Ein halbes Jahr lang schmücken traditionelle Zeesenboote die Vorpommersche Boddenlandschaft. Ein Segel-Törn entführt in die Vergangenheit

Mecklenburg-Vorpommern. Helmut Runge ist ein entspannter Mann. Gelassen steht er auf der "Blondine", dem dicken Zeesenboot, und hält seine Nase in den Wind. Über ihm schweben 100 Quadratmeter rostbraune Segel, wiegen sich in der Bö mal hierhin, mal dorthin. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen, lauscht der Mann mit dem grauen Kinnbart dem Klang des Saaler Boddens und lässt seinen Blick schweifen. Über die roten und schwarzen Fischerhütten, die an Bootsstegen aus dem Wasser ragen. Über die Rostocker Familie, die zufrieden neben ihm auf den Eichenbänken sitzt. Über die endlose Weite der Seenlandschaft, an deren geschwungenen Ufern sich Hunderte Schilfgürtel neigen und einem Vorhang gleich das Spiel der Wasservögel freigeben. Runge ist Skipper eines der letzten Zeesenboote auf Mecklenburg-Vorpommerns Halbinsel Fischland-Darß-Zingst.

"Fast jeden Tag warte ich auf Ostsee-Urlauber, die mit unserem traditionellen Fischerboot segeln wollen", erzählt der 74-Jährige zurück im Hafen von Althagen. "Manchmal kommt keiner, manchmal geht es fünfmal am Tag hinaus auf den Bodden. Ab zehn Uhr morgens, alle zwei Stunden, 90 Minuten lang."

Der Saaler Bodden ist mit 140 Quadratkilometern der größte Teil einer Kette flacher Wasserflächen, die sich zwischen dem Festland und den einstigen Inseln Fischland, Darß und Zingst aneinanderreihen. Über 100 Kilometer Küste nehmen sie ein, bevor sie an ihrem östlichen Ende mit der Ostsee verschmelzen. Mit 30 Zentimetern an der flachsten und knapp vier Metern an der tiefsten Stelle, dazu scharenweise Buchten und kleine Inseln, ist die Vorpommersche Boddenlandschaft ein Paradies für Wasservögel. Die finden hier Schutz und Ruhe. Untiefen, starke Strömungen und hoher Seegang bei Wind halten die meisten Wassersportler fern. Nur die schweren, plattbödigen Zeesenboote kommen damit zurecht. Sie sind geklinkert. Dabei überlappt eine Holzplanke die nächste, dazwischen sorgt ein Baumwollfaden für Dichtigkeit. "Was sich merkwürdig anhört, macht die Boote extrem stabil. Schon die Wikinger wussten das", sagt Runge. Seit sechs Jahren steuert der ehemalige Pilot den 77 Jahre alten Fischersegler. Manchmal bei fünf bis sechs Windstärken. Bei Ostwind peitscht die Welle dann mit voller Wucht gegen die Seite, spritzt überallhin, und die Kinder haben ihren Spaß. "Dem Zeesenboot macht das nichts", sagt der Skipper. Nur die modernen Plastiksegler liegen dann kopfüber im Wasser.

Die Fahrten starten in den kleinen Häfen von Dierhagen, Wustrow, Prerow oder Zingst. Helmut Runge legt mit der "Blondine" in Althagen ab, einem Ortsteil des als Künstlerdorf bekannten Ahrenshoop. Neben dem Hafenweg, der von der schmalen Hauptstraße über Kopfsteinpflaster hinunter zum Wasser führt, gibt es hier nicht viel. Ein paar Land- und Wohnhäuser, einen Festplatz, drei Keramikwerkstätten, einen Reiterhof, eine Bushaltestelle - ein verschlafenes Dörfchen. Im Hafen sitzen männliche Unikate mit langen, grauen Bärten, manch einer die Pfeife im Mund. Im Wasser schaukeln die Boote, dahinter breitet sich eine sattgrüne Uferlandschaft aus, wo im Frühjahr und Herbst Tausende Kraniche und Wildgänse auf ihrem Vogelzug durch die Lüfte fliegen. An der Küste gegenüber lockt das Hohe Ufer, ein imposantes Kliff, zahlreiche Muschelsammler und Radfahrer auf ihrer Fischlandtour zwischen den Ostseebädern Wustrow und Ahrenshoop. Mancher Tourist biegt hier nach Althagen ab, bestaunt die Zeesenboote und genießt die Hafenstille. Dass man auf einem dieser geschichtsträchtigen, traditionellen Fischerkähne mitsegeln kann, ist wenig bekannt.

