Kühe kreuzten die sechsspurige Fahrbahn. Tuk-Tuks drängelten sich in jede für europäische Augen nicht erkennbare Lücke. Indien, nichts kann dich darauf vorbereiten.

Nichts kann dich auf Indien vorbereiten. So hatte es der Reiseführer prophezeit. Der Autor wusste genau, wovon er schrieb. Schon die Fahrt vom Flughafen in den bei Mumbai- Besuchern beliebten Stadtteil Colaba führte mich an die Grenzen des Zumutbaren. Hitze, Luftfeuchte, Lärm und Menschenmassen setzten mir bereits am Terminal zu. Zwei Stunden Taxifahrt während der Rushhour gaben mir den Rest. Kühe kreuzten die sechsspurige Fahrbahn. Tuk-Tuks drängelten sich in jede für europäische Augen nicht erkennbare Lücke. Autos standen hupend kreuz und quer. Über allem hing ein bestialischer Gestank von brennenden (sicherlich giftigen) Müllbergen, gammligem Fisch und Abgasen. Wie konnte es sein, dass sich scheinbar alle Einwohner der Zwölfmillionenmetropole zur selben Zeit auf genau dieser Straße befanden?

Den Fahrer konnte ich das nicht mehr fragen. Er wiegte stillschweigend seinen Kopf von links nach rechts wie ein Wackeldackel auf der Hutablage. Seit ich mich an der Tankstelle geweigert hatte, auszusteigen, hatte sich der kleine Mann beleidigt in diesen Zustand zurückgezogen. Doch wenn er dachte, er könne mich einfach am Straßenrand aussetzen und mit meinem Gepäck abhauen, dann war sein Turban schief gewickelt. Erst die Vermittlungen eines Dritten hatten Licht in die Sache gebracht: Der Fahrer war kein Räuber, er wollte lediglich Gas tanken, und falls es dabei zu einer Explosion käme, sollte ich lieber nicht auf der Rückbank hocken, sondern zwei Meter neben dem Auto stehen. Zu meiner Verteidigung: Nichts deutete darauf hin, dass das eine Tankstelle war. Zudem stand ich zu dem Zeitpunkt schon unter Kulturschock.

Endlich am Hotel angelangt, musste ich feststellen, dass meine Zimmerreservierung in den Weiten des Internets verloren gegangen war. Natürlich war alles ausgebucht. Der Rezeptionist wünschte mir viel Glück bei der Suche nach einem freien Bett. In der Hochsaison kein leichtes Unterfangen. Nach einigem Hin und Her erhielt ich in einem anderen Hotel den Zuschlag für das letzte Zimmer.

Ich verbarrikadierte mich in dem maroden Raum und schwor mir, ihn bis zu meiner Abreise nicht mehr zu verlassen. Nachts schreckte ich aus dem Schlaf hoch. Mein Puls raste, und eine glasklare Erkenntnis durchzuckte mich: Du wirst in Indien sterben, und niemand wird deine Leiche in diesem Chaos finden. Am nächsten Morgen sah die Welt schon freundlicher aus. Beim Frühstück traf ich zwei Amerikanerinnen, die mir die Nummer einer indischen Studentin gaben, die ich sofort für eine Stadtführung buchte.

