Wanderer schwärmen von La Palma, dem nordwestlichsten Eiland der großen Kanaren mit 850 Kilometern Wegenetz – Massentourismus gibt es hier nicht

Plötzlich steht er da, inmitten in der Caldera de Taburiente, dem Nationalpark La Palmas, und schaut gedankenverloren in die Ebene: Ein kanarischer Viehhirte, in den Händen sein Regatón, ein mehrere Meter langer Holzstab, der dazu dient, in dem gebirgigen Gelände die Terrassen zu überspringen und auf eine tiefer gelegene Ebene zu gelangen. Doch weder Ziegen noch Schafe begleiten ihn, und schnell wird klar, dass die Caldera doch nicht mehr ganz so ursprünglich ist, wie es kurzzeitig den Anschein machte. Der WDR hatte sich angekündigt, um „So schön ist La Palma“ zu drehen, und den Hirtenspringer kurzerhand an den Kraterrand bestellt.

Doch derartige touristische Inszenierungen sind auf der nordwestlichsten der sieben großen kanarischen Inseln die Ausnahme. La Palma ist im Vergleich zu ihren Nachbarn weitgehend authentisch und unverfälscht geblieben und kann sich damit brüsten, den Besuchern auf engstem Raum vielfältige Landschaftsformen mit meist üppiger Vegetation zu präsentieren. Wanderer schwärmen von dem Eiland, das etwas kleiner als Hamburg ist, aber nur rund 85.000 Einwohner verkraften muss. Und die Zahl sinkt weiter, da viele junge Menschen keine Arbeit finden und aufs spanische Festland auswandern.

Autos sind selten. Auf La Palma wird zur Begrüßung gehupt, nicht aus Ärger

Um einen Eindruck von der Geologie der Insel zu vermitteln, bietet sich ein weiterer Vergleich zur Elbmetropole an: Um Hamburg einmal mit dem Auto zu umrunden, müssen selbst bei dichtem Verkehr kaum mehr als zwei Stunden veranschlagt werden. La Palma auf der Küstenstraße zu umfahren, wird dagegen auch ohne große Pausen zu einem etwa zehnstündigen Tagestrip – eine Serpentine folgt der nächsten. Verkehrsaufkommen gibt es dagegen kaum. Ab und an versuchen sich Gruppen von Mountainbikern auf dem schwierigen Gelände, Autos sind selten. Auf La Palma wird gehupt, um sich zu begrüßen, nicht um sich zu beschweren. „Wir bevorzugen das ruhige Leben“, sagt Jojo, der seit Jahrzehnten als Busfahrer auf dem Eiland lebt. Das stimmt wohl, denn außerhalb der großen Feste wie dem jährlichen Karneval im Frühjahr ist die Gelassenheit das höchste Gut der Insulaner. Seit 2009 ist eine Art Inselautobahn im Bau, doch ob die Schnellstraße jemals fertiggestellt wird, ist ungewiss – sie wird schlichtweg nicht benötigt. Denn die „grüne Insel“ schreit förmlich danach, fußläufig erkundet zu werden.

Wanderrouten gibt es zuhauf, viele mit ambitioniertem Schwierigkeitsgrad. Der Nationalpark mit Pinien, Weiden, Lorbeerbäumen und einer Reihe von endemischen, also nur auf dieser Insel vorkommenden Pflanzen ist eine der schönsten Touren durch eine großartige Naturlandschaft. Vor allem die wilden Drachenbäume, die als heilig verehrt werden, gelten als Markenzeichen der Insel. Da die Landwirtschaft auf La Palma jedoch immer noch eine tragende Rolle spielt, bestimmen die zahlreichen Bananenplantagen in Höhenlagen unter 400 Metern das Bild der Insel. Diese können zwar auch mit sattem Grün aufwarten, wirken aber leicht monoton und optisch wenig einladend, wenn sie mit feinen Netzen zu Gewächshäusern abgedeckt werden. Doch wer sich an die naturbelassenen Areale hält, wird nicht enttäuscht.

