Einst eine Mutprobe für Söhne der Fischer, ist das Klippenspringen vom Quebrada-Felsen mittlerweile Profession - aber niemals Routine.

Er geht zur Kante, streckt seinen athletischen Körper, wippt kurz auf den Zehen - und schaut hinab. Über ihm funkeln die Sterne, neben ihm surren kopfgroße Strahler, die das Plateau, auf dem er steht, erleuchten. Tief unten, 35 Meter hinab, klatschen die Wellen des Pazifiks an die Felsen der Schlucht. Es klingt wie lautes Schmatzen. Sieben Meter ist der Spalt breit, in den er hineinspringen will, und jetzt mit der Strömung sollte das Wasser mindestens vier Meter tief sein. Ob das so ist, weiß er nicht. Was er weiß: Wenn ihn die Brandung im Stich lässt, wird er diesen Sprung mit großer Wahrscheinlichkeit nicht überleben. Denn, da muss man sich nichts vormachen: Mit rund 90 Stundenkilometern auf einen Felsen zu prallen, dafür ist kein menschlicher Körper gebaut. Moy ist einer von derzeit 25 Klippenspringern in Acapulco, und er vertraut auf höhere Kräfte. Kurz zuvor hat er vor der Marienfigur gekniet, die auf dem Plateau thront, er hat sie geküsst, sich bekreuzigt, einmal, zweimal, dreimal. Man merkt, dass dieser Moment keine Showeinlage ist, sondern dass ihm diese Minuten wirklich schwerfallen. Primetime am "La Quebrada"-Felsen.

In der Bucht liegen drei Motorboote vor Anker mit Zuschauern an Bord, auf der Landseite schmiegt sich das Hotel El Mirador mit dem einst so mondänen Nachtklub La Perla in den Hang, in den 50er- und 60er-Jahren Treffpunkt des internationalen Jetsets. Von John Wayne, Errol Flynn und Gary Cooper über Elizabeth Taylor bis zu Rita Hayworth, Horst Buchholz und Johnny Weissmüller waren sie alle gern und oft gesehene Gäste. Gegründet und gemanagt wurde das La Perla von Teddy Stauffer (1909-1991), Schweizer Bandleader und Playboy. Der ließ sich nach seiner Ausweisung aus dem nationalsozialistischen Deutschland in Acapulco nieder und gab den Felsenspringern Geld, damit die seine Gäste mit ihren Sprüngen unterhielten.

Heute ist das La Perla ein Restaurant, und an den Tischen sitzen Touristen. An den Wänden erinnern vergilbte Fotos der Partygemeinde an bessere Tage. Auch die berühmtesten Klippenspringer werden hier gewürdigt: ein gewisser Raúl García Bravo soll 37.348-mal von dem berühmten Felsen gesprungen sein. Nur wenige Tische sind besetzt, selbst die meisten Plätze an der Balustrade mit bester Sicht auf die Klippenspringer sind noch frei. "Die Kunden bleiben weg", klagt ein Fremdenführer, der während der Show auf dem Parkplatz auf seine Gäste wartet, die im Restaurant speisen, "sie haben Angst, herzukommen. Die Drogen sind schuld." Was er meint, ist Mexikos Drogenkrieg, der das Image bewirkte, ein von Bandenkriminalität geprägtes, unsicheres Land zu sein.

Einen der Tische im La Perla besetzen ein Mann und eine Frau, beide Anfang 70. Dass sie aus Deutschland kommen, verraten ein Deutsch-Spanisch-Wörterbuch und Mexiko-Reiseführer auf dem Tisch. "Wir fühlen uns absolut sicher, mit Drogen haben wir ja nichts am Hut", sagt die Frau aus Hamburg, und ihr Mann ergänzt: "Wir haben eine Liste mit Vorsichtsmaßnahmen anderer Art." Und welche sind das? "Erstens auf Eiswürfel in Getränken verzichten, zweitens keinen Salat essen oder Früchte vom Markt." Keine Frage: Ihre Angst ist größer, an Montezumas Rache, dem berühmt-berüchtigten Reisedurchfall, zu erkranken, als zwischen die Fronten rivalisierender Banden zu geraten, die sich - so warnt jedenfalls das Auswärtige Amt - leider auch in Acapulco manche Fehde liefern.

Der Kellner bringt Cocktail-Gläser, in denen schwimmen Eiswürfel. Als die Urlauberin das bemerkt, fischt sie das Eis mit der Gabel aus ihrem Getränk. Ihr Mann bestellt ihr ein Glas Rotwein. "Wir passen jetzt besser auf", sagt er, "gestern waren wir auf dem Markt und haben aus Versehen frisch gepresste Säfte getrunken: Rote Bete und Kaktus - das trinkt man aus einem durchsichtigen Plastikbeutel, in dem ein Strohhalm streckt. Passiert ist verdauungstechnisch zum Glück nichts." Richtig gemacht haben die Urlauber in jedem Fall eins: Wer das echte Acapulco erleben möchte, geht auf den Zentralmarkt an der Straße Feliciano Radilla. Der Geruch ist schwer definierbar, eine Mischung aus Frittiertem, Pflanzen und Fisch. In der einen Ecke stehen Eimer voller Meerestiere, in der anderen hängen aneinandergereihte Töpfe und Pfannen von der hohen Decke, dahinter stapeln sich Packungen von Hundefutter, Toilettenpapier und CDs. Ein paar Schritte weiter werden getrocknete Käfer angeboten, die helfen laut Verkäufer gegen Diabetes. Vier Männer hocken auf einer Mini-Version von Plastikstühlen um einen niedrigen Tisch herum und spielen Karten, hier und da zetern Verkäuferinnen um die Wette. Kinder tollen zwischen wackligen Verkaufstischen, andernorts tischt eine Großfamilie auf genau so einem das Mittagessen auf. Alltag in Acapulco.