Treffpunkt Gateway of India. Ich war zehn Minuten zu früh – wie sich herausstellte, eine halbe Ewigkeit. Ständig wollten sich Inder mit mir fotografieren lassen. Jemand hängte mir eine Blumenkette um den Hals, während ich meine Handtasche umklammerte. Andere wollten mir Postkarten verkaufen. Ein Guru bedrängte mich mit seinem Segen. „Kostet nur 500 Rupien“, sagte er, während er mir mit dem Daumen ungefragt einen roten Punkt zwischen die Augen schmierte, mir orange Fäden ums Handgelenk tüterte und sich dabei in den Bart murmelte. Die umgerechnet acht Euro erschienen mir zu viel – er war auch mit zehn Rupien zufrieden. Die fotowütigen Inder ließen sich nicht so leicht abschütteln und platzierten ungeniert Frau und Kind neben mich – fürs Familienalbum. Erst Fatima, meine Studentin, befreite mich aus der misslichen Lage. Die junge Frau war in Bluse und Jeans gekleidet und lobte mich dafür, dass ich mich nicht gleich übers Ohr hatte hauen lassen. „Neulich hat einer meiner Kunden dem Guru 500 Rupien gegeben“, sagte sie und schüttelte den Kopf, als könne sie diese Ungeheuerlichkeit immer noch nicht fassen. „Man zahlt nie den erstgenannten Preis, unter gar keinen Umständen“, belehrte sie mich. „Und lass dich nie mit jungen Männern allein fotografieren. Sie bearbeiten das Bild im Fotoshop so, als hättest du nichts an, und prahlen dann mit ihren vermeintlichen Eroberungen.“ Mist, dachte ich und hoffte, sie würden meinen Kopf wenigsten auf Julia Roberts nackten Körper montieren.

Lektion Nummer zwei an diesem Tag: Wie überquere ich heil eine Straße? Regel Nummer eins: Sich niemals auf Fußgängerampeln verlassen. Mumbais Autofahrer stoppen auch nicht bei Rot. Regel Nummer zwei: Augen zu und durch. „Das klappt fast immer“, sagte Fatima und grinste mich mit strahlend weißen Zähnen an. Regel Nummer drei: Niemals laufen, um beim Fahrer nicht den Jagdinstinkt auszulösen.

Dann ging das Überlebenstraining in die heiße Phase: Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Erstaunlicherweise saß niemand auf den Dächern der Züge. „Das kommt sonst regelmäßig vor“, sagte Fatima. „Allein in Mumbai sterben dabei zwei bis vier Menschen täglich.“ Voll waren sie dennoch. Gute Gelegenheit für Grapscher. Fatima, gerade mal anderthalb Meter groß, zeigte mir, wie man sich davor am besten schützt, und fragte einen Mann, der sie aufdringlich anstarrte, laut und deutlich, ob er ein Problem habe. Alle Blicke richteten sich auf ihn. Der Mann schaute beschämt zu Boden. Mutige Frau, staunte ich. Jetzt kam uns niemand mehr zu nahe.

Vierte Lektion in Sachen Überleben in Indien: Vom Essen der Straßenverkäufer stirbt man nicht. Ganz im Gegenteil, es ist billig und köstlich. Wir futterten uns auf dem Markt von Snack zu Snack – ihre Namen konnte ich mir unmöglich merken, ich hatte vorher nicht einmal geahnt, dass es sie gibt. Wir piksten Löcher in hohle krosse Bällchen und füllten sie mit gut gewürzten Zutaten und Soßen, um sie dann im Ganzen in den Mund zu schieben. Ich lutschte an sauren Schoten und aß honigsüße Täschchen aus grünen Blättern, die mit Kümmel und Safran gespickt waren. Bei der Zutat „Part of beatle with honey“ (Teile vom Käfer mit Honig) habe ich mich sicherlich verhört. Das kleine Päckchen wurden vor dem Verzehr in bunte Streusel und rosa Kokosraspel getaucht – fertig war das Was-auch-immer.

Allmählich entspannte ich mich und konnte die eigenartige Schönheit Indiens auf mich wirken lassen: die farbenfrohen Saris, die bunten Märkte, die Gerüche exotischer Gewürze, die prächtigen Bauten vergangener Epochen. Mit Fatima an meiner Seite gewöhnte ich mich allmählich an Mumbais Rhythmus. Als mir dann zwei Marktfrauen den Tipp gaben, Klebebindis statt Fingerfarbe zu verwenden, um Hautirritationen zu vermeiden, begann ich, Indien zu lieben.