In der Stadt mit den weltweit meisten Hochhäusern gibt es großen ökologischen Reichtum der Erde – das ist Hongkong. Die Schutzgebiete rund um die Stadt sind bemerkenswert.

Was das Schönste war in drei Wochen Hongkong? In Central, dem Hochhaus-Zentrum, in die MTR zu steigen, in die siebenmeilenstiefelschnelle, chronisch überfüllte, herrlich klimatisierte, klinisch saubere U-Bahn, und erst unter dem Meer, dann unter Kowloon hindurch Richtung Norden zu rasen; nach 40 Minuten umzusteigen in einen Bus, dann in einen zweiten, nun eine gute Stunde zu wandern, durch dichten Wald, durch ein verlassenes Dorf. Ein letzter Anstieg – und dann liegen sie da: zwei weiße Halbmonde, in unberührte Hügel gebettet. Die Strände von Tai Long Wan. Drei Stunden vom Zentrum Hongkongs: eine Landschaft, die an Thailand erinnert, ein kleines Wunder.

Am Nachbarstrand, im Beach-Restaurant, einer besseren Bretterbude, gibt es zum Sonnenuntergang Nudeln mit Rindfleisch, und dort findet sich ganz zwanglos eine dieser Traveller-Runden zusammen, die das Reisen so überraschend machen. Als es dunkel wird, sitzen wir am Strand um ein Lagerfeuer, trinken Bier und plaudern. Die Kroatin, die seit einem Jahr unterwegs ist, die beiden Engländer, die als Headhunter arbeiten, zwei Chinesen.

Verlassene Straßen, erst nach 20 Minuten das erste Auto

Das Feuer, die Sterne, das Meer ... Erst gegen halb zehn schaffe ich es, mich loszureißen. Finde ich den Weg durch den dunklen Wald? Ja, der Vollmond ist aufgegangen, verzaubert die Welt und erhellt schimmernd den Pfad. Da, die verlassene Straße. Nach 20 Minuten das erste Auto – ein Taxi! Nun geht alles ganz schnell: In einer halben Stunde bin ich an einer U-Bahn-Station, schon rase ich unter dem Meer hindurch und stehe in Hongkong Central, am Fuß der blinkenden Türme.

Dieser Gegensatz – zwischen dem Lagerfeuer und dem Neon, dem Strand und den Wolkenkratzern, der schärfste, der sich überhaupt denken lässt, wirkt wie ein Rausch.

Das ist das Erste, was in Hongkong überrascht: die grünen Berge, die gleich hinter den Hochhäusern beginnen. Hier 40-stöckige Wohnblocks, da dichter, scheinbar unberührter Wald. In einer Sieben-Millionen-Stadt, deren Immobilienpreise zu den höchsten der Welt gehören, sind mehr als zwei Drittel der Fläche nicht bebaut – und stehen 41 Prozent des Landes als Naturparks unter besonderem Schutz.

Noch überraschender ist der ökologische Reichtum: Im winzigen Hongkong leben mehr Arten als in Großbritannien. Es gibt rund 2000 verschiedene Blütenpflanzen, 233 Schmetterlings-, mehr als 500 Vogelarten, Schuppentiere und Stachelschweine, Großkopfschildkröten, bis zu vier Meter lange Tigerpythons und mehrere Arten, die anderswo in China fast oder gänzlich ausgerottet sind. Die ausgerechnet hier, in der Metropole mit den meisten Hochhäusern der Welt, mehr als 7000 sind es, weiter existieren dürfen.

Einige Gebiete wurden zeitweilig gar nicht betreten – ein Segen für die Natur

Es liegt am Klima, der Geografie, der Geschichte. Hongkong, in der Übergangszone von den subtropischen zu den tropischen Breiten, war von jeher besonders artenreich. Die Berge sind steil und widersetzen sich ganz natürlich einer Besiedlung. Und der Landschaftsschutz begann bereits 1880. In jenem Jahr gründeten die britischen Kolonialherren eine Behörde zur Aufforstung der Berge, die sie bei ihrer Ankunft kahl vorgefunden hatten.

