Von wegen langweilig: Hannover überrascht mit liebenswerten Szenevierteln, einem großartigen Erlebnis-Zoo und vielen grünen Attraktionen.

Zehn Schritte aus dem Hauptbahnhof heraus, und Ernst, der Grüß-August, schaut vom hohen Ross herab, seit mehr als 150 Jahren schon. Bei ihm, dem einstigen König von Hannover und Onkel der britischen Queen Victoria, treffen sich die Einwohner auch heute noch am liebsten, „unterm Schwanz“, wie sie sagen. Nur ein paar Hundert Meter nach Süden, und der nächste populäre Treffpunkt ist erreicht: der Kröpcke. Ein Platz, eine Uhr, ein Café, allesamt benannt nach einem Ober, der das Kaffeehaus Robby, in dem er vorher bedient hatte, im Jahre 1885 pachtete und ihm bald darauf seinen Namen gab.

Zwischen König und Kellner: Hannover, wie es tickt und rotiert, an manchen Stellen grau und bieder, daneben aber so bunt und schräg, dass sich die Augen reibt, wer lange nicht an der Leine war. Niedersachsens Hauptstadt, immer noch unterschätzt, auch noch manchem Vorurteil ausgesetzt, scheint sich einerseits treu geblieben und hat sich doch neu erfunden nach der Jahrtausendwende, als die Expo das Halbmillionendorf wachküsste.

Der Stadtwald Eilenriede ist doppelt so groß wie New Yorks Central Park

Die Stadt, nicht einmal ein Drittel so groß wie Hamburg, wirkt wie ein kompaktes Universum. Das ist ein Vorteil für Besucher: Vom Kröpcke zur Marktkirche, dem südlichsten Juwel norddeutscher Backsteingotik, vom Hohen Ufer, einer Keimzelle der Stadt am Fluss, zum Goldenen Winkel, einer Altstadt-Idylle im Kreuzkirchen-Viertel, von der Markthalle, noch so ein Lieblingstreff der Hannoveraner, zum Leineschloss, in dem seit 1962 der Landtag residiert, ist es jeweils nur ein gemütlicher Spaziergang.

Auch die Attraktionen am Rande der City sind mit der quietschgrünen Stadtbahn oder der U-Bahn schnell erreicht, der Zoo, der Maschsee, die Herrenhäuser Gärten und die ganz unterschiedlichen Szeneviertel List und Linden. Und die Eilenriede, der Stadtwald, den die Hannoveraner lieben wie die Hamburger ihren Hafen und der mit 646 Hektar fast doppelt so groß ist wie der Central Park in New York.

Hannover für Erstbesucher: mit dem Hop-on-hop-off-Bus die Highlights abfahren, morgens gegenüber von Ernst-August einsteigen, am besten erst mal eine Runde drehen, vorbei am Erlebnis-Zoo, am Alten und Neuen Rathaus, am Nordufer des Maschsees, quer durch die City bis an die Lister Meile und zurück zum Bahnhof. Bei der zweiten Fahrt dann das System nutzen: hier und da aus- und später wieder einsteigen, zum Beispiel in der Halle des Neuen Rathauses die vier Stadtmodelle bestaunen, die besser als jeder Reiseführer Geschichte erzählen, von den Anfängen im Mittelalter über die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg bis hin in die Gegenwart.

Spektakuläre Aussicht auf der Plattform des Neuen Rathauses

Und die ist mancherorts so spektakulär wie der Weg auf die Aussichts-Plattform des Neuen Rathauses. Das Gebäude, wilhelminische Epoche, eher Schloss als Rathaus, imponiert in mehrfacher Hinsicht. Der Lift bis zur Patina-Haube gilt den Hannoveranern als kleines Weltwunder: Erst schnurrt er wie jeder Aufzug senkrecht nach oben, dann folgt er schaukelnd der Neigung der Kuppel, in einem Winkel von 17 Grad.

Aus fast 100 Metern erschließt sich die Stadt: viele Bausünden aus den 70ern, durchsetzt mit herausragenden Preziosen. Zum Beispiel das skurril-verrückte Gebäude der Nordbank, das Touristen oft als „LKA-Arbeitsplatz“ von TV-Kommissarin Lindholm alias Maria Furtwängler erkennen, auch das Museum August Kestner, ein Würfel mit einem Gitter aus 5000 Fenstern, oder das futuristisch gestaltete Sprengel-Museum, ein Wallfahrtsort für Liebhaber moderner Kunst. Die Pilgerstätten für Shopper und Flaneure verteilen sich auf Deutschlands größte Fußgängerzone und ihre Nebenstraßen, alle in Bahnhofsnähe: Jedermanns-Geschäfte an der Schiller- und der Bahnhofstraße, Malls in den Galerien Ernst-August und Luise, Nobelboutiquen an der Georgstraße, deren Name, wie so viele in der Welfen-Metropole, an die gemeinsame königliche Vergangenheit mit England erinnert.

123 Jahre regierten die Welfen an Leine und Themse

Very british heißt denn auch das Motto eines Jubiläums, mit dem derzeit die Personalunion mit den Royals von der Insel gefeiert wird. Vor 300 Jahren, mit Kurfürst Georg Ludwig/King George I, begann die Connection. Immerhin 123 Jahre und fünf Könige lang regierten danach die Welfen gleichzeitig an Leine und Themse.

