Grüne Hügel und romantische Ruinen: Die Grafschaft der ältesten Stadt in Wales gehört wegen ihrer kriegerischen Geschichte zu den burgenreichsten Landschaften der Welt. Bewohner erzählen Legenden.

Blökend hoppeln die Schafe fort, als wir näherkommen. Ihr Fell ist mit Regenwasser so vollgesogen wie die grüne, hügelige Landschaft um uns herum. Triefend nass wie meine Schuhe, mein Haar, meine Regenkleidung und mein Mann, der sich Mühe gibt, seine miese Laune zu verbergen. Er ist hier in der Gegend aufgewachsen und findet, er habe schon genug schlechtes Wetter für mehrere Leben abbekommen.

Ich hingegen bin einfach glücklich. „Wales ist grün mit weißen Punkten“, heißt es über dieses Land, das zwei- bis dreimal so viele Schafe wie Einwohner hat. Der Regen gehört eben dazu wie die konsonantenreiche keltische Sprache, das Meer und die wildromantischen Burgruinen und Cottages, in deren Gärten Palmen wachsen – der Golfstrom ist nicht weit. Ohne den Regen wären die Hügel nicht so grün wie mit Neonmarker angemalt, so strahlend, dass es unecht aussieht, wenn die Sonne scheint – auch das kommt vor.

Ein alter Friedhof wird überquert. Hinter den keltischen Kreuzen mit walisischen Namen liegt die einsame Kirche Dinefwr aus grauen Steinblöcken, dicht bewachsen mit Efeu, Moos und Flechten. Ein unwirkliches Bild im diffusen Licht des Sprühregentags. Gleich tritt Merlin aus dem Wald hinter der Kirche hervor, oder Ritter Owain, denke ich. Seen, Steine, heilige Bäume – hier in Südwestwales ist die Landschaft mit der Artus-Sage eng verwoben.

Durch den dichten Burgwald Castle Woods mit 300 Jahre alten Baumriesen wandern wir bergauf bis zur Burgruine auf der Spitze des Hügels. Im 12. Jahrhundert war Dinefwr Castle Sitz der einflussreichen walisischen Prinzen des Königreichs Deheubarth. Heute ist die einstige Festung des Herrschers Rhys ap Gruffydd eine unscheinbare Ruine, von der Größe her nicht zu vergleichen mit den mächtigen Burgen der Normannen, die in dieser Umgebung die Mehrheit ausmachen. Sie wirkt geradezu klein gegen die spektakuläre Ruine von Carreg Cennen Castle ganz in der Nähe, der Legende nach einst Sitz des Artusritters Owain. Doch Dinefwr Castle hat eine spannende Geschichte und einen atemberaubenden Blick.

Wir klettern zum Turm hinauf und laufen auf den Burgmauern entlang. Weit unter uns erstreckt sich das Tal des Flusses Tywi (englisch: Towy, ausgesprochen: Tau-i), umgeben von grünen Hügeln, bevölkert von Schafen und seltenen Vögeln. Auf der anderen Seite schimmert Newton House zwischen den Bäumen hervor. Der Wohnsitz des Lord Rhys, 1660 erbaut, soll verwunschen sein und ist Star einer Fernsehserie über Spukhäuser. Gepflegte Wege führen durch den Park, in dem historische Rinderrassen grasen.

In den Markthallen im Ortszentrum hört man die keltische Sprache

Im Städtchen Llandeilo bummeln wir durch Shops und trinken Tee, bis wir wieder halbwegs trocken sind. Dann folgen wir dem Lauf des Flusses Tywi auf der Landstraße A 40. Links liegt der Gelli Aur Country Park, auf Englisch Golden Grove. Wanderwege rings um einen historischen Landsitz laden zu Streifzügen durch die Umgebung ein. Schräg gegenüber liegt die walisische Burgruine Dryslwyn, die ebenfalls einen schönen Blick auf das Tal des Tywi bietet, auf einem Hügel. 1287 war die Festung Schauplatz einer Belagerung, als der letzte walisische Herrscher Rhys ap Maredudd gegen den englischen König Edward I. revoltierte und verlor. Am anderen Ufer ragt Paxton’s Tower auf, noch ein Aussichtspunkt mit Blick auf die Flussebene und die Botanischen Gärten. Mindestens vier Geschichten ranken sich um den Bau des neogotischen Ziertürmchens, ein eitles Spaßprojekt des schottischen Bankers Sir William Paxton aus dem frühen 19. Jahrhundert. Einer zufolge ließ er es nach einem verlorenen Wahlkampf aus Trotz mit dem Geld errichten, das er den Bürgern von Dryslwyn für eine Brücke über den Tywi versprochen hatte.

Carmarthen (auf Walisisch: Caerfyrddin), Hauptstadt der Grafschaft Carmarthenshire, blickt auf eine rund 2000-jährige Geschichte zurück und nennt sich die älteste Stadt in Wales. „Schon die alten Römer siedelten hier, als Britannien noch römische Provinz war, genau hier in der Umgebung der Spilman Street“, sagt Austin Davis, Besitzer des Spilman Hotels, beim Plausch im Kaminzimmer. Mit uns spricht er Englisch, mit Sohn Evan und dem zehnjährigen Enkel Ryan, die an der Rezeption die Stellung halten, Walisisch.