Immer wieder hatten Dürren die Kronkolonie geplagt; Süßwasservorräte waren überlebenswichtig. Um sie zu mehren, wurden Wälder gepflanzt, Wasserläufe geschützt, Reservoirs angelegt und ganze Dörfer umgesiedelt. Wurden manche Gebiete aus Angst vor Waldbränden zeitweilig zur No-go-Area. Für die Natur war das ein Segen. Im Zweiten Weltkrieg, die japanische Armee hatte Hongkong besetzt, wurden die Wälder abgeholzt – und in den 1950er-Jahren ein weiteres Mal aufgeforstet. Millionen Flüchtlinge strömten vom Festland in die Stadt – wieder entgingen die Berge weitgehend der Besiedlung. Wurden stattdessen die bestehenden Viertel verdichtet, bis in Extreme, die in Europa unvorstellbar wären.

Die Geschichte der Naturparks beginnt 1965. In jenem Jahr erkundeten der amerikanische Ökologe Lee Talbot und seine Frau Martha auf Einladung der Regierung Flora und Fauna, konsultierten Ökologen und Anwohner, befragten die Birdwatching Society und den Hong Kong Gun Club. Und entwarfen ein System aus Schutzgebieten, das Berge und Wasservorräte sowie Tiere schützen sollte. Um Naherholung ging es auch schon.

Die Bevölkerung stieg in den vergangenen Jahren um 600 Prozent

„Hongkongs Bevölkerung ist in den vergangenen Jahren um 600 Prozent gewachsen“, schrieben die Talbots, „die meisten Menschen leben beengt in Hochhaussiedlungen.“ Sie könnten es sich nicht leisten, in Urlaub zu fahren, in den Bergen fänden sie Entspannung. Was den Charakter der Hongkonger Schutzgebiete erklärt: wilde Natur in fußläufiger Entfernung zu den am dichtesten besiedelten Vierteln überhaupt. Hongkongs „Country Parks“ – eine Erfolgsgeschichte. Auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick bekommt das Bild Risse. Auch das ist verständlich. Denn wo jeder Flecken Land ein Vermögen wert ist, sind mächtige Immobilienentwickler nicht weit, unterstützt von ihren Freunden, gewissen Politikern. Und noch etwas trübt die Harmonie: Gerade weil so viel Land unter Schutz steht, geht die Umweltbehörde nachlässig mit ihren Reichtümern um. Das weiß niemand besser als Paul Crow.

Kurze Kaki-Hosen, kräftige Unterarme, entschlossener Blick – Crow kann zupacken, das sieht man. Als er acht war, zogen seine Eltern von England nach Hongkong; schon damals liebte er es, durch die Wildnis zu streifen. Heute arbeitet er auf der Kadoorie-Farm – ein botanischer Garten, den eine Stiftung eingerichtet hat, ein herrliches Areal an einem Berghang, voller Tiere und Blumen. Crow leitet in Zusammenarbeit mit der staatlichen Naturschutzbehörde ein Aufzuchtprogramm für die Chinesische Dreistreifen-Scharnierschildkröte, eine der seltensten Reptilienarten. Wahrscheinlich ist sie in ganz Asien ausgerottet; wohl nur in den Bächen Hongkongs vermehren sich die letzten frei lebenden Tiere.

Das Pech von Cuora trifasciata: Sie hat drei gelbe, man könnte sagen: goldene Streifen am Kopf, zur Tarnung im Laub. In China steht die Farbe Gold für Glück; so wurde es schick, eine dreigestreifte Schildkröte zu Hause zu halten. Auf Schildkrötenfarmen gezüchtete „hybride“ Tiere kosten etwa 3000 Euro. Für ausgewachsene, in Hongkongs Bächen gefangene Männchen werden bis zu 20.000 Euro gezahlt. Weshalb ihnen bis heute Wilderer nachstellen. Sie versenken mit Ködern versehene Drahtkäfige in den Bächen, möglich, dass sie auch abgerichtete Hunde einsetzen. Paul Crows Zuchtprogramm startete 1997 und war auf fünf Jahre angelegt. Doch bis heute, die Zuchtpopulation ist auf mehr als 130 Tiere angewachsen, wurde noch immer kein Tier in die Wildnis entlassen. Warum?

Da bricht es aus ihm heraus, und es folgt eine Tirade, die von jahrelanger Enttäuschung und dem Kampf gegen freundlich lächelnde Unfähigkeit erzählt. „Weil die Behörden zahnlos und schwach sind“, sagt er, „weil es ihnen am Willen fehlt, die vorhandenen Gesetze durchzusetzen.“ Es sei schon vorgekommen, dass Wilderer mit einer Dreistreifen-Schildkröte unter dem Arm erwischt wurden – und man sie laufen ließ, weil sie sagten, sie führten ihr Haustier spazieren.

