Travemünde rüstet sich für die neue Saison - mit alten Traditionen und neuen Perspektiven. Wer lange nicht hier war, wird durchaus überrascht sein.

Travemünde. Noch reißen an manchen Frühlingstagen heftige Böen Baumwurzeln aus dem Brodtener Steilufer, dem dramatisch-schönen Weg hoch über dem Meer, den schon Thomas Mann gern gegangen ist. Noch ist draußen in der Lübecker Bucht die hohe Zeit des Herings. Aber schon bald wird der Butt dicker, und wenn Harry Lüdtke wie seit Jahrzehnten mit dem Kutter "Christoph" zwischen Vorderreihe und Priwall dem Travemünder Fischereihafen entgegentuckert, warten dort schon seine Hamburger Stammkunden.

Sie kommen für ein, zwei Tage oder auch für einen kleinen Zwischendurch-Urlaub an die Travemündung, mieten sich für ein paar Stunden einen Strandkorb, wandern vielleicht in buddenbrookscher Tradition zur Hermannshöhe hinauf, wo die Buschwindröschen fast am Verblühen sind, oder sie radeln vom Priwall aus ins benachbarte Mecklenburg. Und am letzten Tag fahren sie mit Harrys frischem Fang über die A 1 nach Hause. So war das früher schon, und so ist es immer noch.

Travemünde also, einst Deutschlands mondänstes Ostseebad: Im Kasino zwischen Strand und Kaiserallee haben in den besten Zeiten der legendäre Reeder Onassis und Curd Jürgens gern mal alles auf eine Zahl gesetzt, und nebenan im Nachtklub Belle Etage hat Josephine Baker die Stimmung auf den Siedepunkt gebracht. Doch nachdem der Rausch der Wirtschaftswunderjahre verflogen und der Champagner schal geworden war, döste Travemünde lange vor sich hin. Die Karawane der Kurzurlauber war nach Timmendorf gezogen oder hatte sich nach der Wende zwischen Boltenhagen und Usedom umgeschaut, wo die alten Villen modernisiert wurden und neue Wellness-Hotels wie Tulpen im Frühling aus dem Boden schossen.

Wer lange nicht in Travemünde war, wird sich in diesen Tagen die Augen reiben: Lübecks schöne Tochter ist wieder hellwach, hat sich aufgehübscht und hanseatisch-dezent geschminkt, zum Beispiel mit einer neuen Strandpromenade, deren nördlicher Abschnitt im Juni mit einem Fest eingeweiht werden soll. Wann aber die Anbindung an die Vorderreihe, also bis ins Herz des Seebads, fertig sein wird, weiß auch Kurdirektor Uwe Kirchhoff nicht genau: "Wir machen es gut und gründlich, setzen nicht auf kurzfristige Effekte."

Auch die Halbinsel am anderen Traveufer bekommt eine neue Perspektive: Priwall Waterfront, eine große Ferienhaussiedlung, soll entstehen, der Passathafen wird bis 2017 umgestaltet und von einem Hotel und einer Jugendherberge eingerahmt. Was viele Priwall-Bewohner kritisch sehen, nennt Uwe Kirchhoff, der sich gerade um den Bürgermeisterposten von Neustadt bewirbt, einen "Kracher der Zukunft".

Vormittags am Hafen: Harry Lüdtke, Fischer in "mindestens sechster Generation", räumt auf, sein Lehrling Dennis stapelt leere Kisten, kein Hering, kein einziges Fischbrötchen ist übrig geblieben. Morgen früh um fünf werden sie wieder auslaufen. Und wenn der Tag gut war, werden sie 14 Stunden später mit 600 oder 800 Kilo Fisch zurückkommen.

Ein paar Schritte nur sind es bis zur Vogtei, dem ältesten und schönsten Haus an der Vorderreihe. Dort bereitet Egon Schmitz-Hübsch gerade die Wind-Art vor. Kinetische Figuren, kunstvolle Objekte, angetrieben von der frischen Travemünder Brise, werden ab 15. Juli wieder die neue Promenade und andere Plätze schmücken. Zum vierten Mal richtet der ideenreiche Rheinländer dieses Event aus, das jedes Mal mehr Interessenten aus ganz Deutschland anzieht.