In den Markthallen im Ortszentrum hört man die keltische Sprache, in der „Vielen Dank“ „Diolch un fawr iawn“ heißt, noch oft, wenngleich Englisch überwiegt. Stände mit Büchern reihen sich an solche mit keltischem Schmuck, Mineralien oder Kleidung, Geschenkartikeln oder Essbarem wie Cornish Pasties (herzhaft gefüllte Teigtaschen). Morwen Davies verkauft Welsh Cakes, flache Kuchen mit Rosinen, am Stand der Bäckerei Richardson aus dem nahen Dorf Llansteffan. Stolz zeigt sie uns den berühmten Etta’s Royal Cake: „Das ist Prinz Charles‘ Lieblingskuchen, den hat er bei uns für seine Hochzeit mit Camilla bestellt!“

Natürlich hat das Marktstädtchen am Tywi auch eine normannische Burgruine mit Blick auf den Fluss. Gareth Davis, Angestellter der Verwaltung von Carmarthen, will gerade die Tore abschließen und gerät mit uns ins Plaudern – auch das ist typisch für Wales. „Früher nannte man diesen Hügel auch Prison Hill, weil hier ein Gefängnis war. Bei Hängungen konnte man Zimmer mit Blick auf den Galgen mieten.“ Bald sind wir bei der Artus-Legende angelangt, der Frage, ob Camelot nicht sogar in Carmarthenshire gelegen habe und der Zauberer Merlin der Legende nach in der Nähe geboren worden sei.

Wir ziehen weiter ins The Plume of Feathers. Es ist der kleinste Pub in Wales. Lustigerweise ist es ein Rugby-Pub, obwohl kein Team hier hineinpassen würde. Signierte Bälle, Trophäen und Hemden berühmter Spieler gehören zum Deko-Sammelsurium der gemütlichen Kneipe. Schnell kommen wir mit Miriam hinter der Bar und den Gästen ins Gespräch. Giles und seine Kumpels, alle aus Carmarthen, prosten meinem Mann zu, der über ein Pint gutes Bitter sein Regen-Trauma überwunden hat. Wir gehen, bevor wir so alkoholisiert sind wie der berühmte walisische Dichter Dylan Thomas, eine Art Proto-Hippie, der im benachbarten Küstenstädtchen Laugharne lebte und sich oft in den Pubs von Carmarthen betrank. Kommendes Jahr wird das Jubiläum seines 100. Geburtstags in ganz Wales mit vielen Events gefeiert.

Das Dorf ist ruhig und abgelegen, der ideale Ort für Exzentriker

Am nächsten Tag ist das Wetter freundlich, grellgrün leuchten die Hügel mit den weißen Punkten. Ziel ist einer unserer Lieblingsorte: Llansteffan (ausgesprochen: Chlan-Stefan), ein kleines Dorf auf einem Berg mit einer alten normannischen Kirche. Die Burgruine aus dem 12. Jahrhundert, die dramatisch auf einem steilen Fels über dem Dorf thront, bietet einen unvergesslichen Blick über die weiten Sandstrände an der Mündung des Tywi, der hier in die Bucht von Carmarthen fließt.

Bevor wir hinaufsteigen, wird Father Philip ein Besuch abgestattet, dem Pastor der Kirche St. Ystyffan. Er ist in Carmarthen geboren und kehrte nach langen Jahren in Liverpool, Sri Lanka und als Schiffspastor zurück nach Wales. „Ich liebe dieses Dorf“, sagt er. „Die Landschaft hat schon immer Dichter und Maler angezogen – und tut es bis heute, so wie Osi Osmond, der unten in dem alten Viehrondell sein Studio hat. Das Dorf ist ruhig und abgelegen, der ideale Ort für Exzentriker, Künstler und Menschen auf der Flucht vor dem FBI.“

Auf dem Weg zur Burgruine taucht Osi auf, der uns in ein kurzes Gespräch über Kapitalismus verwickelt – nicht, dass wir ihn vorher gekannt hätten, aber im kleinen Dorf hat sich die Kunde von dem Paar aus Deutschland wie ein Lauffeuer verbreitet, und die Leute sind plauderfreudig. Beeilung tut not, denn nach dem Besuch der Burgruine möchten wir den steilen Weg durch den Wald bis zum Strand hinuntersteigen und am Wasser entlanggehen, mit Blick auf das Dorf Ferryside auf der anderen Seite der Mündung. Am 31. August werden beim jährlichen „Welsh Open Water Estuary Swim“ bis zu 100 Teilnehmer die zwei Kilometer hinüberschwimmen.

Außerdem will ich noch Kidwelly wiedersehen, ein pittoreskes Städtchen an der Bucht von Carmarthen. Kidwelly Castle ist eine der besterhaltenen normannischen Burgen in Wales und historisch eine der am meisten umkämpften. Wir schlendern durch das Stadttor aus dem 15. Jahrhundert, in dem Tauben nisten, gehen an mittelalterlichen Cottages und viktorianischen Arbeiterhäusern vorbei und stehen schließlich vor der grauen Festung. Hier soll die walisische Kriegerprinzessin Gwenllian nach ihrer verlorenen Schlacht gegen die Normannen 1136 geköpft worden sein. William Turner malte Kidwelly Castle gleich zweimal, die britische Komikergruppe Monty Python verewigte es in ihrem Film „Die Ritter der Kokosnuss“. Wir kaufen Eintrittskarten im Castle Shop, in dem man auch Grußkarten aus Schafdung kaufen kann, überqueren den Burggraben und tauchen ein in eine andere Welt.

Wie überall in Wales sind die Schilder zweisprachig, Walisisch und Englisch. Die in Kidwelly mag ich besonders wegen ihres Wappentiers. Es ist nicht der walisische Drache, sondern eine Katze. Auch dazu gibt es diverse Geschichten, meine Lieblingsvariante: Nach einer der vielen Schlachten im 12. Jahrhundert war die Stadt vollkommen zerstört. Die Bürger kamen aus der Burg, in der sie sich verschanzt hatten, und durchsuchten die Asche. Dabei fanden sie eine schwarze Katze, eingeklemmt in den Trümmern. Sie adoptierten das Tier als Symbol der Hoffnung.