Am Nordufer des St.-Lorenz-Stroms zeigt sich Kanada im Indian Summer von seinen Schokoladenseiten. Die dominierende Sprache ist Französisch.

Die merkwürdige Metallskulptur reckt die Hände himmelwärts. Nun ja, Hände sind es nicht wirklich, vielmehr sich verzweigende Äste oder Wurzeln, die den wie Schwingen ausgebreiteten Armen entwachsen. Zu Füßen der rostroten Figur sind Männer, Frauen und Kinder dargestellt. Beim Sägen, beim Holzhacken, beim Häuserbau, beim Spielen - eine Hommage an die ersten 300 Siedlerfamilien, die ab 1636 das Land für Frankreich zu kolonisieren begannen, exakt hier auf der Ile d'Orleans inmitten des majestätischen St.-Lorenz-Stroms.

Diese Geburtsstätte des frankofonen Kanada liegt gerade mal 20 Minuten entfernt vom quirligen Quebec City, wie die Stadt auf Englisch heißt, beziehungsweise Ville de Québec, wie ihr offizieller französischer Name lautet. Doch die viereinhalb Kilometer mächtige Hängebrücke führt vom Nordufer geradewegs in eine andere Welt und auch in eine andere Zeit. Wie anno dazumal spielt Landwirtschaft die tragende Rolle im Leben der circa 7000 Insulaner, die wie ihre Vorfahren Getreide, Gemüse und Obst auf handtuchschmalen Feldern anbauen und berühmt sind für ihre Ahornprodukte.

Auf dem 70 Kilometer langen Rundkurs kann man in geradezu pastoraler Ruhe um die Insel kurven. Wir machen Station in einigen der schönsten Dörfer der Provinz Quebec, die alle nach Heiligen benannt sind. Immer wieder begeistern Kleinigkeiten: Holzhäuser mit bunten Dächern. Kirchen und Friedhöfe mit liebevoll gepflegten Gräbern. Galerien, Kunsthandwerkshops, Spezialitätenläden. Und immer wieder gibt es tolle Aussichten auf den Riesenstrom - von der Südspitze etwa liefern Wellen und Wolken einen prächtigen Rahmen für die Skyline von Quebec City, der einzigen Stadt Nordamerikas mit einem Altstadtkern und intakten Befestigungsanlagen und deswegen seit 1985 Unesco-Weltkulturerbe.

Obwohl in Kanada sowohl das Englische als auch das Französische Amtssprachen sind, wird in der Provinz Quebec ausschließlich Französisch benutzt. 2006 wurden die Quebecer offiziell als "Nation in einem vereinten Kanada" anerkannt.

Zurück auf dem Festland donnert uns zur Begrüßung gleich mal ein kapitaler Wasserfall entgegen. Der tosende Bursche stürzt als imposante Mündung des Flusses Montmorency über eine Felskante 83 Meter tief in den St. Lorenz - das sind immerhin 30 Meter Fallhöhe mehr als beim Niagara. Nur an Volumen kommt der Chutes de Montmorency bei Weitem nicht ran an den berühmten amerikanischen Bruder.

Ein paar Kilometer stromabwärts grüßt bereits von Weitem der nächste Superlativ - Sainte-Anne-de-Beaupré. Die Basilika mit den zwei spitzen, silbrigen Türmen ist so etwas wie das Lourdes Nordamerikas - mehr als eine Million Pilger pro Jahr erhoffen sich von ihren Wallfahrten zur heiligen Anna zum Beispiel wundersame Heilungen. Das klappt offenbar ganz prima - das Arsenal an zurückgelassenen Krücken oder Augenklappen macht selbst rationale Besucher durchaus sprachlos.

