Das Urwald-Abenteuer liegt nur zehn Minuten von der Millionenstadt entfernt auf dem Inselchen Pulau Ubin, wo man mit weisen Mönchen und alten Schildkröten sprechen kann

Ganz Singapur ist ein Wald aus Wolkenkratzern, mit schicken Shoppingmalls auf den Lichtungen, unterbrochen von Sehenswürdigkeiten wie Chinatown und Little India, von Vergnügungsvierteln, Kulturzentren, Museen und von Prachtbauten aus der britischen Kolonialzeit. Ganz Singapur also ist eine Stadt der großen Dimensionen, vom Gelde besetzt.

Ganz Singapur? Nein, eine von 60 unbeugsamen Malaien und einer Handvoll chinesischer Mönche bewohnte und täglich von gut 100 Naturliebhabern besuchte Insel am Rande der Fünf-Millionen-Metropole hört nicht auf, sich dem Übermorgen zu widersetzen. Nur zehn Bootsminuten von der Mega-City entfernt, schlummert Pulau Ubin vor sich hin, eine Wildnis, aus der ein paar Tempel ragen, in der sich ansonsten das Rote Dschungelhuhn und der Pazifikwaran gute Nacht sagen.

Changi Village heißt die Busstation der Linie 2, hoch oben im Nordosten Singapurs. Ein paar Schritte nur zum Bootsterminal, ein paar Minuten warten - oder auch eine gute Stunde. Das alte Versorgungsschiff, das zwischen dem Stadtstaat und seinem idyllischen Außenposten pendelt, legt nämlich erst ab, wenn sich zwölf Fahrgäste eingefunden haben. Leinen los, die Hochhauskulisse im Süden verschwindet rasch im Nebel, über dem flachen Landstrich am Horizont leuchtet ein Regenbogen.

Kurzes Gewusel am Anleger und am kleinen Info-Zentrum. Fahrräder werden hier ausgeliehen, Wegekarten verteilt, und Abbas, der einzige Taxifahrer, wartet in seinem klapprigen Minibus auf Kundschaft. Keine 100 Meter weiter, vorbei am einfachen Fischlokal Season Live - mit Meerblick - und am noch etwas schlichteren Chinesen First Step - mit Aussicht auf den Dorfplatz -, und schon schließt sich das grüne Dach über dem Dschungelwanderer. Riesenbambus rechts, Regenwald links, eine Kokosplantage hinter der nächsten Kurve, Mangrovendickicht, Lagunen.

Eben hat ein Wildschwein den Pfad gekreuzt, jetzt turnt eine Horde Affen durch das Gebüsch. Aufgelassene Steinbrüche leuchten aus dem Flaschengrün, manche mit Wasser gefüllt. Der Inselname Ubin bedeutet "Granit", und der wurde hier bis vor einigen Jahren heftig abgebaut; heute sind aus den Quarrys Biotope geworden, Nistplätze seltener Vögel, geschützte Reservate vieler Orchideen und anderer exotischer Pflanzen. Und manchmal öffnet sich der schmale Weg ganz unerwartet zu einem Strand, zum Meer hin, zum staunenden Blick auf das andere Ufer, wo Malaysia liegt, der eben noch fern vermutete Nachbarstaat.

Im Resort übernimmt den Weckdienst der Malaiische Nashornvogel

Romantiker bringen sich ihr Zelt mit nach Ubin und ihren Proviant. Zum schlichten Campingplatz gehört ein kleiner Strand, gepicknickt wird unter Palmen und Kasuarinen. Etwas mehr Komfort bietet ein frisch renoviertes Resort mit immerhin 100 Zimmern in rustikalen Bungalows. Verwalter Bertrand Choo, ein Franko-Chinese, vermietet jetzt auch Kanus, Tauch- und Schnorchelausrüstung und lässt Studenten und Manager an Felswänden Mut und Motivation trainieren. In eine Reihe von Bassins hat er Knabberfische zur Hautbehandlung gesetzt, eine anerkannte Therapie bei Psoriasis oder Neurodermitis. Einen Wecker braucht übrigens niemand in diese Lodge mitzunehmen. Jeden Morgen um sechs Uhr meldet sich nämlich der Oriental Pied Hornbill, eine besonders schöne, besonders nervige Spezies des Malaiischen Nashornvogels. Der singt nicht, der pfeift nicht, der hat, so versichert Bertrand, bislang noch jeden Gast mit einem fiesen und krächzenden Lachen aus dem Bett geworfen.

Wer danach mit dem Fahrrad unterwegs ist, kommt leicht ins Schwitzen; das Gelände auf Ubin ist hügelig, die Luft dampft, die Temperaturen sind hoch. Selten nur dringt ein Windhauch in den Urwald. Da kommen kleine Pausen gerade recht. Zum Beispiel am chinesischen Tempel bei einem Schwätzchen und einer Tasse Tee mit einem der Mönche, die das Heiligtum hüten, den Garten und einen Teich, der den hoch respektierten Schildkröten gehört. Sie stehen im Buddhismus für Weisheit und langes Leben. Diese Eigenschaften zeichnen auch den Bürgermeister des kleinen Kampongs in der Inselmitte aus, der ein Moslem ist, wie alle übrigen Dorfbewohner auf Ubin. Ahmed Ben Kassim heißt er und ist vor 75 Jahren auf dieser Insel geboren. Schon immer, so sagt er nicht ohne Stolz, sei seine Familie hier ansässig gewesen, vielleicht schon zu Zeiten von Sir Stamford Raffles, der 1819 dem Sultan von Johor das damalige Piratennest Singapur abschwatzte und so der britischen Krone einen rasch prosperierenden Handelsplatz sicherte.

Fische unter vermoosten Bäumen sorgen für eine reine Haut

Herr Ben Kassim erzählt gern von früher, als Ubin noch mehr als 1000 Einwohner hatte, als es noch eine Schule gab und eine Moschee, ein richtiges Dorfleben und viel Arbeit auf der alten Kautschukplantage. Das alles liegt gerade mal 40 Jahre zurück. Immer wieder haben seither Investoren begehrliche Blicke auf die Insel geworfen. Moderne Hotelanlagen und ein Super-Spa entstanden in ihren Köpfen und auf dem Papier, aber die Leute mit dem großen Geld unterschätzten regelmäßig Herrn Ben Kassim und seine Sturheit, die auf alten, gut verbrieften Rechten fußt.

Sie unterschätzten aber auch das gestiegene Umweltbewusstsein vieler Bürger von Singapur. Hochhäuser und Hotels, so argumentieren sie, haben wir genug, Rummelplätze, zum Beispiel auf Sentosa, auch. Aber wo im Großstadtdschungel sorgen Fische unter vermoosten Bäumen für eine reine Haut, wo schon kann man nach dem Frühstück mit weisen Mönchen und alten Schildkröten sprechen, und wo um alles in der Welt übernimmt der Malaiische Nashornvogel den automatischen Weckdienst? Ahmed Ben Kassim weiß um die Schätze seiner Insel. Er wird sie hüten, so lange er kann. Und dann wird sein Sohn übernehmen, der auch schon einen Sohn hat ...