alten Adelspalästen parken Bentleys und Porsche Cayennes. Es gibt eine Kopie des berühmten Hotels Negresco in Nizza, denn Sotschi wird gern als russische Riviera bezeichnet. Als weiteres Vorbild wird Baden-Baden gesehen. Gerade wurde ein Gesetz erlassen, das Spielen in der längsten Stadt der Welt (Groß-Sotschi misst 142 Kilometer) erlaubt. So will man mehr Touristen anlocken. Der erhoffte Olympia-Effekt blieb bislang aus: Zwei Drittel der Zimmer in den neu gebauten Bettenburgen stehen leer. Zum Glück dürfen keine weiteren Hochhäuser gebaut werden, das würde den Kurhauscharakter komplett zerstören. Einen positiven Effekt hätten die Winterspiele jedoch gehabt, erzählen die Einheimischen: Durch den Ausbau der Straßen gäbe es endlich kein Verkehrschaos mehr. Jetzt steht man nur noch im Stau, wenn Putin seinen Lieblingsort besucht und alle Straßen für seine Anreise gesperrt werden.

Rumänien ist das unbekannteste Europa

Sail West! Unsere Reise geht von Russland weiter in das 485 Seemeilen (fast 900 Kilometer) entfernte Rumänien. Das bedeutet einen ganzen Tag auf See, einmal quer über das Schwarze Meer, das als das unbekannteste Europas bezeichnet werden kann, weil es jahrtausendelang – zumindest von unseren Heimathäfen aus betrachtet – nicht zugänglich war. Erst seit 7000 Jahren besteht eine Verbindung zum Mittelmeer, seit dieses nämlich den Bosporus überschwemmte und sich in das tiefer gelegene Schwarze Meer, das zuvor ein Süßwassersee gewesen war, ergoss. Eine Verschmelzung biblischen Ausmaßes: Forscher vermuten, das es sich bei dieser Überflutung um die Sintflut handelte. Es ist durchaus ein himmlisches Gefühl, dort mit dem Kreuzfahrtschiff unterwegs zu sein, wo Noah seine Arche in eine bessere Zukunft steuerte. Noch heute ist der Salzgehalt des Schwarzen Meeres nur halb so groß wie der anderer Ozeane, und es gibt noch eine weitere biologische Besonderheit. Wie bei einem Kirschbananensaft, wo sich die Flüssigkeiten nicht wirklich mischen, liegt hier eine Wasserschicht auf der anderen: die salzarme, sauerstoffreiche auf der dichteren, salzhaltigeren. Dieses Deckeln führt in der Konsequenz dazu, dass das Tiefenwasser anoxisch wird, also keine Organismen existieren können. Das Leben findet nur auf den oberen 200 Metern statt, darunter liegt das schwarze Nichts. Und wir sprechen von wirklich viel schwarzem Nichts, denn es geht bis auf 2212 Meter hinab. Richtig schwarz wie der Tod ist das Meer vom Schiff aus betrachtet allerdings nicht, vielleicht ein wenig trüb, aber meistens doch so blau wie andere Meere. Woher kommt also der Name? In der Antike wurden Himmelsrichtungen mit Farben bezeichnet, Rot war der Süden, Gelb der Osten, Weiß der Westen und Schwarz der Norden, und so nannten die Menschen die Gewässer je nach Lage.