Zum Staunen gibt auch die anschließende Region genügend Anlass. Das Charlevoix nämlich ist eine echte Naturschönheit und wurde nicht zufällig schon vor 25 Jahren als Unesco-Biosphärenreservat geadelt - mit den höchsten Felswänden östlich der Rockies und der südlichsten Karibu-Herde der Welt. Mit einem schroffen Fjord und tiefen Felsenschluchten. Mit spärlicher Tundra- und Taiga-Vegetation und einer wildromantischen Küstenlinie. Mit sanftem Auf und Ab von Hügelkappen und Talsohlen.

Für Extra-Flair sorgt der Indian Summer. Als ob eine Fee sie unbemerkt mit Farbe übergossen hätte, erstrahlen die Laubwälder fast über Nacht in leuchtenden Tönen. Blutrot dominant präsentiert sich der Ahorn, signalschrill orange schimmern die Hartriegelsträucher. Mit satten Gelb- und Ockertönen mischen sich Birken und Eichen ins Farbenmeer. Und allerorten wachsen nicht nur Kürbispyramiden gen Himmel, dicke orangefarbene Brummer zieren überall auch Gärten und Veranden.

Kein Wunder jedenfalls, dass schon im 19. Jahrhundert begüterte Anglokanadier und US-Amerikaner ihr Herz für diese reizende Landschaft entdeckten und sich angemessene Residenzen für die Sommerfrische erbauen ließen. Prächtigstes Beispiel: das schlossartige Nobelhotel Le Manoir Richelieu hoch über dem St. Lorenz. Eine Luxusherberge, die heute auch für normale Geldbeutel nicht mehr unerschwinglich ist und jedem Gast offen steht. Ebenso wie für alle Zocker das angrenzende Casino de Charlevoix.

Mit den Reichen kamen die Künstler. Inspiriert vom betörenden Licht und den zarten Pastelltönen verewigten seit mehr als 100 Jahren zahllose Könner die Landschaft auf Leinwänden und Papier und trugen entscheidend dazu bei, dass Charlevoix heute auch ein Synonym ist für Kunst, Boheme und Genuss. Allein von den vielen köstlichen Käsesorten ließe sich stundenlang schwärmen.

Der wohl größte Magnet der Gegend aber schwimmt im St. Lorenz und zieht Besucher in Scharen magisch an. Zwischen Juni und Oktober nämlich können ein Dutzend verschiedene Walarten mit mehreren Hundert Tieren beobachtet werden. Vom über 30 Meter langen Blauwal über Finn-, Mink- oder Buckelwale bis zur einzigen sesshaften Beluga-Herde Nordamerikas, die hier sogar ganzjährig ihren Lebensraum hat. An einer gewaltigen Abbruchkante im Fluss und am Zusammenfluss warmer und kalter Strömungen finden die Tiere in dieser Zeit eine erstklassige Speisekammer vor - mit Krill und Plankton in Hülle und Fülle.

Ostkanadas Inbegriff für Walbeobachtung und Walforschung ist das Örtchen Tadoussac. Hier erfährt man so gut wie alles über die gewaltigsten aller Säugetiere: Welche Rückenflosse oder welche Atemfontäne gehört zu welcher Art? Wie viel Tonnen Kleinstlebewesen muss ein Finnwal täglich verdrücken, um seinen Hunger zu stillen? Wie lange kann ein Wal tauchen? Oder - schon komplizierter - wie ist es um den Artenschutz oder die Wasserverschmutzung bestellt?

Der Höhepunkt aber ist fraglos die Beobachtungstour. Nach wenigen Minuten Fahrt schon kommt das Kommando "Maschine Stopp!" Treiben. Warten. Ausschau halten. Und urplötzlich schießt vielleicht 100 Meter entfernt völlig unverhofft die erste Atemfontäne in die Luft. Wenig später teilt ein mächtiger Rücken mit einer markanten Flosse das Wasser. Mit langsamer Fahrt schleichen wir uns an. Die nächsten Fontänen lassen nicht lange auf sich warten, und geradezu grenzenlos ist das Entzücken, als sich kaum zehn Meter vom Boot entfernt ein Finnwal zum Parallelschwimmen entschließt. Der Anfang eines wunderbaren Nachmittags.