Künstler und Handwerker profitieren von günstigen Mieten im mittelalterlichen Viertel, das mit menschenvollen Fußgängerzonen nichts zu tun hat.

Wer nur den schwarzen Schlangen zur Església de Santa Maria del Mar folgt, läuft daran vorbei. Ungefähr auf halbem Weg zwischen Altstadt und Stadtstrand, zwischen Barri Gòthic und Barceloneta, hat sich in den vergangenen Jahren das Viertel in Barcelona mit der höchsten Konzentration Kreativer entwickelt, die ihre Produkte am selben Ort herstellen und verkaufen.

Die Carrer de l’Argenteria verbindet die zu jeder Jahreszeit gefüllte Altstadt von Barcelona mit der für ihre architektonische Harmonie berühmte Kirche am Meer. Nur ein paar bemalte Schilder aus Holz weisen den Weg in die zweite Welt des Viertels – die Welt, die mit menschenvollen Fußgängerzonen nichts mehr zu tun hat.

So düster sind die Durchgänge zu den Gassen, dass die Anwohner ewige Lichter in roten Gefäßen auf den Boden stellen. Nicht, um böse Geister zu vertreiben oder Trauer zu zeigen, sondern um Passanten die Angst vor der Dunkelheit zu nehmen. So eng sind die Hausabstände des Mittelalters, dass kein Strahl Sonne es in diese schmalen Schächte schafft.

Es sind Gassen, in die sich vor Jahren nur wenige ausländische Flaneure verirrt haben. Weil erst einmal kein Schaufenster aus ihren dunklen Gesichtern strahlt, keine Reklame prahlt, kaum ein anderer Passant zu sehen ist.

Von der Argenteria folgen wir dem ersten Pfeil, treten in einen kühlen Durchgang der Häuser ehemaliger Silberminen. Dahinter ist weit über uns ein Zentimeter Himmel zu erahnen, es ist ausgesprochen still, die Enge, das Getriebene und Laute der Straße vor dem Haus sofort vergessen.

Vor einer mit bunten Stickern zugeklebten Glastür winkt ein Plastikroboter. Drinnen hängen an den Backsteinwänden bunte Taschen aller Formen und Größen, auf der anderen Seite stehen Werkbänke mit Papieren, Farben, Scheren und Nähmaschine. Ein junger Mann mit schwarzen Locken und zeitgemäßem Bart beugt sich über eine Zeichnung, sieht nicht hoch, wer da hineinkommt ins Geschäft.

Dafür ist hier jemand anderes zuständig: Tatiana Lleida, Schlabberpulli, schmal und freundlich. „Bon dia“, guten Morgen, sagt die Katalanin und lächelt. Bei Pinzat arbeiten Handwerker und Künstler zusammen: Die einen zeichnen und malen, die anderen schneiden und nähen. „Das Projekt hat seinen Ursprung in der Graffiti-Szene“, erzählt die 35-Jährige. „Wir arbeiten mit 35 Künstlern aus Barcelona und der ganzen Welt zusammen. Unser Material beziehen wir aus der Region, jede der Taschen ist ein Einzelstück.“

El Born ist seit dem Mittelalter das Viertel der Handwerker und Händler. Die Straßennamen erzählen davon, wer hier früher was hergestellt hat: ob Silber, Seile, Schuhe oder Käse. Hier saßen die Händler, die Im- und Export mit dem gesamten Mittelmeerraum trieben. Zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert war der Passeig del Born im Rücken der mächtigen Santa Maria del Mar der zentrale Platz der Stadt: nicht nur wegen des Handels, sondern auch wegen öffentlicher Spektakel wie Hinrichtungen und Turnierkämpfe.

