In der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Amazonas starten viele Kreuzfahrtschiffe zu Touren auf dem längsten Fluss der Welt.

Dreißig Minuten vor dem Einlass hat sich eine lange Schlange gebildet. Viele Familien mit Kindern, allesamt feierlich herausgeputzt, freuen sich auf die Geschichte vom kleinen Elefanten. Zuvor spielt ein Kammerorchester klassische Musik. Darsteller und Musiker sind Kinder und Jugendliche - sie begeistern ihr Publikum und ernten stürmischen Beifall.

Schauplatz des Geschehens ist das Teatro Amazonica in Manaus. Das weltberühmte Opernhaus wurde am Ende des 19. Jahrhunderts gebaut, als Manaus reich, sehr reich war. Es war die Zeit, in der man Gummi fast mit Gold aufwog und sich die Kautschuk-Barone prächtige Paläste in den Urwald bauen ließen. "Paris in den Tropen" wurde die Stadt damals genannt. Die Markthalle zum Beispiel - sie wird im Vorfeld der Fußball-WM 2014 gerade renoviert - entwarf kein Geringerer als Gustave Eiffel, und das Opernhaus nach Pariser Vorbild wurde mit allem ausgestattet, was gut und teuer ist.

Mit von der Partie war damals auch Waldemar Scholz. "Der deutsche Kaufmann, der den Rohstoff von Manaus aus in den Hamburger Hafen verschiffen ließ, zählte zu den reichsten Gummibaronen, und legendär sind die Geschichten über ihn", sagt Reiseführer Christoph. "Zu den Höhepunkten seiner ausschweifenden Gartenpartys gehörten die mit Champagner gefüllten Wannen, in denen zu später Stunde junge Damen badeten. Überliefert ist auch, dass er sich Zigarren mit 100-Dollar-Noten anzündete." Doch die Zeit des Gummi-Booms, wie sie der Regisseur Werner Herzog im Film "Fitzcarraldo" zeigte, war nach dem Fall des Kautschuk-Monopols vorbei. Scholz hat die Entwicklung wohl vorhergesehen, seine Besitztümer rechtzeitig verkauft und sich mit einer riesigen Summe Geldes aus dem Staub gemacht. Danach verliert sich seine Spur. Er sei erschossen und ausgeraubt worden, lautet eine Version. Eine andere berichtet, dass er sich 1915 in Deutschland das Leben genommen habe. Geblieben ist seine Villa mit 26 Zimmern, die er für seine Frau bauen ließ und in der jetzt ein Kulturzentrum seinen Sitz hat.

Heute ist Manaus Sonderwirtschaftszone, zahlreiche Unternehmen haben sich in der Urwald-Metropole, die zwei Millionen Einwohner zählt, angesiedelt. Für Touristen ist Manaus von Bedeutung, weil hier die meisten Exkursionen in das Amazonas-Gebiet beginnen oder enden.

Vom quirligen Flusshafen mit seinen unzähligen Holzbarken und den schwitzenden Lastenträgern legen auch die meisten Ausflugsboote ab. Die "Amazon Clipper", ein 32 Meter langes Kreuzfahrtschiff, wird für die nächsten acht Tage das schwimmende Zuhause für maximal 30 Gäste. Weil der Tiefgang des Bootes sehr gering ist, sind Fahrten auf den zahlreichen kleinen Nebenarmen von Amazonas und Rio Negro möglich.

Nachdem alle Gäste ihre klimatisierten Kabinen bezogen haben, gibt's den obligatorischen Willkommensdrink und erste wissenswerte Fakten über den riesigen Fluss. "Der Amazonas ist mit 6868 Kilometern der längste Fluss der Welt", sagt der Expeditionsleiter. "Oft wird noch der Nil als längster Fluss bezeichnet, doch neue Messungen der Royal Society haben vor einigen Jahren ergeben, dass der afrikanische Fluss rund 200 Kilometer kürzer ist."

Die Reise des Amazonas zum Atlantik beginnt als Apurimac in der fast 5600 Meter hoch gelegenen Andenlagune Nevado de Mismi in Peru. In Brasilien heißt der Flusslauf dann Solimoes, und erst etwas östlich von Manaus, wo er sich mit dem Rio Negro vereint, trägt er den Namen Amazonas. Der Zusammenfluss bietet ein ungewöhnliches Naturschauspiel: über mehrere Kilometer fließen das braune, nährstoffreiche Schlammwasser des Solimoes und das pechschwarze, von Humusablagerungen angereicherte Wasser des Rio Negro nebeneinanderher im selben Flussbett, ohne sich zu vermischen. "Das lässt sich leicht erklären", sagt Christoph und verweist auf die unterschiedlichen Temperaturen und Strömungsgeschwindigkeiten der beiden Flüsse. Der "Encontro das Aguas", das Treffen der Wasser, ist für die Gäste auch der erste Höhepunkt ihrer Kreuzfahrt. Nur etwa eine Stunde flussabwärts lässt sich das Phänomen beobachten: rechts vom Schiff die lehmig-trüben Fluten des Rio Solimoes, auf der linken Seite das moordunkle Wasser des Rio Negro und vorn die gezackte Linie, wo die Flüsse aufeinandertreffen und sich nicht vermischen. Auch die Breite der Flüsse und die Vorstellung, welche Wassermassen sie transportieren, sind wirklich faszinierend. "Der Amazonas führt größere Wassermassen als jeder andere Fluss der Erde - rund ein Fünftel der Süßwasserreserven der Welt entlässt er alljährlich in den Atlantik", sagt Christoph.

