Der Küstenwanderweg im Süden Neuseelands gehört zum Marlborough Sound. Die meisten Wanderer bewältigen die Strecke in vier Tagesetappen.

Da liegt er nun vor uns, der Queen-Charlotte-Track. Der Küstenwanderweg im Süden Neuseelands gehört zum Marlborough Sound. Hinter uns legt das Schiff, das uns von Picton zur historischen Ship Cove gebracht hat, wieder ab. Viel scheint sich seit der Ankunft von Kapitän James Cook nicht verändert zu haben. Vermutlich blickte er 1770 auf denselben dichten grünen Wald wie wir jetzt. Vor uns liegen ganze 71 Kilometer bis zu unserem Ziel Anakiwa. Die meisten Wanderer bewältigen die Strecke in vier Tagesetappen. Wir wollen in drei Tagen zurück in Picton sein, wo unser Wohnwagen parkt. Schließlich haben wir uns vorgenommen, die gesamte Südinsel in drei Wochen zu umrunden. Zudem kann im Juni jederzeit der Winter einbrechen. Da zählt jeder Tag.

Da mein Begleiter und ich nicht überdurchschnittlich sportlich sind, schaffen wir die Strecke in der geplanten Zeit nur, wenn wir an einer Stelle schummeln. Mit dem Postboot kürzen wir zwölf Kilometer ab. Das Schiff fährt täglich zahlreiche Buchten an, um Post an die weit verstreuten Ferienhausbetreiber, Schafzüchter und Aussteiger auszuliefern, deren Grundstücke teilweise nur über den Wasserweg zu erreichen sind. Neben Postsäcken bringt der Skipper auch Stückgut zum gewünschten Anleger. Wir lassen die Rucksäcke an Bord und haben so nur unser Tagesgepäck zu schultern. Der Weg führt an Buchen und Baumfarnen entlang, Hügel hinauf und hinab. Zikaden lärmen. Ein Fächerschwanz flattert aufgeregt vor uns her. Der erste steile Aufstieg wird mit herrlichem Blick aufs Wasser belohnt. Nach zehn Kilometern knurrt der Magen. Beim Lunch-Stopp versucht ein Weka Brot zu stibitzen. Der Rallenvogel ist weit weniger schüchtern als sein Kollege Kiwi und dafür bekannt, Essen zu stehlen. Diesmal geht er aber leer aus. Frisch gestärkt sind die nächsten fünf Kilometer ein Kinderspiel. Wir passieren verlassene Ferienanlagen und Unterkünfte. Die Saison neigt sich dem Ende zu.

Mit der Post kommt auch der Tratsch aus Picton und Umgebung

Wir warten auf das Postboot, mit dem wir den Endeavour Inlet überqueren. Auf dem Weg zu unserer Unterkunft legt das Boot noch einmal an. Am Steg harren drei Hunde aufgeregt der Leckerlis, die der Skipper garantiert dabeihat. Ihr weißhaariges Herrchen mit Rauschebart wirkt dagegen tiefenentspannt. Der Skipper grüßt freundlich und wirft ihm den Postsack zu, dann geht es weiter zum nächsten Anleger. Eine rüstige Lady freut sich dort schon auf Post und den neuesten Tratsch aus Picton und Umgebung. „Das ist Neoline, eure Gastgeberin“, sagt der Bootsmann. Die lässt sich von uns nicht bei ihrem Plausch stören. Die Touristen an Bord schießen derweil eifrig Fotos. „Geht schon mal vor und macht es euch bequem“, sagt Neoline kurz. Dann richtet sie das Wort wieder an den Skipper. Wir folgen den pinkfarbenen Pfeilen den steilen Hang hinauf.

Oben angekommen, überblicken wir Endeavour Inlet bis zur Furneaux Lodge und zum Mount Stokes. In der Nähe liegt ein kleiner Strand. Bei elf Grad Wassertemperatur verwerfen wir den Gedanken an ein Bad schnell. Was wir nicht sehen: Delfine und Orcas. Wir sind zur falschen Jahreszeit hier.

Die Tür steht offen. Einbrecher scheinen sich in diese entlegene Gegend nicht zu verirren. Wir treten ein. Die Möbel sind alt, es riecht ein bisschen muffig. Nach Internetzugang brauchen wir gar nicht erst zu fragen. Ich fühle mich in meine Kindheit zurückversetzt. An der Wand in der Küche hängen Bilder verschiedener Generationen von Yorkshire Terriern, daneben Postkarten von ehemaligen Gästen. Die meisten blieben nur eine Nacht. Offenbar ausreichend Zeit für Neoline, sich unvergesslich zu machen.