Wir treiben weiter hinein in die dunklen Gassen, die nach jeder Ecke mehr Geschäfte erhellen. „Made a mà“, handgemacht, verspricht ein Kauderwelsch aus Englisch und Katalanisch an der Tür von Berta Salat. Gemeinsam mit einer Kollegin verkauft die 42-Jährige unter dem Namen Labicha Creativa hier seit zwei Jahren Taschen, Keramik und Schmuck. Hinten im Laden stapeln sich Stoffe und Fäden, mittendrin sitzt die Katalanin mit dem deutschen Namen und näht rot-weiß karierte Fähnchen für ihr Logo. „In der Krise sind die Mieten gesunken“, erzählt sie und legt für einen Moment die Nadel beiseite. „Dann haben sich Kreative Läden genommen, die vorher nur auf Straßenmärkten verkauft haben. Als wir herkamen, gab es nur zwei Geschäfte, jetzt ist die ganze Straße voll davon.“

Die kreative Nachbarschaft haben sich die Schwestern Iara, 36, und Iona, 41, Shroder gezielt zur Wahlheimat gemacht. Unter ihrem Label Jabberwocky verkaufen die Argentinierinnen selbst gestrickte Pullis und Strickjacken, und wenn gerade niemand im Laden ist, besprechen sie neue Designeinfälle. Gefragt nach ihrer Entscheidung für den Born und gegen das Barri Góthic, blickt die Jüngere von der Wolle auf und sagt für beide, da ihre Schwester kaum Englisch spricht: „Die Geschichte des Viertels fasziniert uns. Jedes Jahr sind es mehr Designer, die hier ihre Werkstätten mit Geschäft haben.“

Als einer der Neuen saugt Petxis Jansana an der Energie des Kreativ-Clusters. Mit seinem Partner macht der 37-Jährige aus Gedichten Bilder, druckt sie auf T-Shirts und nennt das Ergebnis „Visual Poetry“. Seit acht Jahren verkauft das Duo seine Eigenproduktionen – aber erst seit einem Jahr im Geschäft nahe dem Passeig del Born, wo vor Jahrhunderten die Seehändler saßen. „Dies ist ein hippes Quartier“, sagt der junge Vater mit Bart und Garçon-Mütze. „Wo sollten wir unseren Laden aufmachen, wenn nicht hier?“

Während mancher Künstler und Handwerker selbst zu staunen scheint über die Energie in den Gassen, gehen Professionalisierung und Institutionalisierung ihre eigenen Wege. Die Summe ihrer Teile entwickelt schneller eine Eigendynamik, als ihre Protagonisten es merken. Die Generalitat de Catalunya, die Regierung der katalanischen Selbstverwaltung, stellt Ausweise für professionelle Künstler und Kunsthandwerker aus und hat das Aufstellen der Hinweisschilder an der Argenteria im vorigen Jahr erlaubt.

Als Anna Vilafranca vor 14 Jahren ihren Werkstattladen anmietete, war Werbung für ein Kreativkollektiv eine Zukunft, die sie nicht einmal erahnen konnte. Die 56-Jährige arbeitet mit Leinen, Baumwolle, Seide und Wolle, webt im ersten Stock von Estudi Textil Westen und Wandteppiche, Pullover und Schals. Für das Gespräch muss sie kurz eine Schülerin allein am Webstuhl lassen. „Ich brauchte damals viel Platz für wenig Geld“, erzählt die Pionierin des Viertels. „Deshalb bin ich hergekommen.“ Kaum ein anderer Kreativer kennt El Born so gut wie sie. „Wir haben eine Gemeinschaft der Handwerker gegründet, um gegenüber dem Rathaus mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen.“ Anna Vilafranca hat vor ihrer Zeit im Born schon zehn Jahre gewebt. Sie weiß, wie wichtig die Erhaltung der Rahmenbedingungen für sie und ihre Kollegen ist. „Deshalb wollen wir der Regierung immer wieder sagen: Wir sind es, die das Viertel so schön gemacht haben.“

Ein Satz, der Assoziationen weckt. Und mit dem in ein paar Jahren die nächste Geschichte über Barcelonas Born beginnen könnte: die des beliebten alten Handwerkerviertels, in denen sich die Kreativen die Mieten nicht mehr leisten können.