„Das letzte Mal, dass ein Wilderer verurteilt wurde, war vor elf Jahren – zu einer Geldstrafe von umgerechnet 20 Euro. Das ist definitiv das falsche Signal. Seit Langem liegen wir den Behörden in den Ohren, endlich einmal eine große Razzia zu organisieren. Und die Wilderer die Härte des Gesetzes spüren zu lassen: Zu bis zu zwei Jahren Gefängnis könnten sie verurteilt werden, zu einer Geldstrafe von bis zu 100.000 Euro.“ Ein frommer Wunsch.

Die Naturschutzgebiete sind schwer oder gar nicht zugänglich

Es gäbe so viel zu tun. Jedes Tier müsste ein Zertifikat bekommen, damit man gewilderte und gezüchtete Tiere unterscheiden könnte. Die Gesetze müssten verschärft werden. Und die Naturschutzbehörde AFCD sollte endlich aufrüsten. Bislang stellt man höflich lächelnde Biologen als Wildhüter ein. Falsch – handfeste Polizisten müsste man ausbilden, die wissen, wie man eine Waffe trägt, Handschellen anlegt, Wilderer festnimmt. „Darum“, sagt Paul Crow, „haben wir noch immer keine Schildkröte ausgewildert.“

„Die Dreistreifen-Scharnierschildkröten zu beobachten ist so gut wie unmöglich“, sagt er, „weil die Tiere nachtaktiv sind und weil es eben kaum noch welche gibt.“ Aber der Lebensraum mit den gesichertsten Vorkommen – ein Wildhüter bewacht hier Tag und Nacht zumindest einen Zugang – sei Tai Po Kau, keine 30 Taximinuten entfernt.

Auch dieses Schutzgebiet liegt in den Bergen, steil führt der Wanderweg bergan. Lianen und Würgefeigen umschlingen die Bäume. Später ein hervorragend ausgebauter Picknickplatz – so ungenügend die Umweltbehörde sich um manche Arten kümmert, so gewissenhaft sorgt sie sich um Ausflügler. In drei Zonen sind die Country Parks gegliedert: gut erschlossene Naherholungsgebiete; Gebiete , die selten durchwandert werden; Naturschutzgebiete, schwer oder gar nicht zugänglich.

Das Wildern von Schildkröten wird mit hohen Strafen geahndet

Kurz hinter dem Picknickplatz ein Bach; klar rauscht er durch den Wald. Auf einem Schild die Warnung: dass das Wildern von Schildkröten mit hohen Strafen geahndet wird. Ja, ja. Fische und Süßwassergarnelen, eine Leibspeise der Goldköpfe, tummeln sich im Wasser. Die Hitze des Nachmittags, das gesprenkelte Licht, das Rauschen des Wassers, das fast schon magische Wissen, dass nicht weit von hier die letzten Goldköpfe ruhen, verzaubern den Augenblick, und Frieden legt sich auf die Welt. Meine Augen werden schwer, ich schlafe auf einem Findling im Bach ein. Das war der zweitschönste Moment in drei Wochen Hongkong.

Weiter. Riesenfarne, Bambus- und Eukalyptushaine. Schmetterlinge schaukeln vorbei, da, ein Constabler – in Tai Po Kau gibt es mehr als 120 Schmetterlingsarten. Sogar eine Familie Langschwanzmakaken krakeelt in den Bäumen. Kurz darauf – eine Teerstraße. Wie bitte?

Bald einige Häuser, zwei Männer reparieren ein Auto. Das muss die Enklave sein, von der Paul Crow erzählt hat, eines jener Dörfer inmitten der Schutzgebiete. Als die in den 1970er-Jahren markiert wurden, wollte man Konflikten aus dem Weg gehen und ließ einiges privates Land unbehelligt. Schuf Zonen in direkter Nachbarschaft zu gefährdeten Arten, in denen die Menschen weitgehend machen konnten, was sie wollten. Das war der Geburtsfehler der Country Parks.

Auf der ganzen Welt ringen Metropolen um Nachhaltigkeit. Hongkong hat sie in den Schoß gelegt bekommen. „Es ist ja keinesfalls ökologisch, in einer einsamen Hütte im Wald zu leben“, schreibt der Urbanist David Owen in seinem Buch „Green Metropolis“. Nein: „Dichte ist ökologisch.“ Hier Hochhäuser, dort Wildnis. Hier hohe Konzentration, dort reine Natur.

Wie in Hongkong.