Alberto Toso hörte sich viele gespenstische Geschichten der älteren Generation an, sammelte sie – und hat mittlerweile mehrere Bücher veröffentlicht

Plötzlich fängt es ganz heftig an zu schütten. Blitze zucken. Donner bollert im dunkel verhangenen Himmel über Venedig. Ausgerechnet jetzt! Wenn man es nicht besser wüsste, würde man es für eine Inszenierung aus einem Gruselfilm halten. Oder für einen billigen Spezialeffekt. Heute aber ist die ungemütliche, aufgeladene Wetterlage reiner Zufall, als Alberto Toso Fei mit seiner Tour beginnt: Sie passt nur zu gut zu den Geistern, Legenden, übernatürlichen Begebenheiten, von denen er beim abendlichen Spaziergang durch die Lagunenstadt erzählen will. Seit vielen Jahren beschäftigt sich der Autor mit mysteriösen Geschichten, für die Venedig idealer Ort ist. Die engen Gassen, das schummerige Licht, das samtig schwarze Wasser der Kanäle, die manch dunkles Geheimnis in sich tragen – die Atmosphäre befeuert schließlich seit jeher intensiv die Vorstellungskraft.

Irgendwann stellte der Venezianer Toso Fei fest, dass diese Geschichten verloren gehen würden, weil sie niemand aufgeschrieben hatte – und so begann er, alte Venezianer und Venezianerinnen aufzusuchen, hörte ihren Erzählungen zu, schrieb sie auf und sammelte sie. In seiner Kindheit sei es ganz normal gewesen, den alten Leuten zuzuhören. „Heutzutage ist das viel seltener der Fall, die schönen Geschichten drohen mit den älteren Generationen zu verschwinden“, sagt er. Er führt die Traditionen des Erzählens fort, zum Beispiel abends, wenn sein vierjähriger Sohn Giacomo an seinen Lippen hängt und aufmerksam den venezianischen Geschichten zuhört.

Dass er einmal zum Retter der Legenden werden und aus seinen Gesprächen ein Buch werden würde, wurde ihm erst klar, als er fast ein Jahrzehnt Geschichten gesammelt hatte. Inzwischen hat er mehrere Bücher veröffentlicht. „Ich gebe sie dem Ort zurück, an dem sie entstanden sind, und schaffe so einen literarischen Pfad durch die Stadt“, sagt der 47-Jährige. „Man läuft vorbei an Steinen voller Geschichte und reich an Geschichten – man kann ihnen zuhören, wenn man Ohren dafür hat.“

Auf seinem Rundgang durch ruhige Gassen abseits von Markusplatz, Rialtobrücke und Touristenströmen kann er nur einen Bruchteil davon erzählen. Mehrere Hundert befinden sich inzwischen in seinem Archiv. Heute geht es um ein Mädchen, das nach einem tödlichen Unfall mit einer Gondel nicht gefunden wurde und dessen Sarg angeblich manchmal im Nebel an der Fondamente Nove erscheint.

Es geht auch um den Maler Tintoretto, der eine Hexe in die Flucht schlug. Und um einen jungen Levantiner, der seiner Mutter aus Wut das Herz herausriss und sich dann in der Lagune ertränkte. An kalten Wintertagen soll sein leises Klagen zu hören sein und seine Sehnsucht nach der einzigen Sache, die ihn wärmen kann: das Herz seiner Mutter. Visionen, Geister und Erscheinungen kommen in den Geschichten vor, denen meist ein wahres Ereignis zugrunde liegt. Sie faszinieren gerade aufgrund ihrer finsteren Seiten und sind trotz der Brutalitäten und Verzweiflungen, die darin immer wieder vorkommen, seltsam berührend.

Toso Fei stammt aus einer alteingesessenen Familie traditioneller Glasmacher auf der Insel Murano. Dass er in Venedig aufgewachsen ist, bezeichnet er als magisch. „Wenn man Kind ist, weiß man gar nicht, wie viel Glück man hat, denn das Leben ist für einen ganz normal“, sagt er. „Erst später wird einem klar, dass dieses Leben etwas Besonderes war.“ Heute lebt er immer noch in Venedig – in einem kleinen Haus in einem versteckten Hof, ganz in der Nähe des Tintoretto-Hauses. Er pendelt mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn aber auch immer wieder nach Rom. Dort hat er ebenfalls bereits nach alten Geistergeschichten geforscht und ein Buch herausgebracht.

Das Familienhandwerk wollte und musste Toso Fei allerdings nicht fortführen. „Ich wurde wie mein Bruder nicht dazu gedrängt, Glasmacher zu werden“, sagt er. „Wir konnten unseren eigenen Weg finden.“ Und der führte ihn nach der Schule auf die Nautico Venetia, die Nautik-Schule seiner Heimatstadt. Beinahe wäre er Schiffskapitän geworden, doch dann entschied er sich zu studieren: Psychologie in Padua und Geschichte in Venedig. Statt den Abschluss zu machen, fand er nach einiger Zeit heraus, was er wirklich wollte. „Ich habe Tausende Bücher gelesen und mir meine ganz eigene Ausbildung gegeben“, erinnert sich der Autor, der seit vielen Jahren als Journalist für Zeitungen arbeitet und in unterschiedlichste Projekte involviert ist – wie das von ihm organisierte Festival „Veneto: Spettacoli di Mistero“, das der Region Venetien und deren Geheimnissen gewidmet ist.

Seine Geistertour hat inzwischen einige Nachahmer gefunden. Persönlich führt er nur noch hin und wieder Touren, auf denen er eine geheimnisvolle Atmosphäre erzeugt, die an die Zeit erinnert, in der man als Kind den Märchen der Großeltern zuhörte. Oft sind es Details im Stadtbild, die Spuren zu seinen Legenden legen. Dinge, die man eigentlich übersieht, die Venedig nach der Tour aber mit ganz anderen Augen erscheinen lassen.