Hannover für Fortgeschrittene, für Szenegänger und Safarijäger, für Nostalgiker und Nachtschwärmer, von den Kirchen in der Altstadt zu den Kneipen in den Kult- und Multikulti-Quartieren. Auftakt in den protestantischen Leuchttürmen in der Altstadt. Ein Altarbild von Lucas Cranach in der Kreuzkirche, ein Rundgang durch die Marktkirche, deren „schlichte Wucht und ruppige Großartigkeit“ schon vor Jahrzehnten von Dieter Oesterlen, einem der Architekten des hannoverschen Wiederaufbaus, gelobt wurde

Safari in der Steppe und grüne Pracht in den Herrenhäuser Barockgärten

Im Fachwerkviertel zwischen den beiden Gotteshäusern lässt sich biedermeiersche Gemütlichkeit genießen, im urgemütlichen Teestübchen bei Darjeeling oder bei türkischer Hausmannskost in der Kreuzklappe, dem ältesten Gasthaus der Stadt. Auch ein paar Hundert Meter östlich stößt kuschelige Romantik auf exotisches Abenteuer: der Hannover-Zoo, Deutschlands viel gelobter Vorzeige-Tierpark, bietet eine einzigartige Show mit ökologisch korrekter Kulisse.

Safari mit dem Flussdampfer, einmal um die Ecke geschippert, und da grasen sie schon, die Zebras und Giraffen. Nächste Kurve: Flamingos und Marabus zwischen Lehmhütten. Erlebnis-Zoo nennt sich das Konzept. Und es funktioniert, in der Felslandschaft der Berberlöwen so gut wie bei den Bisons und Goldgräbern am Yukon, bei den Elefanten im Reich der Maharadschas und im ebenso märchenhaften Kinderland Mullewapp. Sogar das Ambiente der Toiletten ist dem jeweiligen Mottopark angepasst.

Ein Barockparadies der schönen Sophie

Aus der Steppe in den Großen Garten von Herrenhausen, ins grüne Barockparadies der schönen Sophie. Der Traum, den sich die Kurfürstin im 17. Jahrhunderts mit elegantem Labyrinth, Kaskaden und Grotte erfüllte, macht die Besucher bis heute glücklich. Thomas Amelung, Chefgärtner seit 15 Jahren und Alltagsphilosoph von Haus aus, betrachtet „seine“ grüne Pracht wie das Leben: Was eben noch geblüht hat, ist längst von anderen Farben abgelöst, etwa der gelb leuchtende Ahorn des Frühlings von der sommerlichen Vielfalt der Rosen.

Noch bunter ist die Szene im Stadtteil Linden, einem ehemaligen Arbeiterviertel, heute Zentrum gemäßigt- alternativer Lebenskunst: ein bisschen Ottensen, ein Hauch von Schanze. Man geht nicht einfach so die Hauptachse Limmerstraße entlang, vielmehr „limmert“ man sich durchs Viertel, startet zum Beispiel am Küchengarten mit einem Astra (!) im kultigen 11 A oder, einen Platz weiter, mit einem besseren Tropfen bei Frau Weiß in der Wein- und Lachbar, schaut in die netten Läden an der Stefanusstraße und verliert sich irgendwann im Bermudadreieck zwischen den autonomen Kulturzentren Glocksee und Faust.

Nach dem „Limmern“ in Linden Lüttje Lage in den Lister Kneipen

Fast alles an Hannover hat menschliches Maß: die Szeneviertel wie die restaurierte Altstadt-Idylle oder die Attraktionen in den Prachtgärten, im Zoo und im großen Grüngürtel. Urbanität und lebendige Stadtteilkultur prägen das Lebensgefühl dieser Großstadt jedoch am sympathischsten im gutbürgerlichen Viertel List.

Das Quartier, mitsamt der angrenzenden Oststadt, atmet viel Flair und zeigt wenig Schickimicki: Gründerzeit- und Jugendstilhäuser zwischen Weißekreuz-, Wedekind- und Lister Platz, Bio- und Flohmarkt auf der fast zwei Kilometer langen Lister (Fußgänger-)Meile, der Lebensader dieser netten Nachbarschaft. Hier ein paar Experimente, zum Beispiel bei den wilden Köchen im Restaurant Boca, dort alteingesessene Tradition, von Enzos Rumpelkammer, einer Gasthaus-Institution, die auch Udo Lindenberg seit Jahren schätzt, bis hin zu Plumecke, der „Mutter aller Kneipen“, wo sich früher unter anderem Gerhard Schröder und seine Freunde gern mal eine Currywurst gegönnt haben.

Während der Messen wird es eng und teuer

Wer die Stadt allerdings zu Zeiten der großen Messen aufsucht, ist selbst schuld. Eng und teuer wird es dann fast überall. Auch für das Schützenfest, das sich mit dem Etikett „weltgrößtes“ schmückt, muss die Reise nicht unbedingt angetreten werden; die Lüttje Lage – Bier und Korn wird aus zwei Gläsern gleichzeitig gekippt – schenken die Wirte in List, Linden und anderswo sowieso das ganze Jahr über aus.

Hannover mag provinziell nennen, wer mag. Spätestens auf den zweiten Blick erschließt sich der Charme dieser liebenswerten Metropole, die sich längst gehäutet hat. Die Zeiten, als am Leibnizufer Skulpturen von Niki de Saint Phalle einen Kulturkampf ausgelöst haben, liegen 40 Jahre zurück. Der Zwergenaufstand ging übrigens aus wie seinerzeit bei Ernst August, den seine Untertanen auch nicht mochten – und der doch immer noch fest im Sattel sitzt, unübersehbar wie Nikis dralle Nanas. Die Künstlerin hat es im Expojahr 2000 sogar zur Ehrenbürgerin gebracht. Vielleicht hat ja der Glossenschreiber recht, der in der lokalen Zeitung feststellte: „Hannover ist eine irrwitzige Stadt, jedenfalls manchmal.“