Während das Hamburger Ehepaar seine Speisen im La Perla bestellt und dabei das Personal in gebrochenem Spanisch darum bittet, die Salatbeilage wegzulassen, steht Moy in knapper roter Badehose am felsigen Abgrund. Der 26-Jährige stürzt sich täglich von den berühmten Felsen. Fünfmal am Tag, an 365 Tagen im Jahr. Trotzdem kann von Routine keine Rede sein. Denn was so leicht aussieht, bedeutet für ihn auch immer wieder ein Spiel mit dem Tod. Deshalb genießt er den Auftritt vor dem Auftritt umso mehr: Die Zeit vor den Shows verbringen die Klippenspringer am Eingang des Restaurants und im angrenzenden Souvenir-Shop. Daran muss jeder Besucher vorbei, ob er sich die Show vom La Perla aus anschaut oder von der Aussichtsterrasse. Von den Touristen lässt sich Moy feiern und fotografieren, erzählt immer wieder, wie stolz er sei, Klippenspringer zu sein. "Diesen Beruf sucht man sich nicht aus. In diesen Beruf wird man hineingeboren", sagt er. Er habe mit neun Jahren begonnen und sich langsam Felsvorsprung für Felsvorsprung bis an die Spitze auf 35 Meter hochgearbeitet. Das schaffe nicht jeder, sagt er, mancher habe nicht die Nerven dazu. Verletzungen? Finger gebrochen, geplatztes Trommelfell - Standard bei den Klippenspringern. Ein Mann in weißer Leinenhose und buntem Acapulcohemd kommt an den Tisch der deutschen Urlauber. Es ist der Fremdenführer vom Parkplatz.

Während seine Kunden im Restaurant speisen, schaut er immer bei ihnen vorbei, um sie mit Informationen zu füttern: "Der weltberühmte Klippensprung geht zurück auf eine alte Tradition der Fischer", sagt er, "die Netze hatten sich in der Schlucht vor dem Quebrada verfangen, und so sprangen Kinder vom Felsen ins Wasser, um sie zu lösen. 1934 ist daraus eine Mutprobe für Jungs geworden. Und dann kam Teddy Stauffer."

Die Zeiten, in denen die Klippenspringer ihr Leben für zwei Pesos riskierten, die ihnen Stauffer pro Sprung damals zahlte, sind vorbei. Seit den 80er-Jahren sind sie organisiert: Rund 70 Mitglieder zwischen 16 und 75 Jahren zählt die "Vereinigung der professionellen Springer der Quebrada". Sie bekommen ein festes Gehalt und vor allem eine Krankenversicherung und Altersversorgung, finanziert unter anderem durch den Verkauf von Souvenirs - auf denen die Verkäufer immer häufiger sitzen bleiben. Spätestens als in den 80er-Jahren der am Reißbrett entstandene Badeort Cancún auf der Halbinsel Yucatán Acapulco Konkurrenz machte, sank die Zahl internationaler Besucher rapide. Der Drogenkrieg im Land tat ein Übriges.

Heute ist alles wieder fest in mexikanischer Hand. Soll heißen: Abgesehen von den Kreuzfahrtpassagieren, die zum Landgang in die berühmte Stadt entfleuchen, und einigen Individualtouristen wird Acapulco vor allem von Wochenendbesuchern aus dem drei Autostunden entfernten Mexiko-Stadt angesteuert.

Aber es gibt Hoffnung. Der Glanz Acapulcos soll aufpoliert werden. Laut Fremdenverkehrsbüro sind derzeit Revitalisierungsmaßnahmen in Gang. Zu dem Paket gehören zum einen neue Hotelprojekte, die Verbesserung des Busnetzes in der Touristenzone und Honeymoon-Angebote von Luxus-Resorts. Zum anderen die Programme "Sicheres Nachtleben", "Sichere Straßen" und "Sichere Taxis". Ob es gelingt, die Stadt damit wieder zum Hotspot der Schönen und Reichen zu machen, wird die Zukunft zeigen. Derzeit bezaubert Acapulco mit morbidem Charme, der liebens- und erlebenswert ist. Nicht zu vergessen die weißen Strände, das Klima und die mexikanische Küche.

Während sich Moy noch am Abgrund auf seinen Absprung konzentriert, wird den Urlaubern das Essen serviert (ohne Salatbeilage). Moy tritt zurück. Er wirkt nervös, trippelt von einem Bein auf das andere. Die Zuschauer sind still. Ihre Blicke haften auf dem Klippenspringer, der dort oben im Scheinwerferlicht auf dem Felsplateau steht. Er dreht sich mit dem Rücken zum Abgrund. Geht in die Knie, um Schwung zu holen, stößt sich mit den Füßen ab - und fliegt. Rückwärts in die Tiefe.

Drei Sekunden freier Fall, sein Körper überschlägt sich und sticht schließlich mit den Füßen fast senkrecht ins Wasser. Die Gischt spritzt auf. Sekunden später lugt sein Kopf aus dem Wasser, ragen seine Arme heraus, er winkt. Erleichterter Applaus.