Bei einer Wandertour auf der Kanaren-Insel läuft man dem Massentourismus einfach davon und entdeckt nur die Ruhe.

Der Mann ist braun gebrannt und hat einen athletischen Körper, die 95 Kilogramm sind gleichmäßig auf 1,82 Meter verteilt: Im TV-Spot eines Online-Reiseportals mit Moderatorin Sonja Kraus macht Enzo Grillo, 45 und nur mit Badehose bekleidet, eine gute Figur. Gedreht wurde der Clip vor wenigen Monaten. Sein Gewicht hat sich kaum verändert, genauso der Teint. Doch mit der Fitness sei das so eine Sache, gesteht er. Gerade jetzt, denn von oben knallt Sonne auf uns herab. Das Thermometer zeigt 34 Grad Celsius an – im Schatten. Heute ist der Hotelgästebetreuer, der seit 18 Jahren auf Gran Canaria lebt, mit einer Wandergruppe unterwegs. Erprobt wird eine neue Tour durch die Bergwelt im Landesinneren. Und die fünf Kilometer lange Strecke hat es in sich: Bis zu 40 Prozent beträgt das Gefälle – wer konditionell schnell schwächelt, sollte lieber eine leichtere Route wählen. Davon gibt es hier, unweit des kleinen Orts San Bartolomé de Tirajana mit seinen 600 Einwohnern in 850 Meter Höhe, Dutzende.

Da steht Grillo nun auf halbem Weg des steilen Anstiegs, pustet kräftig und fasst sich an die Oberschenkel. Sein Shirt ist komplett durchgeschwitzt. Tira und Salami, die zwei Hunde des Hoteldirektors, die uns begleiten, scheinen Mitleid zu haben und weichen nicht von Grillos Seite. „Ich bin fertig“, stöhnt er. Dabei haben wir noch 2,3 Kilometer vor uns. Während Guide Eduardo, ein Einheimischer mit muskulösen Waden, breit wie eine Wassermelone, das Zeichen für eine Pause gibt, bestaunen Grillos Mitstreiter die Schönheit der Natur. Was sie sehen, ist faszinierend: mächtige Felswände, tiefe Schluchten, überall sattes Grün. Um uns herum Kiefern, Pinien und Palmen. Es duftet nach Lavendel, Thymian und anderen Kräutern. Rund 2000 verschiedene Pflanzenarten gibt es auf der Insel, mehr als 600 davon sind endemisch, wachsen also nur hier. Den Mix der Farben komplettiert der blaue Himmel. „Das ist das wahre Gran Canaria“, schwärmt Grillo und nimmt einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche.

Diese Region wird von immer mehr Urlaubern entdeckt. Von Naturliebhabern, die auf Entdeckungstouren gehen, und denjenigen, die Ruhe suchen. Der Massentourist schafft es nicht bis hierhin. Er lässt sich vom Flughafen an die Küste im Süden kutschieren, in die Hotelhochburgen nach Maspalomas, Playa del Ingles oder San Augustin – und weiß nicht, was er verpasst. Hinter dem ersten Bergkamm, nicht weit weg von den ausgedehnten Dünenfeldern, entfaltet die Insel ihre ganze Schönheit.

Nicht ohne Grund heißt es, Gran Canaria, mit einer Fläche von 1532 Quadratkilometern nach Teneriffa und Fuerteventura die drittgrößte Insel der Kanaren, sei ein Kontinent im Kleinformat. Denn je höher man kommt, umso grüner wird es. Und umso kühler. Der Temperaturunterschied zwischen der flachen, kargen Landschaft im Süden und der Inselmitte sowie dem Norden beträgt nicht selten 15 Grad, je nach Höhenlage. „Dort oben“, sagt Eduardo und zeigt auf den 1813 Meter hohen Roque Nublo, der wie ein mächtiger Beschützer über den weißen Häusern des Dorfes San Bartolomé de Tirajana thront, „da muss man sich manchmal warm anziehen. Und bloß nicht die Regenjacke vergessen.“ So wie am Vortag. Binnen weniger Minuten verschwand der Berg hinter dicken Wolken, plötzlich schüttete es wie aus Kübeln.

Geliebt wird die Insel von Urlaubern vor allem wegen des ganzjährig milden Klimas, doch in den Höhenlagen kann es im Winter richtig kalt werden: mit Temperaturen unter null Grad und sporadischen Schneefällen. Zudem führen zu dieser Jahreszeit auch Sturmtiefs aus Südwest zu den sogenannten Südstürmen mit starkem Regen und heftigen Winden, während sich die Küstentemperatur dank der temperierenden Wirkung des Meeres selbst über die Jahreswende oberhalb der 20 Grad einpendelt. Andererseits: Wenn der Calimera, der afrikanische Sandwind aus der Sahelzone, kommt, wird es mit bis zu 45 Grad auch in höheren Lagen unerträglich. Dann sieht man den Sand von jeder Erhebung der Insel über dem Meer flirren.

