Einer für alle, alle für einen: Zu Besuch in der Gascogne, Heimat jenes Musketiers, das reales Vorbild für die Literatur war

Bei d’Artagnan ist niemand zu Hause: alles dunkel, keiner am Tresen, die Tür abgeschlossen, die Glasscheiben ein bisschen angelaufen, die Plakate an der Hauswand ausgeblichen. Josette Ribeiro hat dichtmachen müssen, ihr Gasthaus „Auberge d’Artagnan“ mitten im 312-Einwohner-Örtchen Lupiac in der Gascogne schon vor über vier Jahren geschlossen. Seitdem sucht sie einen neuen Pächter. Oder einen Käufer. Jemanden, der das kleine Hotel mit Bar und Gaststube im Geburtsort des legendären Musketiers d’Artagnan mit neuem Elan wiedereröffnen mag und darauf setzt, dass schon bald mehr Fremde hierher kommen werden – in den bäuerlichen Landstrich mit seinen sanften Hügeln, den saftigen Weiden und den Weinfeldern im Pyrenäen-Vorland weit im Westen Frankreichs.

Eines Tages, hoffen die Leute in Lupiac, werden die Kurzurlauber endlich kommen, auf Rundreise gehen und dabei immer auf den Spuren jenes berühmtesten Sohnes der Gegend unterwegs sein. Charles de Batz jedenfalls, genannt d’Artagnan und geboren irgendwann zwischen 1610 und 1612 auf Schloss Castelmore vor den Toren Lupiacs, ist das reale Vorbild des literarischen Leibwächters von König Ludwig XIII., den Alexandre Dumas mit wehendem Umhang, flottem Degen und der richtigen Portion Lausbuben-Charme durch seinen Roman „Die drei Musketiere“ fechten lässt. 128-mal ist die Story bereits in wechselnden Besetzungen verfilmt worden – anfangs mit Douglas Fairbanks in der Titelrolle, zuletzt als Hollywood-Kassenschlager mit Orlando Bloom und Milla Jovovich.

Einmal im Jahr tragen die Bewohner selbst geschneiderte historische Kleider

Ob in Frankreich selbst, anderswo in Europa, in den Hinterhöfen Amerikas oder den Vorstädten Fernosts kämpfen Jungs mit Holzschwertern und Plastik-Degen im Kostüm ihres Idols – bis sie irgendwann aus der Maskerade herauswachsen und neue Helden finden. Von Lupiac aber hat noch kaum einer gehört. Das soll sich ändern. Denn Régis Meyer, einer von Frankreichs führenden D’Artagnan-Experten, und Josette Ribeiro haben jeden im Dorf, der mitmachen wollte, gerade neu eingekleidet. Jeder besitzt nun ein historisches Kostüm – und zeigt sich darin einmal im Jahr: wenn alle auf den Place d’Artagnan mit dem alten Brunnen im Ortszentrum treten, vor die Fachwerkhäuser, unter die mittelalterlichen Arkaden an der Rue des Mousquetaires, egal wohin.

Denn jeden Sommer steigt nun das D’Artagnan-Festival, am 9. und 10. August 2014 zum dritten Mal. Es soll Lupiac nach und nach auf die Landkarte heben, für neue Jobs sorgen und, ganz nebenbei, dabei helfen, einen neuen Betreiber für das Dorfgasthaus zu gewinnen. Ehrenamtlich haben die Frauen des Ortes monatelang an den Kostümen geschneidert. In den Räumen eines lange leer stehenden Geschäfts nähten sie hinter großen Fenstern zum Hof aus Altkleidern, aus Bettwäsche und Gardinen – jedes einzelne nach Maß, 90 Prozent in der Machart der Landbevölkerung von damals, zehn im Stil des Adels. Vorne im Schaufenster hängt, mit Namenszetteln versehen, was verschenkt wird: das neue weiße Kostüm mit Rüschen für Claudette, die das nächste Mal als Bürgerfrau zum Fest geht. Daneben schaukelt bereits die derbe Weste aus Sackleinen für Didier zusammen mit einem Hemd, das mal eine dunkle Tischdecke gewesen sein wird. Er geht künftig als Landarbeiter. Und jeden Tag, an dem die Nähmaschinen der Ehrenamtlichen hier weiter surren, kommen neue Accessoires hinzu. Josette Ribeiro unterdessen strahlt: „Nach dem Fest ist vor dem Fest.“ Die zurückhaltende Ex-Wirtin der Auberge d’Artagnan freut sich an ihrem neuen Blümchenkleid mit Schürze und weißer Haube – entstanden fast durchweg aus einer ausgemusterten Tischdecke.

