La Gomera: Für Urlauber, die Naturerlebnisse dem Massentourismus vorziehen. Die zweitkleinste Insel der Kanaren bietet Wanderern eine grandiose Bergwelt: mit vielfältiger Vegetation in mehreren Klimazonen.

Wie brodelnde Wasserfälle schwappen weiße Wolkenschwaden über die nördlichen Bergkämme ins enge Chejelipes-Tal. Von Südosten her schickt die Sonne erste wärmende Strahlen über die Gipfel - direkt zum Frühstückstisch auf der Terrasse unseres kleinen Ferienhauses. Goldköpfige Eidechsen huschen durch die Feldsteinmauern, in meterhohen Büschen von Weihnachtssternen und Bougainvillea tummelt sich eine geschwätzige Vogelschar. Melodisches Hupen kündigt das Bäckerauto an, das seine leckere Fracht bis in den letzten Zipfel des Tales bringt. So fängt der Tag auf La Gomera gut an: duftender Kaffee, knuspriges Brot, Landschinken und würziger Inselhonig.

Ein leichter Muskelkater in den Beinen erinnert an die gestrige Tour. Diese Route können wir jetzt von unserem Terrassen-Logenplatz aus bequem mit den Augen nachwandern. Oben am Aussichtspunkt Degollada de Peraza ging es hinüber zu markanten Felsschloten, in steilem Zickzack an bunt blühenden Hängen und durch Kiefernwälder 800 Meter hinunter in "unser" Tal. Das macht mächtig Lust auf mehr, und schließlich kommen wir - wie viele der La-Gomera-Gäste - in erster Linie zum Wandern auf dieses wilde, ursprüngliche Kanaren-Eiland.

Wer Ruhe statt Rummel schätzt, wem im wahren Sinne des Wortes atemberaubende Naturerlebnisse Animation genug sind, der ist mit La Gomera goldrichtig beraten. Die zweitkleinste Insel der Kanaren bietet faszinierende Bergwelt mit vielfältiger Vegetation in mehreren Klimazonen. Gegen den feuchten Norden drücken die stetigen Passatwinde Wolken und Nebel, die für üppiges Grün sorgen: Bananen, Wein, Orangen und Gemüse gedeihen. Wesentlich trockener und sonniger zeigt sich der Süden mit teils wüstenhaften Landstrichen. Und auf dem Dach der Insel breitet sich wie ein grünes Käppi der Bosque del Cedro aus, der urwüchsige, großartige Lorbeerwald, der als Parque Nacional de Garajonay unter Unesco-Schutz steht.

So stapfen wir zum Beispiel eines Morgens, in Regencapes gehüllt, auf glitschigem Boden durch nieselnassen Nebelwald, fühlen uns im schummrigen Grün zwischen mannshohem Farn und bizarr verdrehten Baumveteranen mit wehenden Moosbärten wie in einen Märchenwald gezaubert. Nachmittags sorgt dann noch eine kurze, schweißtreibende Tour durch abweisend schroffe Felsverhaue bis zu einem Aussichtspunkt über dem Valle Gran Rey für guten Appetit, ehe wir nach kühlem Bad am schwarzen Lavastrand den Tag in einer Fischkneipe ausklingen lassen.

Ein Genuß sind auch die knackigen Bergab-Wanderungen mit Aussichten zum Abheben, wie die vom Roque Agandol, einem hoch aufragenden Vulkankern, wo sich teils schwindelerregende Abgründe talwärts senken. Zur Playa de Santiago sind zwar 1200 Höhenmeter zu überwinden, die Pfade durch Wald, über Geröll und Fels sind jedoch bei durchschnittlicher Trittsicherheit leicht begehbar.

