Deutschlands ältestes Naturschutzgebiet hat eine neue Attraktion: Auf dem Heidschnuckenweg wandert man entlang der schönsten Lüneburger Heideflächen direkt hinein in die Bescheidenheit

So ein Schäfer hat gewiss nichts zu meckern – das erledigen schon seine Tiere. Entspannt darf er den ganzen Tag in der Natur verbringen. Keine Autos, keine Computer, kein Stress, keine Kollegen. Immer langsam mit den jungen Pferden beziehungsweise Schafen. Und dann diese herrliche Ruhe. „Na ja, nun stören Sie ja mit Ihren Fragen“, sagt Jürgen Funcke. Sein Humor ist trocken wie der Heideboden. Können Schafe lachen? Ihr „Mäh! Mäh! Mäh!“ wirkt amüsiert.

Es ist das Konzert der Lüneburger Heide, Deutschlands ältestem Naturschutzgebiet mit einer Vielzahl von zu schützenden Pflanzen und Tieren und einem vom Aussterben bedrohten Beruf: dem Heideschäfer. Denn nachdem man ein Stück des Weges gemeinsam gegangen ist, wird klar, dass nur wenige diesen Job übernehmen würden: 365 Tage im Jahr bei jedem Wetter raus, keine Ansprechpartner, kein lohnendes Geschäft. „Im letzten Winter sind mir die Ohren am Kopf angefroren,“ erzählt Funcke, seitdem trägt er immer eine Mütze. Außerdem hat er einen Regenschirm bei sich, den er fürs Foto versteckt. „Wie sieht das denn aus, ein Schäfer mit Regenschirm, das gehört sich nicht! Genauso wenig wie hinsetzen.“ Ein Stock zum Abstützen muss reichen während der langen Märsche. Der 51-Jährige schaut zufrieden in die Weite. Nie würde er sich aufregen. Nur ruhige Schäfer haben ruhige Schafe, und ruhige Schafe fressen besser.

Bescheidenheit ist das Wort, das alle hier vereint: die Heide, die auf dem nährstoffarmen Sandboden wächst; die graue, gehörnte Heidschnucke, die als einziges Schaf Heidekraut frisst; den Heidjer, der mit viel Mühe seine Existenz sichert. Der Spruch „Was für eine Plackerei!“ entstand genau hier, denn das regelmäßig erforderliche, extrem anstrengende Abtragen des Heidebodens wird Plaggen genannt. Wie sich diese Arbeit lohnt, sieht man am besten jetzt, zur Zeit der Heideblüte. Ein lila Strahlen liegt über allem. Der sonst so zurückhaltende Landstrich gönnt sich eine ordentliche Portion Farbe.

1,5 Millionen Gäste besuchen in diesen Wochen die Gegend, die seit März auf einem neuen Wanderweg erkundet werden kann. Der 223 Kilometer lange Heidschnuckenweg führt von Hamburg-Fischbek bis nach Celle. Er verbindet die schönsten Landschaften der Lüneburger Heide und wurde als Qualitätsweg Wanderbares Deutschland zertifiziert, was bedeutet, dass es viele abwechslungsreiche Wege und kaum Asphalt gibt (maximal 20 Prozent der Strecke). Außerdem wurde er als einer der 15 Top Trails of Germany ausgezeichnet. „Darauf sind wir alle sehr stolz,“ sagt Geografin Christiane Vogt vom Landkreis Harburg, denn es heißt, dass man ab jetzt in der obersten Liga der Wanderwege mitspielt. Dass man ein anderes, auch internationales Publikum erreichen kann. Vogt und ihre Kollegen haben viereinhalb Jahre an der Planung gearbeitet.

Wer gut zu Fuß ist, schafft die Strecke in zehn Tagen oder sucht sich für einen Wochenendausflug einen der Höhepunkte heraus wie den Wacholderwald bei Schmarbeck, das Radenbachtal mit dem Pastor-Bode-Weg, den Fluß-Wald-Erlebnis-Pfad entlang der Örtze oder den 169 Meter hohen Wilseder Berg. Die höchste Erhebung der Norddeutschen Tiefebene ist ein Relikt der Eiszeit. Am Fuße des Berges liegt Wilsede, einer der romantischsten Heideorte. Das 40-Seelen-Dorf ist nur zu Fuß, mit dem Rad oder mit der Kutsche zu erreichen; Autos sind verboten. Zwischen den reetgedeckten Häusern steht das Heimatmuseum Dat ole Hus, in das unbedingt jeder einen Blick werfen sollte, der immer noch behauptet, dass früher alles besser war. Vor lauter Rauch durch das stetig brennende Feuer mussten die Menschen damals im Sitzen schlafen, um nicht zu ersticken. Heute liegt zumindest kein Mist mehr aus, der früher auf dem Lehmboden gesammelt wurde. Man sieht verschiedene Gerätschaften wie beispielsweise ein spezielles Messer, mit dem nach dem Schlachten die Schweineborsten entfernte oder ein Stövchen, das gefüllt mit glühenden Kohlen zum Wärmen unter die Frauenröcke geschoben wurde. „Die Heidebewohner waren früher arm und arm dran“, sagt Hartmut Müller. Der Undeloher Naturführer kennt sich in Historie und Geografie der Gegend aus wie kaum kein anderer und hat die Strecke des Heidschnuckenweges mit ausgearbeitet.