Am schwarzen Meer lebten die ältesten Völker der Welt

Nach der Sintflut ereigneten sich rund um das Schwarze Meer so viel Geschichte und Geschichten, dass es das Logbuch jedes Historikers sprengt. Die ältesten Völker der Welt lebten hier, wir befinden uns in der Wiege Europas. Griechen, Römer, Thraker und Osmanen, sie alle hinterließen ihre Spuren. In der rumänischen Hafenstadt Konstanza kann man gleich zwei spektakuläre archäologische Funde besichtigen. Zum einen das größte Mosaik Europas, zum anderen die berühmte Statue „Der Denker“. Das Fußbodenmosaik stammt aus dem dritten und vierten Jahrhundert nach Christus, es ist 2000 Quadratmeter groß, und die Blumenmotive und Muster mit räumlicher Wirkung lassen erahnen, wie schick die Römer ihre öffentlichen Plätze gestalteten. Der spektakuläre Eindruck wird ein wenig von dem bröckelnden Bauwerk geschmälert, das den archäologischen Schatz überdacht und eigentlich schützen soll. „So lieblos sollten wir nicht mit unserer Geschichte umgehen“, sagt Christian Dudu, der eine TV-Sendung für die deutsche Minderheit in Rumänien moderiert.

Der rumänische Bürgermeister hat keine Zeit, sich zu kümmern

Er hat anscheinend keine Angst vor Ärger, denn bei unserem Rundgang durch die Altstadt benennt er gleich den Verantwortlichen für die Misere. „Unser Bürgermeister hat leider keine Zeit, sich um solche Dinge zu kümmern. Er hat so viele wichtige Hobbys: lange Reisen unternehmen, Oldtimer sammeln, korrupte Geschäfte abwickeln.“ Christian Dudu glaubt außerdem, dass das Wahrzeichen Konstanzas, eine Statue von Ovid, deshalb so traurig zu Boden blickt, weil auf dem Platz drum herum nun schon seit einer gefühlten Ewigkeit gebaut werde. Doch der Dichter Ovid, der damals so bekannt war wie ein Rockstar, schaut vielleicht auch deshalb so betrübt aus der Wäsche, weil er von Kaiser Augustus aus Rom nach Tomis (so hieß Konstanza früher) verbannt wurde. Grund dafür könnte gewesen sein, dass Ovid seine Liebesgedichte gerne in die Tat umzusetzen pflegte, unter anderem vermutlich mit der Nichte des Kaisers.

Die Figuren stammen aus einer Zeit, von der wir nichts Schriftliches haben

Hinter Ovid liegt das Museum für Geschichte und Archäologie. 400.000 Exponate sind hier ausgestellt, das Highlight sitzt in einer Vitrine im ersten Stock und hält sich scheinbar grübelnd den Kopf: der Denker. Neben ihm (s)eine Frau, beide 7000 Jahre alt, ein Paar, dass sich schon vor so langer Zeit Gedanken machte – was mögen wohl ihre Probleme gewesen sein? Plagten sie Kopfschmerzen? Aspirin war leider noch nicht erfunden. „Mich berühren diese alten Figuren. Sie stammen aus einer Zeit, von der wir nichts Schriftliches haben, und ermöglichen einem Archäologen so viele Interpretationen“, sagt Gerrit Aust. Der Hamburger hat in den vergangenen 20 Jahren fast jeden zweiten Tag auf See verbracht. Die Schwarzmeer-Tour ist seine 386. Kreuzfahrt, viele Orte sieht der Historiker zum x-ten Mal, doch seine Begeisterung scheint taufrisch zu sein. Wenn er von Helden der Historie erzählt, wird es für die Zuhörer unterhaltsamer als in jedem Asterix-Comic. Aust arbeitete 17 Jahre am Museum für Hamburgische Geschichte, bevor er zur Seefahrt kam. Bei fast allen großen Kreuzfahrt-Unternehmen erweckte der 62-Jährige inzwischen als Lektor die unterschiedlichen Destinationen mit ihren Vergangenheiten zum Leben; zurzeit hält er Vorträge für AIDA-Gäste. Seine Wohnung in Eimsbüttel hat er vermietet. „Dafür beobachte ich mit eigenen Augen europäische Entwicklungen. In Mamaia zum Beispiel einen großen Aufschwung und einen Beweis für die positiven Effekte von Rumäniens EU-Beitritt.“

