Vor elf Jahren wanderte die Autorin in die Metropole aus. Nach wie vor empfindet sie die Stadt als wunderbar leicht und unwiderstehlich.

Himmel und Meer treffen sich auf einer Überlänge Horizont: Blassblau über Dunkelblau, davor zerplusterte Wolken. "Wieso würde irgendjemand nicht hier leben wollen?" Sam stellt einen Espresso auf den Tisch und sieht mich ratlos an. Okay, die Frage war eher rhetorisch. Zu unseren Füßen kracht eine Welle über den Rand des Salzwasserpools, der in den Fels gebaut ist. Die Morgensonne strahlt die Art-déco-Häuser und Graffiti der Promenade an, während in der Bucht, wie auf Bestellung, ein Schwarm Delfine den Surfern die Schau stiehlt. "Ich kann den halben Tag an der Küste langlaufen und atme ...", die freie Hand des Cafébetreibers durchfächelt Hilfe suchend den Himmel "... das hier! Mitten in einer Großstadt."

Richtig: Wolkenkratzer und Hafen, Oper, Ampeln, Neonlicht und Nagelstudios, kurz Großstadt genannt, beginnen gleich jenseits der Promenade, was man am Bondi Beach, einem von mehr als 30 Ozeanstränden Sydneys, zuweilen vergisst. Ich atme die salzige Luft ein und weiß wieder genau, warum ich mich vor elf Jahren in diese Stadt verliebt habe.

Die echten Glückspilze dieser Metropole, die in den Stadtteilen am Meer wohnen, tauchen zum Feierabend in den Pazifik. Alle Übrigen brauchen wenigstens neun Monate im Jahr keine Heizung. Busfahrer tragen kurze Hosen und Kniestrümpfe, die Grundschüler Sonnenhüte aus Stroh, und der Bäcker fragt zum Wechselgeld: "How's life, darling?" Dabei wirkt er sogar am Ende der Nachtschicht entspannter als viele Nordhalbkugler im Urlaub. Ist latent glücklicher, wer auch per Fähre zur Arbeit pendeln kann? In den Hunderten von Dörfern, die gemeinsam Sydney heißen, wohnen Menschen, die früher in Beirut, Shanghai, Hannover, Moskau, Hanoi, Manchester oder Rio lebten. Ein Drittel der Einwohner kommt ursprünglich aus anderen Ländern.

Natürlich ist Sydney nicht mehr ganz die Stadt, in die ich 2001 umgezogen bin, "vielleicht erst mal für ein Jahr ...". Metropolen verändern sich, genau wie Liebesgeschichten. Sie sind Magneten, locken an und stoßen wieder ab. Den meisten neuen Einwanderern - jedes Jahr gut 180 000 - geht es wie mir damals: Sie wollen erst mal in die älteste und größte Stadt im Südosten des Kontinents.

Jeder fünfte Australier lebt in Sydney, in einem der vielen Stadtteile, die den Hafen umgeben wie Jahresringe: die edlen Villen von Palm Beach im Norden, Cronullas Surfstrände 30 Kilometer weiter südlich, gen Westen endlose Vororte, die fast bis zum Fuß der Blue Mountains reichen, im Osten das Meer. "If you don't live in Sydney, you're just camping out", hat Paul Keating mal gesagt, ein ironischer Seitenhieb, den die Bewohner von Melbourne oder Canberra ihrem vorvorletzten Premierminister vermutlich bis heute nicht verziehen haben: Wer nicht in Sydney lebt, kann bestenfalls irgendwo campieren. Die Neubausiedlungen im Westen dürfte er kaum gemeint haben, aber insgeheim geben viele dem Politiker recht.

Im Botanischen Garten ist "Rasen betreten" ausdrücklich erwünscht. Die ersten Trainer legen unter alten Feigenbäumen und Akazien neongrüne Springseile und Boxhandschuhe aus - für die vielen Büroangestellten, die neuerdings auch ihre Mittagspausen fürs Fitnesstraining nutzen.