Ein paar Stunden Wanderung mit Müller fühlen sich an wie ein Freiluft-Biologiestudium. Müller weiß sein Wissen gekonnt und unterhaltsam zu vermitteln. Ein auf den ersten Blick stinknormaler Käfer wird so zum „Helden der Heide“, weil er Schafskot geschickt zu Kugeln dreht, die bis zu 50-mal schwerer als er selbst sein können. Man erfährt, wie aus Faulbeerbäumen Schwarzpulver gemacht werden kann, dass „Birkwild den Gruppensex erfunden hat“ und wie Wilsede durch den berühmten Mathematiker Carl Friedrich Gauß auf dem Zehnmarkschein landete. Auch Gedichte sagt Müller gerne auf, natürlich vom berühmtesten Heidedichter Hermann Löns (1866–1914).

„Nun aber will ich ziehen

Hinaus zum grünen Wald,

Ein Wildbret zu erjagen

Von edeler Gestalt...

Denn was ich geh zu jagen,

Das ist ein schlankes Reh,

Und wenn ich es erlege,

Das tut ihm gar nicht weh.“

Hier geht es selbstverständlich nicht um Tiere. Löns war ein großer Schriftsteller und ein noch größerer Weiberheld. „Seine Lyrik handelt zu 80 Prozent davon, wie man Frauen in der Natur verführt“, sagt Hartmut Müller. Ein Chauvinist also. Ein Trinker außerdem, der gerne als Dandy in weißen Anzügen auftrat, sich freiwillig zum Kriegsdienst meldete und nach seinem Tod 1914 wegen seiner Vaterlandsliebe von den Nazis als einer ihrer Vordenker vereinnahmt wurde.

Eine streitbare Person also, der jedoch die Heidelandschaft ihre ganze Popularität verdankt. „Der Städter, der sich hier vergräbt, ist in einer anderen Welt. Nichts erinnert den Stadtmüden, Ruhehungrigen an den Trubel der Backsteinwüste. Hier kann man seine Nerven vergessen und die unruhige Hast im Denken und Handeln, zu der das Großstadtleben den Kultursklaven zwingt“, schrieb der in Hannover arbeitende Journalist 1897. Zuvor war die Heide als Landschaft verschrien, durch die man tunlichst nicht reiste. Ständig blieben die Kutschen in dem sandigen Boden stecken. Doch durch seine Heimatgedichte veränderte Löns das Image der ganzen Region. Auf dem Wietzer Berg bei Müden wurde 1921 das erste von mehreren Löns-Denkmälern errichtet mit einem Reliefbild des Schriftstellers und eines der ersten Naturschützer Deutschlands.

Die Heide ist übrigens nicht urwüchsige Natur, sondern ein von Menschen geschaffenes Produkt. Es muss gehegt und gepflegt werden, damit es gegen den Waldwuchs bestehen kann. Die wichtigsten Helfer in diesem Zusammenhang sind die Heidschnucken. Sie fressen die jungen Baumtriebe und beißen somit alle Konkurrenten weg. Ein Schäfer arbeitet also in erster Linie als Landschaftspfleger. So sieht es auch Carl Kuhlmann, dessen Hof in Niederohe in der Südheide liegt. Dort können Besucher beim Eintrieb der Herde dabei sein; Kuhlmann nennt das Angebot „Rendevouz mit der Heidschnucke“, was seine Liebe zu den Tieren verdeutlicht. „Schnucken sind viel eleganter als andere Schafe, nicht so träge, nicht so fett,“ sagt Kuhlmann. Zehn Kilometer spaziert er jeden Tag mit seinen 800 Tieren durch die Gegend. Was ihr Fressen angeht, sind die Tiere durchaus anspruchsvoll. Das Wort Schnucke kommt von Schnökern, was so viel bedeutet wie Naschen. Abwechslung muss also auf den Speisezettel. Heidekraut, Gräser, Wildkräuter, junge Baumtriebe. Wenn es irgendwo etwas Leckeres gibt, findet einer der Gourmets es heraus und verbreitet die gute Nachricht an die anderen. „Ein einzelnes Schaf mag vielleicht dämlich sein“, sagt Kuhlmann. „Aber die Gemeinschaft weiß viel.“

Vielleicht bekam Mark Zuckerberg seine Idee für Facebook beim Wandern in der Lüneburger Heide.