Außer Atem vom Anstieg, kommt sie herein. Yorkshire Penny folgt ihr, knurrt uns an, bevor sein Blick zum Fressnapf wandert. Leer. Missmutig verzieht sich der kleine Hund ins Nebenzimmer. Neoline zeigt uns das Schlafzimmer und den wunderbaren Blick von ihrer Terrasse. Sie wirft ein Stück Apfel in den Garten. Sie möchte uns das Kaninchen zeigen, das auf ihrem Grundstück lebt. Stattdessen kommt aus dem Busch ein Weka geflitzt und schnappt sich das saftige Obst.

Während ich dem braunen Vogel hinterherschaue, wie er mit seiner Beute davonstakst, verschwindet Neoline in der Küche, um uns warme Scones mit Butter und Earl Grey zu servieren. Kochen wird sie für uns aber nicht, stellt sie klar. Dafür sei sie mit 82 Jahren zu alt, und das hier sei schließlich kein Hotel. Doch ihre Küche stehe zur freien Verfügung. Ob sie nicht Lust hat, uns beim Abendessen Gesellschaft zu leisten, fragen wir. Es gibt Spaghetti mit Tomatensoße. Da sagt Neoline nicht Nein. Während wir kochen, verfolgt sie gespannt eine Quiz-Show im Fernsehen. Penny wühlt unruhig neben ihr auf dem Sofa. Irgendetwas passt ihr wohl nicht.

Eine halbe Stunde später verschlingt Neoline mit großem Appetit Pasta. Und erzählt aus ihrem Leben. Mit 66 Jahren wurde sie Witwe. Seitdem verreist die rüstige Rentnerin jedes Jahr ins Ausland. 54 Länder habe sie schon gesehen. Mit 80 Jahren tourte sie durch Polen, die Slowakei, Ungarn, Rumänien – allein und nur mit der Backpacker-Bibel „Lonely Planet“ ausgerüstet. In Deutschland sei sie auch schon gewesen. Ein Bahnangestellter sei ihr besonders im Gedächtnis geblieben. Sie äfft ihn nach, wie er sie wütend zusammengefaltet hat, weil sie das falsche Ticket hatte. Oder saß sie im falschen Zug? Egal, am Ende kam sie immer dort an, wo sie hinwollte. Manchmal über Umwege. Kein Wunder, dass die rustikale Dame unter Backpackern und Weltreisenden fast schon eine Legende ist und der „Lonely Planet“ sie zur „Universal Grandma“ erklärt hat.

Ob sie sich nicht manchmal einsam fühlt, so abgeschnitten von der Außenwelt. Neoline winkt ab. Im Sommer habe sie das Haus jeden Tag voll mit Gästen. Danach brauche sie dann selbst erst mal Urlaub. Den finanziert sie sich aus den Einnahmen ihres Homestay. Es habe aber auch Nachteile, weit weg von der nächsten Stadt zu leben. Für den monatlichen Großeinkauf an Lebensmitteln brauche sie einen vollen Tag. Erst mit dem Boot, dann mit dem Auto über kurvige enge Straßen, das brauche seine Zeit. Sie fahre noch selbst, verkündet Neoline stolz, räumt aber auch ein, kürzlich die Kontrolle über den Wagen verloren zu haben. Das Auto überschlug sich und blieb auf dem Dach in einem Baum hängen. Zum Glück war Neoline angeschnallt und kam mit dem Schrecken davon. Kein Grund, das Autofahren aufzugeben. Neoline will mobil bleiben. Die 82-Jährige ist sich sicher, dass sie noch lange ohne fremde Hilfe in ihrem Haus leben kann. „Das wird schon irgendwie gehen“, sagt sie. Typisch Kiwi, denke ich.

Satt von Geschichten, gehen wir zu Bett. „Lasst euch nicht einfallen, zu gehen, ohne euch zu verabschieden. Egal wie früh“, sagt Neoline. Und so steht sie am Morgen im hellblauen Nachthemd in der Tür und drückt uns einen dicken Schmatzer auf. Sie sagt, wir sollen immer zusammenhalten. Sie glaubt, wir seien ein Paar. Das richtigstellen würde uns eine Stunde kosten. Und wir wollen vor dem angekündigten Regen die nächste Unterkunft erreichen. Also lassen wir sie in dem Glauben, bedanken uns für die Anekdoten und brechen auf.