Der Wolkenkratzerwald hinter dem Park wurde von Architekten wie Renzo Piano, Christoph Ingenhoven und Norman Foster aufgemischt: mit Zacken und Wellen, Terrakotta und grünen Atrien. Darunter hat eine Häuserzeile aus dem 19. Jahrhundert überlebt, Sandsteinbauten mit Bogengängen und doppelstöckigen Veranden in der Macquarie Street aus der Gründerzeit der Kolonie: Viktorianisches Hospital, Münzanstalt, Parlament und nebenan die Hyde Park Barracks, einst Sträflingsasyl und heute Museum.

Im Vergleich zum radikalen Wandel vom Cadigal-Jagdgrund zu einem der wichtigsten Börsenplätze der Südhalbkugel sind Sydneys jüngere Veränderungen marginal. Aber als Bürgermeisterin Clover Moore 200 Kilometer Fahrradwege durch die Stadt bauen ließ, war das fast eine Revolution. Sydney ist zum Glück nicht nur besessen von neuen Lokalen, Ökobistros und Meerblick, sondern auch hungrig auf Kunst. In Chippendale quellen die vier Etagen mit zeitgenössischer chinesischer Kunst der White Rabbit Galerie nicht nur bei den Eröffnungen über. Kunstspaziergänge und Museumsnächte sind fast so hip wie die wachsende Zahl der "Farmer's Markets". Und seit Alkohollizenzen kein Vermögen mehr kosten, entstehen selbst in winzigen Maueröffnungen Lokale: Weinbars mit kleiner Speisekarte, intimer Beleuchtung und kreativen Dekors. Licht spenden chinesische Reisschalen, Surfharz formt kanariengelbe Hocker, Bambus kann Boden oder auch Besteck sein. Nicht nur die City hat Dutzende neuer Bars bekommen, auch im trendigen Surry Hills, im ethnisch bunten Newtown, an den Ausgehzeilen von Darlinghurst oder im Univiertel Chippendale sind kleine Kneipen Sydneys neue große Liebe.

Natürlich ist nicht alles Neue aufregend und schön. Mentalität und viele Viertel sind mir nach einem Jahrzehnt vertrauter. Und manch Überraschendes wirkt nicht mehr gar so erstaunlich wie auf den ersten begeisterten Blick. Längst rufe ich beim Sprung aus dem Bus wie selbstverständlich "Thanks, driver". Australiens berühmtesten Strand Bondi bevölkern nicht mehr Backpacker, alteingesessene Familien, Surfer, Halbtags-Musiker und alterslose Lebenskünstler, was mir anfangs so gefiel. Heute kosten die Kinderwagen meiner Nachbarn mehr als mein erstes Auto. Fast über Nacht mutieren charmant verlebte Bungalows zu "Lifestyle Locations". Natürlich hat auch Bondis Gentrifizierung angenehme Seiten: Murray Begg backt vorzügliches Körnerbrot, und abends kann ich im Chapter One an französischem Käse knabbern oder zwei Blocks weiter laotische Reispapierrollen essen. Falls ich's mir leisten kann - das billigste Glas Wein bei MissChu liegt mit zehn Dollar eher an der unteren Grenze. "Das ist eben Bondi", sagen Freunde, die schon in andere Stadtteile verzogen sind. Sie können sich die elftteuerste Stadt der Welt, weit vor London und New York, kaum noch leisten. Aber Bondi ist Sydney im Kondensat: schön, leicht, schnell und latent in sich selbst verknallt.

"Wo würdest du jetzt noch lieber sein ...?", fragt meine Kollegin Kathy und erwartet eigentlich keine Antwort. Wir lehnen zum After-Work-Drink am Balkon der Bar at the End of the Wharf. Neben uns überholen Segler zwei Fähren, die Bögen der Hafenbrücke glänzen in der Abendsonne, vor der Werft gegenüber treffen sich Besucher einer Ausstellung. Ab mittags gibt's Espresso, abends Waldpilz-Arancini, Sauvignon und Birnen-Cider. Wir stoßen an, blinzeln in die Abendsonne, und ich stimme Kathy zu: richtiger Moment, bestmöglicher Ort.

Der (gekürzte) Text stammt aus der aktuellen Ausgabe von "GEO Saison", die im Handel zum Preis von fünf Euro erhältlich ist