Eine neue Regierung bewirkte 2008 ein Umdenken im Verhalten zu Mutter Erde. Daraus entwickelte sich der Öko-Tourismus. Auch die Indios profitieren endlich

Zu viert in einem offenen Drahtseilkäfig über den Dschungel zu sausen, das braucht schon ein bisschen Mut. Unter uns ein gigantischer Teppich aus dunkelgrünen Urwaldwipfeln bis zu den Bergen am Horizont. Endlos möchte man so weiterschauen, aber nach 530 Metern heißt es aussteigen, die handbetriebene Seilbahn fährt zur Waldstation zurück. Weiter geht es zu Fuß auf holprigen, teilweise steilen Pfaden zu den sieben Wasserfällen im Bergnebelwald von Mindo-Nambillo.

„Alle Baumriesen mit ihren Stelzwurzeln oder Brettwurzeln kämpfen ums Licht“, sagt unser Begleiter Boris Siebert, ein deutscher Anthropologe, der seit Langem in Ecuadors Hauptstadt Quito lebt und sich mit Tropenpflanzen auskennt. Besonders die Würgefeige beeindruckt uns. Sie setzt sich von oben auf die Baumkrone eines mächtigen Wirtsbaums, überwuchert ihn nach und nach mit langen Luftwurzeln, umwickelt ihn immer fester und erwürgt ihn schließlich. So erobert sie sich einen Platz im schier undurchdringlichen Dschungel. „Bei manchen Schlingpflanzen ist es allerdings eine Selbstmordaktion“, sagt Siebert, „die sterben mit dem Wirtsbaum.“

Als wir den ersten Wasserfall erreichen, durchbricht die Sonne das dichte Baumkronendach. Orchideen verstecken sich im Gebüsch, azurblaue Morphofalter flattern davon. Rauschend stürzt das Wasser herunter aus dem Pichincha-Gebirge. Jeder dieser Wasserfälle ist anders, der eine mehr fürs Auge, der andere mit einem Naturbecken zum Baden geeignet, den dritten muss man sich vorsichtig balancierend über Baumstämme und glitschige Steine erst erobern.

Der Bergnebelwald gehört zu einem der eindrucksvollsten Naturschutzgebiete Ecuadors, dem 19.200 Hektar großen Bosque Protector Mindo-Nambillo. Außer dem bis zu 2000 Meter hoch gelegenen Nebelwald umfasst dieses Schutzgebiet auch feuchtwarme, subtropische Regenwälder und zieht sich hinauf bis zu den schroffen Kraterwänden des Vulkans Guagua Pichincha auf über 4000 Meter Höhe. Aus diesen unterschiedlichen Waldformen erklärt sich die hohe Biodiversität der Flora und Fauna, die aufzuspüren man tagelange Wanderungen brauchte. Der kleine Ort Mindo, der sich über Jahre den Schutz seiner Nebelwälder gegen die Verlegung von Ölpipelines erkämpfen musste, bietet sich als Ausgangspunkt für Exkursionen an. Für Vogelbeobachtungen ist das Gebiet hervorragend geeignet. Seiner etwa 500 Vogelarten wegen, darunter rote Andenfelsenhähne, Tukane, Bergfasane, Papageien, Kolibris, Haubenspechte, Habichte, Eulen, Wildenten und Quetzals, wurde der Wald zu einem der bedeutendsten Vogelschutzgebiete Südamerikas erklärt.

Wir haben das Glück, ein kleines Vogelparadies in dem 350 Hektar großen Privatreservat der Sachatamia Lodge zu erleben. Sie liegt auf einem Berg hoch über dem Dorf Mindo, in direkter Sicht auf den Vulkan Pichincha. Kolibris in allen Formen und Farben schwirren zu den Futterstellen rund ums Restaurant, sogar ein Tukan lässt sich in einer Baumkrone blicken. Abends nach dem Dinner, wenn wir auf Naturpfaden mit Taschenlampen zu unseren im Gelände verstreuten Bungalows zurückkehren, quaken Frösche im feuchten Nebelwald.

Wenn die Mutter weint, weint das Kind auch

Zwei Kilometer außerhalb von Mindo kann man sich an handtellergroßen Schmetterlingen mit riesigen, gelb umrandeten, schwarzen Augen ergötzen. Sie werden in Ecuadors größter Schmetterlingsfarm Mariposario aufgezogen, neben 25 anderen Arten. Taucht man den Finger in etwas Zuckerwasser und streckt die Hand aus, lässt sich gleich ein Prachtexemplar auf der Fingerspitze nieder. 1200 Schmetterlinge in allen Regenbogenfarben flattern durch den Garten dieses Familienbetriebs, der einen Teil seiner Aufzucht der Wildnis zurückgibt – als Beitrag zum Artenschutz in der Region.

Nach dem Amtsantritt des linken Präsidenten Rafael Correa wurde 2008 eine neue Verfassung verabschiedet, in der die „Rechte der Natur“ verankert sind. „Es ist das Konzept des ‚guten Lebens‘ – auf Quechua ‚sumak kaesay‘ – in der Weltsicht der Indigenas, der indianischen Bevölkerung Ecuadors“, sagt Boris Siebert. Betont wird das harmonische Zusammenleben zwischen Mensch und Natur. In der Verfassung des Landes ist Pachamama, Mutter Erde, eigens erwähnt. 64 Prozent der Bevölkerung haben dieser Verfassung zugestimmt.