Mitte des 19. Jahrhunderts gehörten Zeesenboote zum Erscheinungsbild der mecklenburgischen und pommerschen Küsten. Zu Hunderten segelten sie über die Gewässer, fuhren die sogenannte Drift. Dann sah man nichts als rostbraune Punkte auf den Bodden, die Farbe entstanden aus Eichenrinde, Öl, Fett, Holzteer und Ochsenblut. Ein Gemisch, das die anfälligen Leinensegel vor der Feuchtigkeit schützt. Vorn und hinten am Boot spannten die Fischer sackförmige Fangnetze, die Zeesen, an ausfahrbare Holzstangen und fischten damit seitlich treibend den Boddengrund ab. Lautlos. Tagelang. Stint, Aal, Zander, Hecht, Barsch. Das ganze Jahr über, bis zum Frost. Als Ende der 1970er-Jahre das Großreusenfischen in der DDR staatlich subventioniert wurde, starb die gewerbemäßige Zeesenfischerei aus. Heute ist das Fischen mit dem Schleppnetz verboten. Urlauber und Segel-Individualisten sind es jetzt, die die Fischerkähne am Leben halten.

Sehen und gesehen werden, so ist das heute. "Sehleute" nennt Runge die Liebhaber, die sich die breiten Eichenboote zulegen. "100 000 Euro kann ein Exemplar in der Anschaffung kosten, und das ohne den Komfort moderner Boote", sagt sein Skipper-Kollege Ulli Seitz. Denn viel Platz zum Aufhalten und Schlafen gibt es auf den alten Seglern nicht. Der 58-Jährige mit der Seemannsmütze ist eigentlich Hausmeister, doch wenn die Fahrten der offenen Arbeitssegler starten, ist er mit dabei. Ob Touristenfahrt oder Regatta.

Die Regatten sind das heimliche Highlight auf dem Bodden. Wenn die rostbraunen Segel das Wasser sprenkeln wie Blüten einen Blumenstrauß, kann man sich gut vorstellen, wie es damals gewesen sein muss, als die Fischer hier drifteten. Sieben Regatten im Jahr verführen zu einer solchen Zeitreise. Die Althäger Fischerregatta am dritten Wochenende im September ist der Höhepunkt zum Saison-Abschluss. Schon 1908 gab's die erste Wettfahrt mit nur zehn Zeesenbooten. Damals verfolgten die Zuschauer das Geschehen von zwei Dampfern aus. 1994 wurde die Fischerregatta erneut ins Leben gerufen. Heute ist sie ein kauziges Volksfest. Zur Preisverleihung im Hafen pusten urige Seemannsgesichter in weißen Latzhosen in gewölbte Tröten. Zwischen Sonnenschirmen und Zipfelzelten stehen Möchtegern-Matrosen mit hübschen Frauen beim Bier. Im Wasser schwankt der Mastenwald über Namen wie "Nordischer Löwe", "Bill" und "Schmuggler". Überall baumeln Ketten und Netze, flattern Fahnen im Wind, hängen handgenähte Seesäcke, Seemannspullover für Kinder und Windspiele aus Muscheln. Die Althäger Fischerregatta steht für fünf Tage Spaß in Erinnerung an die traditionellen Seeleute.

Überhaupt erinnert auf Fischland-Darß-Zingst viel an die alte Fischertradition. Die Schifferkirche in Ahrenshoop ist ein Prachtstück aus gespendetem Holz. Von außen sieht sie aus wie eine asiatische Luxushütte. Auf ihren Gebetsbänken fühlt man sich, als stülpe sich ein Schiffsrumpf darüber. In der Prerower Seemannskirche stapeln sich Spenden gestrandeter Seeleute. Die älteste Kirche auf der Halbinsel schmücken zahlreiche Votivschiffe, dazu 30 alte Seemannsgrabsteine. Und fast überall sind die bunten Darßer Haustüren Zeugen vergangener Fischertage. Mit ihren schnörkeligen Symbolen verzierten sie früher Fischer- und Kapitänshäuser - ein Zeichen des Wohlstands. Heute prahlen die farbenprächtigen Hingucker mit Anker, Blumen oder Sonne an vielen Gebäuden und sind sogar patentrechtlich geschützt.

Damit das Wissen um die Technik und Gebräuche der alten Segelfischer auch in Zukunft gewahrt bleibt, zeigen die Althagener Zeesenbootfans jedes Jahr eine traditionelle Drift. Mit Sondergenehmigung vom Landesamt für Fischerei geht es raus auf den Saaler Bodden. Das ist auch nötig, wenn die rostbraunen Segel in ein, zwei Jahren weiter durch die Vorpommersche Boddenlandschaft gleiten sollen. Helmut Runge jedenfalls will dann mal ganz andere Luft schnuppern: beim Trampen durch Afrika.