Trotz Multipler Sklerose wollte der Hamburger Gerd von Mossen die Welt erkunden. Seine Frau Gisela hat über die abenteuerlichen Touren ein Buch geschrieben – es soll anderen Betroffenen Mut machen.

Es ist ein frühes Schicksal, das Gerd von Mossen ereilt und sein ganzes Leben prägen wird. Gerade frisch verliebt, eine Karriere als Ingenieur vor sich, erhält er die Diagnose Multiple Sklerose. „Als wir uns kennenlernten, war mein Mann 20, und ich war 19“, erzählt Gisela von Mossen. „Nur vier Jahre später erfuhr er von seiner Erkrankung. Er sagte zu mir: ‚Ich kann verstehen, wenn du jetzt gehst.‘“ Aber daran war für die junge Sekretärin aus Nienburg an der Weser nicht zu denken. Sie heirateten, bekamen zwei Töchter – und wussten da noch gar nicht, dass die eigentliche, die ganz große Reise, erst noch losgehen sollte. Trotz wenig Mut machender Aussichten.

Gerd von Mossen hat Glück im Unglück. Die Krankheit, die das zentrale Nervensystem durch Entzündungen im Gehirn und im Rückenmark angreift, kommt bei ihm nicht schubweise, sondern schleichend. Selbst Symptome wie Taubheitsgefühl in den Armen und Beinen können ihn nicht von seinem Traum, als Ingenieur zu arbeiten, abhalten, er wird Geschäftsführer bei Bauunternehmen, zunächst in Oldenburg, dann in Hamburg und Düsseldorf. Zunächst am Gehstock, später dann mit dem Auto klappert ihr Mann die Baustellen ab. „Wir waren beide unglaublich optimistisch“, sagt Gisela von Mossen. Auf Raten des Arztes machen beide dann aber doch einen Reha-Aufenthalt. Und der wird zum Schlüsselerlebnis: „Dort sahen wir lauter Betroffene, auch sehr viel Jüngere, die so wirkten, als hätten sie längst aufgegeben“, sagt Gisela von Mossen. „Danach beschloss mein Mann: ‚So will ich niemals leben!‘“ Das Ehepaar genießt das Leben in vollen Zügen, geht ins Theater, ins Kino, unternimmt Reisen. „Es geht, wenn man nur den Mut nicht verliert“, wird zu ihrem Credo.

1976, während ihrer Zeit in Hamburg, erfüllen sie sich einen ersten großen Traum, kaufen eine Motoryacht, inspiriert durch einen Urlaub am Wörthersee. „Abenteuer auf Bootsplanken“ heißt das Buch, in dem Gisela von Mossen schildert, was die vierköpfige Familie auf dem Motorschiff „Gimoga“ (eine Abkürzung der weiblichen Vornamen Gisela, Monika, Gaby) erlebt. Von gemütlichen holländischen Kanälen über ein missglücktes Pfingst-Wochenende bis zur stürmischen Rundung von Fünen – auf diese Tour sind die von Mossens besonders stolz, weil viele ihrer Club-Kameraden die nicht schafften. Über Fünen schreibt die Bordfrau: „Keine Menschenseele weit und breit, nur das leicht gekräuselte, sonnenglitzernde Meer, ein wolkenloser Himmel, weiße Möwen, die in ruhigem Gleitflug dahinsegelten, dazu wie immer passende musikalische Untermalung, je nach Lust und Laune aus den beiden Lautsprechern oder auch mal wieder ‚handgemacht‘ mit der Mundharmonika; meine Güte, war das Leben schön!!!“

Nach der Motoryacht kommt das Wohnmobil

So schön es auf dem Wasser ist – oft kann die „Gimoga“ wegen schlechten Wetters nicht auslaufen. Zu oft, finden irgendwann Skipper und Bordfrau und tauschen 1983 das Boot gegen ein komfortables Wohnmobil. In den Urlauben bereisen sie damit von Düsseldorf aus die Welt: zunächst die Türkei, das ehemalige Jugoslawien, Schottland, Skandinavien, Griechenland, Tschechien. Später als Rentner gehen sie mit gemieteten Mobilen auf weiter entferntere Reisen in die USA, nach Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika.

War das erste Buch zum reinen Vergnügen für Wasser-, aber ebenso auch für Landratten geschrieben, will sie mit ihrem zweiten Buch anderen Betroffenen Mut machen. „Es ist ausgesprochen wichtig, seine Krankheit anzunehmen und optimistisch in die Zukunft zu schauen“, schreibt die Autorin im Vorwort. „Dann ist auch ein Leben mit Behinderung durchaus lebenswert!“ In Deutschland leben laut Deutscher Multiple Sklerose Gesellschaft mehr als 130.000 Erkrankte; jedes Jahr wird bei rund 2500 Menschen MS neu diagnostiziert. „Wir hätten damals gerne so ein Buch in Händen gehalten“, sagt Gisela von Mossen. Stattdessen haben sie ihr eigenes Lebenswerk geschrieben: „Mit dem Wohnmobil durch die Welt – trotz Rollstuhls im Gepäck“. Dass die Diagnose Multiple Sklerose nicht automatisch ein Leben in Stillstand und Isolation bedeutet, kann man auf 1117 Seiten nachlesen.