Unterwegs in diesem kleinen Land auf der „Mitte der Welt“ ist man immer wieder fasziniert von der Grandiosität der Natur. Der Anblick schneebedeckter Vier- und Fünftausender-Vulkane begleitet einen auf vielen Strecken. So auch auf der Fahrt gen Norden nach Otavalo am Fuße des Cayambe, Imbabura und Cotacachi. Die Stadt wird mehrheitlich von Indigenas bewohnt. Berühmt ist der Sonnabendmarkt auf der Plaza del Poncho, der als eines der größten Handelszentren für Kunsthandwerk in Lateinamerika gilt. Auch wir streifen ein wenig zwischen naiven Gemälden, bemalten Masken, grellbunten Decken und Taschen umher, eine gute Gelegenheit, ein paar Souvenirs einzukaufen.

Keinesfalls verpassen sollte man frühmorgens den Mercado de Animales, den Tiermarkt der Indios. Da ziehen Frauen in weiten Röcken, geflochtene Zöpfe unterm steifen Hut bis zur Taille, quiekende Ferkel und Schweine an der Leine hinter sich her. Wenn sich die Tiere sträuben und vor Angst in den staubigen Boden krallen, hagelt es Stockschläge. Ein Bauer im Poncho wacht breitbeinig über seinen zwei Gänsen. Eine Frau im Kapuzenmantel verkauft aus einem Sack junge Hunde, eine andere Küken im Pappkarton. Kampfhähne werden begutachtet, Lamas, Schafe oder Meerschweinchen gehandelt. Eine Welt, die uns fremd ist, auch ein bisschen erschreckt.

Vulkane sollen familiäre Beziehungen haben

Wer das Leben und die Kultur der Menschen in dieser Region näher kennenlernen möchte, kann in einer Dorfgemeinschaft übernachten und begleitet von Einheimischen Tagesausflüge oder Trekkingtouren in der betörend schönen Umgebung von Otavalo unternehmen. „Runa Tupari“ (Menschen treffen sich) heißt die Organisation dieses gemeindenahen Tourismus, die bereits vor zwölf Jahren gegründet wurde und bisher 16 Indigenas-Familien in ländlichen Gemeinden ein Zubrot ermöglicht. Im vergangenen Jahr haben 2700 Gäste aus Europa und den USA eine Unterkunft bei Runa Tupari gebucht.

„Wir bieten zum Beispiel Touren zum Thema Kunsthandwerk oder zu Heilpflanzen, Spiritualität und Schamanismus an“, sagt Geschäftsführer Fausto Gualsaqui. „Außerdem kann man zum Cuicocha-See wandern, radeln oder reiten, und eine anspruchsvolle Tour geht zu den Mojanda-Lagunen bis zum Fuya-Fuya hinauf.“ Auch eine zehnstündige Besteigung des knapp 5000 Meter hohen Vulkans Cotacachi steht auf dem Programm – eine abenteuerliche Herausforderung auf Alexander von Humboldts Spuren, der bei seinen Forschungsreisen in Ecuador vor gut 200 Jahren gleich mehrere Vulkane bezwang.

Auf der Fahrt nach Papallacta sehen wir die schneebedeckte Spitze des Cotopaxi, die Humboldt für die vollkommenste unter allen der kolossalen Vulkane der Anden hielt. „Die Indigenas betrachten die Beziehungen der 18 aktiven Vulkane untereinander wie die in einer Familie – als Vater, Mutter, Kinder, Witwe, Ehemann“, berichtet Boris Siebert unterwegs. Der Guagua Pichincha zum Beispiel wird das Kind des Vulkans Tungurahua genannt, der seit August vergangenen Jahres wieder Lava und Asche speit. „Wenn die Mutter weint, weint das Kind auch“, sagen die Indios. So war es jedenfalls auch beim jüngsten Ausbruch.

Nebel zieht auf, umhüllt geheimnisvoll die endemischen Polylepisbäume längs der Straße, die bis zu einem 4000 Meter hohen Pass ansteigt. „Vorsicht, Bären kreuzen“ steht auf einem Schild. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wir das Dörfchen Papallacta am Fuße des 5704 Meter hohen Vulkans Antisana, von den Indios „der Schüchterne“ genannt. In der Dämmerung stapfen wir an einem wasserfallartigen Wildbach entlang, der Pfad ist aufgeweicht und glitschig, die Bäume von Brumelien und gelb-roten Lukretias überwuchert, dazwischen geisterhafte weiße Flechten.

Ein wenig schwindlig ist uns in der Höhe, und es ist kalt geworden. Doch ein göttliches Thermalbad wartet auf uns, in Natursteinbecken aufgeteilte Pools mit Wasser von 36 bis 40Grad, es rauscht und dampft in der Dunkelheit, die verhaltenen Stimmen der Badenden in einer magisch anmutenden Szenerie. Ewig möchte man im mineralhaltigen Heilwasser aus dem Antisana-Vulkan weiterplanschen, in der gewiss schönsten Therme Ecuadors.