Das nie enden wollende Grün hat einen Grund: Vor allem in den Wintermonaten regnet es häufiger, und wenn, dann oft abenteuerlich. „An einem Tag im Dezember fiel halb so viel Niederschlag wie in Hamburg in einem halben Jahr“, erzählt der Deutsche Andreas Wallner, den es 2001 auf die Insel verschlug und der seitdem als Reiseführer für Wikinger Reisen arbeitet. „Dennoch fällt die Temperatur zumindest in tieferen Lagen selten unter 20 Grad, die Insel des ,ewigen Frühlings‘ trägt ihren Beinamen also zu Recht.“

Wen es nach erfrischenden Temperaturen dürstet, der sollte einen Ausflug auf den Roque de los Muchachos unternehmen, den mit 2426 Metern höchsten Berg der Insel. Noch im Frühjahr kann dort Schnee liegen, das Wetter wechselt oft im Zweistundentakt. Es kann durchaus sein, dass auf Meeresebene in der Sonne gefühlte 30 Grad herrschen, auf dem Gipfel bei Wind Minusgrade wie im Skiurlaub. Dann sind Wanderungen entlang des Calderarandes nur etwas für Hartgesottene, doch bei heiterem Himmel gibt es wohl kaum Eindrucksvolleres, als die großartige Aussicht über die Insel genießen zu können und in den größten Erosionskrater der Welt. Die Anfahrt mit den 455 S-Kurven führt allerdings oft zu leichtem Unwohlsein. Nicht selten begleitet einer der zahmen Rabenvögel dort oben die Wandergruppen, um sich bei der Aussicht auf Kekse gerne auf den Schultern der Touristen niederzulassen und auf diese Weise energiesparend „mitzuwandern“.

Wer sich viel bewegt, benötigt ab und an eine üppige Mahlzeit, um zu neuen Kräften zu kommen. Um es dezent zu formulieren: La Palmas Küche zählt nicht unbedingt zu den Pilgerstätten der Gourmets. Die kanarische Nationalspeise heißt Gofio: ein Brei aus geröstetem Getreide, der zu allen Mahlzeiten in verschiedenster Form gereicht wird. Er soll Energie geben und erfüllt damit auch für Wanderer seinen Zweck. Der deutsche Gaumen würde den Gebrauch der Paste jedoch eher im Hausbau als Zementersatz vermuten. Doch wer Ziege oder Kaninchen mag oder sich an den frischen Fisch und die typischen Tapas der Insel hält, wird nicht vor Hunger sterben – und zusammen mit einem der durchaus guten einheimischen Weine kann aus jeder Mahlzeit auch ein Vergnügen werden.

Satt und gestärkt empfiehlt sich ein Besuch von San Andrés, dem angeblich schönsten Dorf der Insel, im Nordosten gelegen. Die mit Natursteinen gepflasterten Straßen scheinen direkt ins Meer zu führen. Eine von Blumenrabatten eingerahmte Promenade führt zur Naturschwimmbecken-Anlage Charco Azul – durch Felsen abgetrennte Bassins, in denen das Schwimmen in kristallklarem Wasser ohne Wellen und Strömungen möglich ist. Nur einen Katzensprung entfernt liegt die inseleigene Rumbrauerei, deren Zuckerrohrschnäpse wirklich zu empfehlen sind.

Der Süden La Palmas bietet ein komplett gegensätzliches Bild zum grünen und vielfältigen Norden. Die Natur wird karger, die Wanderrouten führen an bizarren Vulkanlandschaften vorbei, die an Lanzarote erinnern. 1971 fand der letzte große Ausbruch in der Nähe von Fuencaliente statt. Der dadurch entstandene 438 Meter hohe Vulkan Teneguía sollte eigentlich rund 40 Jahre später wieder ausbrechen – in gewisser Weise also ein Spiel mit dem Feuer, auf den erstarrten Lavaströmen und Aschefeldern zu laufen. Heiße Felsspalten und Schwefelgeruch zeugen noch immer von der letzten Eruption. Aber vor allem abseits der angelegten Wanderpfade ist die Zivilisation teils überhaupt nicht wahrzunehmen. Ein erhabenes Erlebnis.

Diese Beispiele sollen nur als kleiner Eindruck dienen, was es auf dem insgesamt 850 Kilometer langen Wegenetz La Palmas zu entdecken gibt – und was vielleicht einigen Urlaubern zu kurz kommt. Denn mit ausgiebigen oder strahlend weißen Stränden kann das Eiland ebenso wenig dienen wie mit Luxusunterkünften, und auch die abendliche Unterhaltung abseits der Hotels beschränkt sich meist auf ein paar urige Kneipen und Bars. Massentourismus findet auf La Palma nicht statt. Aber das ist auch gut so, solange die Ursprünglichkeit dieser Insel der Gegensätze bewahrt werden soll.