Wenn es wieder so weit ist, wird das ganze Dorf für Autos gesperrt werden, alles ein knappes Wochenende lang so aussehen wie zu d’Artagnans Lebzeiten. Aus Paris wird eine kostümierte Fechter-Truppe kommen, dazu ein Trupp Schaureiter, während die Barock-Musikanten sich wiederum aus den Einwohnern rekrutieren werden. Andere Leute aus dem Dorf werden kochen, backen und an Ständen all das verkaufen, was es Mitte des 17. Jahrhunderts auch schon gab und was noch heute perfekt ins Ambiente passt.

Die Verfilmungen sind eine Verbeugung vor Ehrgefühl und Mut der Musketiere

Warum das alles? Weil die Arbeitslosigkeit hoch ist. Weil das Dorf eine Attraktion braucht, auffallen will – und offenbar allein dadurch, dass es malerisch ist, nicht genügend Menschen von anderswo anzieht. Ein liebevoll ausstaffiertes D’Artagnan-Museum in einer alten Kapelle und ihrem Nebengebäude am Ortseingang gibt es bereits – mit Souvenirshop, wo Kinder Plastiksäbel für zehn, Schilde für zwölf oder eine goldene Königskrone aus Kunststoff für acht Euro erstehen oder sich der Einfachheit halber gleich von den Eltern schenken lassen können.

Yves Rispat sieht dem Fest jedes Mal gelassen entgegen. Ob er mitmachen wird? „Na klar“, sagt er. Dabei ist ihm d’Artagnan auch an jedem anderen Tag des Jahres nahe. Schließlich wohnt er in dessen Haus, ist heute der Schlossherr im Château Castelmore, wo jener Charles de Batz vor gut 400 Jahren zur Welt gekommen ist. Über seine Jugend weiß man wenig, aber überliefert ist, dass er ab 1640 in den Annalen der Musketiere auftaucht. Zwei seiner Onkel hatten dem König bereits zuvor in dieser Funktion gedient, und weil ein bekannter Name von Vorteil ist, nannte er sich fortan nach der mütterlichen Linie der Familie ebenfalls d’Artagnan. In der Hauptstadt hatte das auf Anhieb mehr Klang als „de Batz“. Er brachte es zum Leibwächter des Königs, zum Anführer der Musketiere und fiel am 25. Juni 1673 in der Schlacht von Maastricht. Warum Dumas die Handlung seines Musketier-Romans, der 1843/44 erstmals erschien, unterdessen in der Zeit um gut 20 Jahre nach hinten versetzte und am Hofe König Ludwigs XIII. und dessen Widerpart Kardinal Richelieu spielen ließ, ist nicht bekannt.

Er jedenfalls war es, der d’Artagnan damit dieses Denkmal setzte. Und die Filmemacher des 20. Jahrhunderts waren es, die es mit ihren Kino-Adaptionen immer wieder aufs Neue polierten. Auch für liebevollen Spott war dabei Platz – vor allem in einer erfolgreichen Fernsehverfilmung mit Michael York, Oliver Reed und Raquel Welch. Dort wird immer wieder über Rauflust und Trinkfestigkeit der Gascogner gescherzt, über ihre in der Hauptstadt so unpassende Bäuerlichkeit. Zugleich ist der Film eine Verbeugung vor ihrem ausgeprägten Ehrgefühl und ihrer Tapferkeit. Régis Meyer, Josette Ribeiro und all die anderen können deshalb bestens mit diesen Klischees leben.

Wie sich unterdessen das Leben als Schlossherr für Yves Rispat anfühlt? Er lacht. „Wie jedes andere auch. Nur wenn wir in der gut 100 Quadratmeter großen Küche mit vielen Gästen feiern, ist es wahrscheinlich wie damals. Der Raum ist noch erhalten wie zu d’Artagnans Tagen – mit denselben Tischen und Bänken. Und einem Kamin, in dem man eine komplette Kuh grillen kann.“

Was zwischen den Events bleibt, sind die frisch gestrichenen Fassaden am Platz, ist das restaurierte Rathaus – und es ist der Gemeinschaftsgeist, dieses Einstehen füreinander, diese Bereitschaft, das Schicksal selber in die Hand zu nehmen und für den eigenen Ort zu trommeln. Mit ein bisschen Glück findet sich sogar daraufhin bald jemand, der Josette Ribeiro nach dem Schlüssel für die Auberge d’Artagnan fragt und den stillgelegten Gasthof übernehmen will. Damit künftig auch außerhalb des Festes im August Fremde nach Lupiac kommen und hier übernachten können.