Im Erdgeschoss seines historischen Hauses, das bis vor zehn Jahren die Revierwache der Travemünder Polizei war, hat sich mit dem Savoir Vivre ein gemütliches Restaurant etabliert.

+++Hochgenuss heißt hier der Hauptgewinn+++

Eine Etage höher arbeitet die Malerin Ninette Mathiessen. Ihre Motive liegen sozusagen vor der Haustür: Fische, Krebse, Segel, Strandhafer, das Meer, alles in Spachteltechnik auf die Leinwand gebracht. Die fröhliche Kunstwerkerin, wie sie sich nennt, bringt handfeste Beziehungen zur See und zur Schifffahrt in ihr neues Metier ein: Ein paar Jahre hat sie auf Aida-Dampfern als Animateurin und Entertainerin die Passagiere bei Laune gehalten.

Solche Typen sind es, die den Reiz des charmantesten deutschen Seebads ausmachen, Charlotte Seipel gehört dazu. Ihre Familie vermietet seit 76 Jahren Strandkörbe. Resolut und fröhlich liefert Charlotte den Gästen Wolldecken, Kissen, Zeitungen, selbst gemachten Obstsalat, Bollerwagen und Körbe nur für Kinder. Oder Burkhard Wunder, ein Philosoph des Alltags, ausgebildeter Märchenerzähler und "Wärter" des ältesten Leuchtturms Deutschlands. Als Seebär verkleidet, verblüfft er vor allem Gäste aus dem Binnenland mit Fakten und Schnacks über das Leuchtfeuer, das 433 Jahre lang in die Lübecker Bucht gestrahlt hat. Erst seit 1973 leuchtet ein automatisch gesteuertes Signal den Schiffen heim, auf dem Dach des Maritim-Hotels installiert, in dessen Schatten der rote Turm seither steht.

Auch Siegfried Austel, der Mann mit dem schönsten Bart Travemündes, ist ein Unikat. Fast 50 Jahre lang hat er als Friseur in Travemünde gearbeitet, Heimatforschung war ihm seit je eine Herzensangelegenheit. Jetzt, mit 75, führt er durch das kleine, aber wunderbare Seebad-Museum gegenüber der St.-Lorenz-Kirche: Originaltöne, Bilder und überraschende Utensilien aus den Anfängen des Strandlebens, modern und spannend aufbereitet.

Schiffe gucken ist wohl die Lieblingsbeschäftigung aller Besucher. Papierfrachter aus Finnland, Großfähren aus Schweden und manchmal sogar Kreuzfahrtriesen wie die "Queen Elizabeth" gleiten an den Cafés an der Vorderreihe vorbei, so dicht wie nirgendwo sonst an der Küste. Drüben am Priwall, wo früher ein paar Hundert Meter landeinwärts die innerdeutsche Grenze verlief, liegt still und über die Toppen geflaggt die Viermastbark "Passat": vor 101 Jahren bei Blohm & Voss gebaut, 1959 für immer in Travemünde vor Anker gegangen, ein maritimes Denkmal, das Hamburg verschlafen hat.

Kapitän Ulf Sack ist einer der "Passat"-Erklärer, die mit Leidenschaft und Wehmut die rauen Zeiten der Salpeterfahrer lebendig werden lassen, immer eine Handvoll Döntjes unterm Kiel. Wenn er die Kombüse zeigt, in der ein Holz-Koch Südfrüchte sortiert, oder mit seinem Freund Wolf-Rüdiger Ohlhoff Shantys übers Deck schmettert, bleibt kein Auge trocken.

Sonnabendabend. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne leuchten die Lübecker Bucht aus. Die Gäste, die im Restaurant Über den Wolken, im 26. Stock des Maritim-Hotels, das Hummerbüfett gebucht haben, schauen wie gebannt aufs glitzernde Wasser. Was für eine Bühne der Sehnsucht! Aber weit und breit ist kein Schiff zu sehen.

Dann, wie von der Regie bestellt, schiebt sich ein Kutter vor den roten Ball. Die Digis klicken, die Cams surren. Es ist, das Fernglas beweist es, Harry Lüdtkes "Christoph" auf dem Heimweg.