Und irgendwie ist es beruhigend zu wissen: Die zerklüftete Topographie dieses schroff aufragenden Felskegels mit tief eingeschnittenen Schluchten und den wenigen, mäßig attraktiven Stränden ist für Massentourismus mit seinen Bettenburgen völlig ungeeignet - für anspruchsvolle Wanderungen und Biketouren jedoch paradiesisch. Als touristisches Zentrum der Insel gilt das über eine lange Serpentinenstraße erreichbare Valle Gran Rey. (Um es gleich zu sagen: Zu jedem Punkt der Insel führen nur solche mit Haarnadelkurven gespickten Bergstraßen.)

Aber was heißt hier schon Zentrum: Im ehemaligen Lieblingstal Flower-Power-beseelter Aussteiger hat sich vor dramatisch aufragender Felskulisse am schwarzen Lavastrand ein kleiner, lebhafter Ferienort entwickelt, mit reichlich Restaurants, Cafes und Kneipen. Ausflugsboote schippern über den meist bewegten Atlantik zu dekorativ aus dem Meer aufsteigenden Basaltorgeln oder zur Walbeobachtung. Und was an Szene-Urlaubern auf die Insel kommt, tummelt sich ausschließlich hier im "Tal des großen Königs", stürzt sich abends in die Bars und die (einzige) Disco, erholt sich tags an der als FKK-Meile reklamierten Playa del Ingles.

Auch an der Playa de Santiago gibt es einige Hotels und Pensionen sowie eine größere, architektonisch gelungene und behutsam in die Landschaft eingepaßte Bungalow-Anlage. Ansonsten wohnt man am schönsten in kleinen, persönlich geführten Häusern und in den Casas Rurales, Landhäusern, die über die Insel verteilt in Tälern oder an Berghängen liegen. Da ist es ratsam, gleich einen Mietwagen zu buchen: für Entdeckungstouren und um an die Ausgangspunkte der Wanderungen zu kommen.

Der fruchtbare Norden lockt mit mindestens so grandiosen Schluchten wie der Süden, mit noch wilderen, meerumtosten Steilküsten, aber auch mit tropisch üppigen Tälern, wo man sich wie im Garten Eden vorkommt. Neben den landschaftlichen Glanzpunkten laden in dieser etwas stärker besiedelten Inselhälfte auch hübsche kleine Städte und Dörfer zum Besichtigen ein: Hermigua etwa im größten Bananenanbaugebiet oder Vallehermoso, wo die großen roten Chilischoten reifen, Grundstoff für die gomerische Leib- und Magensauce Mojo Rojo. Als führende Inselschönheit gilt der malerische Ort Agulo, hoch über dem Meer höchst fotogen an eine rote Felswand geklebt.

Nach den Touren rund um die wilde Wanderinsel - zurück zu unserem Feriendomizil im Chejelipes Tal - kommen wir zwangsläufig immer durch die Inselhauptstadt San Sebastian, trotz reger Bautätigkeit noch eine gemütliche Mini-Metropole ohne aufregend Sehenswertes. Hier sind die Einheimischen (fast) unter sich, die überschaubare Touristenzahl wird ins Kleinstadtleben integriert. Mächtig stolz ist man auf den prominentesten Besucher der Insel: Anno 1492 soll Kolumbus hier zwischengelandet sein, um Wasservorräte aufzufüllen und in der Kirche Nuestra Señora de la Asuncion für eine gute Weiterfahrt zu beten.

Nach einem langen Wandertag sinken wir mit müden Beinen auf der Plaza de la Constitucion unter mächtigen Lorbeerbäumen in Cafe-Stühle. Nach dem Cappuccino dann vielleicht noch mit einer Eistüte in der Hand zum Hafen schlendern und hinüber zur Nachbarinsel Teneriffa auf den Schneekegel des Teide gucken. Nur eine gute Stunde Schiffsfahrt liegt zwischen den Betonburgen und dem Trubel am Fährhafen von Los Christianos dort drüben und dem beschaulichen San Sebastian. "Nur keine Hektik" ist die Devise der Gomeros. Die Wanderer nehmen sie als Ferienmotto gern auf.