In den nächsten Tagen macht er die Besucher bei Pirschgängen und Bootsfahrten sensibel für die Schönheiten der Natur und vermittelt mit seinem profunden Wissen ein Maximum an Verständnis für die Zusammenhänge der Ökologie des Regenwaldes. So erfahren die Gäste, dass der Fluss während der Regenzeit um bis zu 15 Meter ansteigt und riesige Flächen überflutet. Monatelang stehen dann die Bäume tief im Wasser. Sie haben sich darauf eingestellt und spezielle Wurzelsysteme ausgebildet. Meterhoch hängt das Wurzelgeflecht in der Luft, um den Baum bei Hochwasser mit Nährstoffen zu versorgen, und breite Brettwurzeln sorgen für den Halt im morastigen Boden. "Wenn das Wasser steigt, machen wir unsere Waldspaziergänge mit dem Boot und gleiten auf Höhe der Baumgipfel durch das Wasser", sagt Christoph.

Jeden Morgen stehen noch vor dem Frühstück Ausflüge auf dem Programm. Dann zeigt sich die Flusslandschaft im fahlen Licht der aufgehenden Sonne, und die Temperaturen sind noch angenehm. Bootsmann Roberto wirft den Außenborder an. Er kennt sich in den Anavilhanas aus wie kein Zweiter.

190 Kilometer vor Manaus liegt das größte zusammenhängende Flussinsel-Gebiet der Erde. Durch das flache Gelände und den Rückstau vom Amazonas hat sich hier ein bis zu 20 Kilometer breites Flussbett mit unzähligen Inseln gebildet. Langsam gleitet das Boot durch das Wasser - Kormorane fliegen auf, und in der Ferne sind Tukane zu sehen. Dann entdeckt Roberto ein Faultier in den Bäumen, mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Wenige Minuten später stellt er den Motor ab, greift blitzschnell ins Wasser und präsentiert einen kleinen, gut 40 Zentimeter langen Kaiman. "Nehmen Sie ihn ruhig mal in die Hand, Sie müssen ihn nur fest am Schwanz und Nacken umklammern", fordert der Bootsmann die staunenden Touristen auf. Doch die meisten begnügen sich damit, eilig ein Foto zu schießen, und dann wird das Tier zurück in die Freiheit entlassen. Anders beim Piranha-Angeln. Schon nach ein paar Minuten zappelt der erste Fisch an der Angel. "Bloß nicht selbst vom Haken nehmen", warnt Roberto. "Die Biester haben messerscharfe Zähne, und sie beißen auch." Am Ende liegen mehr als 20 Fische im Eimer - sie werden gebraten und sind eine willkommene Bereicherung des Speisezettels der Schiffsbesatzung.

Zum Programm gehört auch ein Besuch einer kleinen Dorfgemeinschaft, der einen Einblick in das Leben der Menschen im Dschungel vermittelt. Immerhin gibt es eine Schule, die seit Kurzem sogar mit einem Computer ausgestattet ist. Viel Spaß bringt ein Fußballspiel - die Mannschaft der Dorfbewohner spielt überlegen und gewinnt vier zu eins gegen eine gemeinsame Auswahl von Besuchern und Besatzung. Später gibt es Gelegenheit, am weißen Strand des Flusses zu entspannen und ein erfrischendes Bad zu nehmen.

Ganz besondere Erlebnisse sind die Wanderungen durch den Urwald. Zwei Führer begleiten die kleinen Gruppen, damit auch niemand im Dickicht verloren geht. Sie zeigen, wie man hier überleben kann, woran man essbare Früchte erkennt, welche Pflanzen trinkbares Wasser speichern - und machen die wunderschöne Seerose ausfindig. Jeden Abend geht es mit den Kanus auf Pirsch - im Kegel der Scheinwerfer sind die Tiere aber nur schwer auszumachen. Die Kaimane erkennt man immerhin an den rot leuchtenden Augen, aber die sich auf einem Ast ringelnde Baumboa hat niemand gesehen - außer Roberto. Geschickt überlistet er das eineinhalb Meter lange Reptil mit einer Astgabel und hält es den erschrockenen Besuchern vor Augen. Dass sie eigentlich ganz harmlos ist, glaubt in dem Moment niemand.

Später lauschen die Reisenden dem Konzert der Tiere im Urwald. "Die Fische sind mit Ausnahme des Trommelfisches stumm, doch unüberhörbar sind die Frösche, und die markerschütternden Schreie der Brüllaffen hallen weit durch den Dschungel", erklärt Christoph, der am liebsten die Töne des Schreipiha hört und sie deshalb auch als Klingelton auf seinem Handy gespeichert hat.