Höhlenwohnungen sind beliebte Fluchten für Städter

Die Umrundung des Roque Nublo – neben dem 1949 Meter hohen und für Wanderer ebenso attraktiven Pico de las Nieves – zählt zu den beliebtesten Wanderrouten. Ein gut ausgebauter Pfad führt zum Hochplateau mit dem 70 Meter großen Monolithen aus Granit. Dort angekommen, reicht der Blick übers Meer bis zur Nachbarinsel Teneriffa. Interessant: Es waren drei Deutsche, die am 20. Juni 1932 als Erste den Gipfel erklommen. Einheimischen gelang das erst 21 Jahre später.

So imposant die Kulisse von dort oben zu jeder Jahreszeit wirkt, am schönsten ist es im Januar und Februar, wenn die Mandelbäume die Caldera de Tejeda am Fuße des Berges in ein einziges Blütenmeer verwandeln. „Fantastisch, das sieht dann aus wie ein riesiges Federbett“, schwärmt Eduardo, der das Terrain so gut wie seine eigene Westentasche kennt. Kein Wunder, bereits mit sieben Jahren nahmen ihn seine Eltern mit auf Wandertouren – seitdem ist es für ihn nicht nur Hobby, sondern auch Lebenselixier.

Inzwischen hat unsere Gruppe ausreichend Flüssigkeit zu sich genommen, von meinen vier Wasserflaschen sind drei verbraucht. Ohnehin ist es ratsam, einen großzügigen Wasservorrat mitzunehmen, denn einen Kiosk oder eine Bar sucht man hier wie auch sonst auf den meisten Wanderrouten vergebens. Enzo hat seine Flaschen komplett geleert. Seine Atmung ist nicht mehr so tief wie vor ein paar Minuten, seine Gesichtszüge entzerrt. „Ich packe den selben Anstieg noch einmal“, scherzt er. Nicht wirklich. Es ist gut zu wissen, dass der schwerste Teil der Tour hinter uns liegt. Kollektives Aufatmen, jetzt geht es nur noch bergab.

Wir befinden uns auf den Caminos Reales, den Königswegen, die bereits frühere Bewohner über die Insel führten. Sie wurden kurz nach der Eroberung von den kastilischen Königen errichtet und haben eine über 500 Jahre alte Tradition. Viele von ihnen sind instand gesetzt, teilweise mit Wegweisern und farblichen Markierungen versehen.

Immer wieder bleiben wir stehen, blicken nach rechts und bestaunen die großen, von Menschenhand in den Felsen geschlagenen Eingänge, die breiter sind als hierzulande die Haustüren. Was sich wohl dahinter verbirgt? „Das hier sind Höhlenwohnungen“, sagt Eduardo. Vor einer stehen kaputte Stühle. Drinnen entdeckt man Utensilien wie einen schrottreifen Herd oder einen maroden Holztisch. Hier haben einmal Menschen gewohnt. Begehrt sind die Höhlenwohnungen bei den Einheimischen nach wie vor. Zum Beispiel, um an Wochenenden der Hektik von Las Palmas zu entfliehen. 2192 registrierte Höhlenwohnungen gibt es auf der Insel. Sie kosten rund 12.000 Euro, verfügen meist über zwei Zimmer. Auch Strom- und Wasseranschluss sind vorhanden. Wasser benötigen wir jetzt auch. Drei Stunden waren wir unterwegs, haben die Herausforderung gemeistert. „Ha salido bien – das hat doch gut geklappt“, ruft Eduardo.

Man muss sich vom Hotel aus jedoch nicht ausschließlich zu Fuß fortbewegen. Lohnenswert sind Ausflüge mit dem Auto in Richtung Norden. Da geht es über kurvige, enge Straßen durch Bergdörfer mit Tapas-Bars nach Artenara, Arucas mit seinen Bananenplantagen oder Agaete. Aber Vorsicht: Wer sich ans Steuer wagt, sollte sich ganz aufs Fahren konzentrieren. Zu nahe sind die Straßen am Fels gebaut, vielerorts herrscht Steinschlaggefahr. „Die spektakuläre Natur auf engstem Raum, das hat mich schon beim ersten Urlaub fasziniert“, sagt der Hamburger Hans Laubenstein. Der 63-Jährige hat sich vor 25 Jahren in die Insel verliebt – und beschlossen zu bleiben. Jetzt betreibt er in San Mateo das Charly’s El Trago del Caballo, ein uriges Restaurant, in dem er die Gäste mit launigen Sprüchen unterhält. Mit einer Kochshow hat es der Ingenieur sogar bis ins Insel-TV geschafft. Irgendwann zurück in die Heimat? „Daran habe ich noch nie gedacht“, sagt er.

Ein Zurück gibt es auch für den geborenen Italiener und in Deutschland aufgewachsenen Enzo Grillo nicht. „Mich halten hier nicht nur Klima und Natur, sondern auch die Lebensart.“ Nach der Arbeit fahre er zufrieden und voller Tatenkraft nach Hause. Außer heute: Von den Strapazen der Wandertour hat sich Grillo noch nicht erholt.