Hier ist einer der schönsten Strände des Schwarzen Meeres

Im Vorort Mamaia im Norden Konstanzas liegt einer der schönsten Strände des Schwarzen Meeres. Flaches Wasser, Lounge-Musik, Rettungsschwimmer in geringelten Ganzkörper-Badeanzügen. Über der Strandmeile verkehrt eine Seilbahn, darunter liegen Restaurants, Eisbuden und Geschäfte, die mit ungewöhnlicher Ware werben: „Kaufen Sie Waffen, Ausweis nicht erforderlich.“ Man hatte sich bereits am Hafen über die Anzeige gewundert „Bodyguard für 35 Euro am Tag zu mieten“. Ein Sicherheitsproblem existiert in der Stadt zwar nicht, doch ein großes Gefolge sieht wichtig aus, wenn man auf dicke Hose machen will. „Die dubiosen Dinge werden immer als Erstes aus dem Ausland übernommen“, erklärt Reiseführer Christian Dudu zum Abschied. Die sinnvollen werden folgen.

Der Strand, der Meerespark und die frisch renovierte Fußgängerzone sind voller Leute

Von Konstanza bis Warna in Bulgarien, dem nächsten Reiseziel der Kreuzfahrt, sind es nur 92 Seemeilen. Varna gilt als unentdeckte Perle der Schwarzmeerküste, doch in diesem Sommer lernen sie weitaus mehr Touristen kennen als sonst. Aufgrund der Krimkrise änderten viele Kreuzfahrtunternehmen ihre Route und laufen nun das bulgarische Warna anstatt Odessa und Jalta auf der Krim an. Des einen Leid, des andern Freud. 20 Schiffe waren für 2014 vorgesehen, jetzt laufen 44 den bulgarischen Hafen an. Der Strand, der Meerespark und die frisch renovierte Fußgängerzone sind voller Leute. Es riecht herrlich, Bulgarien ist der größte Rosenölproduzent der Welt. Zum Duft kommt der Geschmack: Hier liegen die ältesten Weinanbaugebiete der Welt. Und dann die Kultur: Fast jeden Abend finden Konzerte und Theatervorstellungen in Warna statt, das sich als Kulturhauptstadt 2019 bewirbt. Die Ruinen der römischen Thermen werden bereits eifrig restauriert. Die altertümlichen Toiletten sehen besser aus als viele von heute. „Dafür mussten gleich drei oder vier Leute nebeneinander sitzen“, sagt Tihomir Patarinski von der Reiseplattform GetyourGuide. Er erklärt, warum seine Landsleute Deutsche so mögen: „Wir hatten drei deutsche Fürsten, das verbindet.“ Bei der Fußball-Weltmeisterschaft hätten alle hier die Daumen für das deutsche Team gedrückt. Danke, Bulgarien!

Hier entstand das erste Gold der Menschheit

Die Sensation der Stadt Warna ereignete sich im Oktober 1972, als bei Bauarbeiten ein Gräberfeld aus der Kupferzeit gefunden wurde. Es stammt aus den Jahren 4600 bis 4200 vor Christus, und darin lag das Skelett eines Fürsten mit fast 3000 Gegenständen als Grabbeilage, allesamt aus Gold, insgesamt sechs Kilo schwer. Ketten, Ringe, Piercings, Zepter. Das erste Gold der Menschheit. Ausgestellt ist der älteste Schatz der Welt im Archäologischen Museum. Er strahlt durch die Sicherheitsscheiben, und genau wie schon bei Konstanzas Denker läuft die Fantasie zur Höchstform auf. Wer war dieser Mann wohl? Ein Weinproduzent? Ein Händler, der das Gold im Tausch gegen Salz erhielt, das damals mindestens genauso viel wert war wie Gold und Wachs? Ein Vorfahre von Bram Stokers „Dracula“, der sich und seinen Sarg der Novelle nach von Warna aus nach London verschiffen ließ?

Kreuzfahrten können einen nicht nur über die Meere führen, sondern auch in die letzten Winkel der Vorstellung.