Ihr Mann beispielsweise wehrte sich bis 1991 dagegen, einen Rollstuhl anzuschaffen. „Er sagte immer: ‚Wenn ich da erst mal drinsitze, komme ich nie wieder raus.‘“ Erst eine Tour durch die Staaten brachte ihn auf den Geschmack: „Wir mieteten einen Rollstuhl und kamen so automatisch immer als Erste zu den vielen Sehenswürdigkeiten. In Amerika nimmt man viel mehr Rücksicht auf behinderte Reisende. Das war eine ganz neue Lebensqualität!“ Auch kann ihr Mann, der durch die Krankheit nicht mehr als 50 bis 100 Meter Gehweg am Tag schafft, nun viel mehr von der Landschaft erleben – die Kombination aus Wohnmobil und Rollstuhl erweist sich als die perfekte Urlaubsform für die beiden.

Eine Nil-Kreuzfahrt ist die erste Reise mit eigenem Rollstuhl. „Auf der Fahrt von Kairo bis zum Assuan-Stausee wurden wir so zuvorkommend behandelt, dass wir total begeistert waren“, erzählt Gisela von Mossen. „All unsere Zweifel, ob wir jemandem zur Last fallen oder ob wir von dem Programm überhaupt etwas mitmachen können, waren wie weggewischt. Wir bekamen immer mehr Hilfe, als wir nötig hatten.“ Nicht einmal den Rollstuhl braucht Gisela von Mossen zu schieben; Passagiere und Bordpersonal streiten sich förmlich darum. Sogar den Ausflug in die Wüste kann Gerd von Mossen so mitmachen.

Jedes Jahr nimmt das Paar sich ein anderes Reiseziel vor

Danach geht es immer weiter, „jedes Jahr nahmen wir uns ein anderes Ziel mit unserem Wohnmobil vor“. Insgesamt legen sie 180.000 Kilometer mit ihrem eigenen Auto zurück, 50.000 Kilometer sind es noch einmal mit Mietwagen. „Das ist fast sechsmal um die ganze Welt“, sagt Gisela von Mossen stolz. Ob sie sich beim Fahren abgewechselt hätten? „Zuerst ja, aber dann stellte sich heraus, dass mein Mann überhaupt kein Routenleser war, Verfahren war also programmiert“, erzählt die heute 79-Jährige und lacht. „Aber Autofahren konnte er ausgezeichnet trotz der Krankheit. Die Rollenverteilung war also klar.“ Am liebsten hätten sie in freier Natur übernachtet, nur in den Nationalparks fuhren sie sogenannte Camp Grunds an. Große Vorbereitungen hätten sie kaum getroffen, lieber seien sie einfach losgefahren. So auch nach Neuseeland: „An das schönste Ende der Welt – so tolle Farben habe ich nie wieder gesehen!“

Wenn Gisela von Mossen erzählt, hat man nie einen schwer kranken Rentner im Rollstuhl mit seiner Frau vor Augen, sondern zwei extrem rüstige und lebensfrohe Rentner, die ihren Ruhestand als großes Abenteuer begreifen. Auch als Gisela von Mossen an Brustkrebs erkrankt und operiert werden muss, bremst das nicht ihre Lust aufs Leben. Mit ihrer letzten großen Tour im Jahr 1999, die die beiden 6000 Kilometer durch den Mittleren Westen der USA führt, haben sie alle Ziele auf ihrer Wunschliste abgehakt. Auf Raten seiner Kinder zieht das Paar 2005 nach Hamburg, damit alle in einer Stadt wohnen, und lebt hier zusammen bis 2011, bis Gerd von Mossen mit 77 Jahren stirbt. „An Leukämie in einem Hospiz“, wie die Witwe erzählt.

Auch dafür sei sie dankbar, dass ihr Mann trotz der Krankheit so viel erleben konnte und bis zum Schluss so liebenswürdig begleitet wurde. Weite Reisen unternimmt sie heute nicht mehr. Dafür haben ihre Töchter und Enkel anscheinend das Reisefieber geerbt. Und wenn Gisela von Mossen doch mal wieder das Fernweh packt, blättert sie im Buch und schwelgt in Erinnerungen. Oder sie guckt einfach von ihrem Balkon aus auf die Elbe und den Hafen – irgendein großes Schiff kommt da immer vorbei.