In der Sächsischen Schweiz erzählt der Schließkapitän Schauriges aus der Vergangenheit -keine Märchen, sondern wahre Begebenheiten.

Königstein. Schon der Weg nach oben schüchtert den Ankömmling ein: So viel Stein. So steile Felsen und Mauern. So mächtig und unzugänglich. Allein der Gedanke, diese Festung bezwingen zu wollen, scheint von vornherein absurd. Und genau das war die Absicht ihrer Erbauer: So sollte jeder empfinden, wenn er sich der Anlage zum ersten Mal näherte.

Hinter dem Eingangstor erwartet Schließkapitän Clemens in weißer Uniformhose, schwarzem Dreispitz und rot-blauem Rock seine abendlichen Gäste. Allerhand Grausiges, sagt er, habe er in den nächsten zwei Stunden zu berichten. Aber, wohlgemerkt: keine Spukgeschichten, keine Ritter-ohne-Kopf-Legenden. Nein: Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit erzähle er, so wie sie in den Archiven von Königstein glaubhaft verbürgt sei.

Der Mann mit den tiefen Furchen und dem ausgebleichten Walrossschnauzbart geht ohne Weiteres als Prachtkerl aus der Offiziersriege seiner Majestät August des Starken durch. Im wirklichen Leben heißt er Hans-Hubert Albert, war einmal Lehrer für Deutsch und Geschichte und leitet heute den Veranstaltungsbereich des Museums. Als Plüschpuppe ist er im Souvenirshop für 4,90 Euro zu haben.

Die 20 Besucher erhalten Laternen mit Kerzen, dann stapfen sie nach oben. Dumpf hallen die Schritte auf der hölzernen Rampe, Schatten flackern im Licht der Kerzen auf dem geriffelten Sandstein, im Dunkeln jagt eine Fledermaus. Der Schließkapitän zeigt auf schmale Öffnungen in der gewölbten Decke: "Merken!", sagt er bloß. Oben endet der Torweg auf einem kleinen Dorfplatz. Ein paar Grundkenntnisse vorweg können jetzt nicht schaden, findet der Kapitän: Schon im 13. Jahrhundert war die Rede von einer Burg hier oben. Später kam auf dem fast zehn Hektar großen Felsplateau, das nur über einen einzigen Spalt zugänglich war, ein Kloster dazu. Ab 1589 ließ Christian I. eine richtige Festung anlegen. Sie wurde in den kommenden Jahrhunderten Zug um Zug erweitert, umgebaut und verstärkt und umfasste Kasernen, Magazine und eine Kirche. Heute stehen um die 50 Gebäude innerhalb des 1800 Meter langen, ringsum verlaufenden Wallgangs.

+++In Sachsen locken rund 1.000 Burgen und Schlösser+++

Tagsüber, sagt Clemens, verkauft die Festungsbäckerei Bienenstich und Holzofenbrot. Im Restaurant Kasematten kann man bei Wildbraten und Weinsuppe den Porzellanerfinder Johann Friedrich Böttger kennenlernen, der hier zwei Jahre lang festsaß. Und im Fasskeller erinnert ein aus grünen Weinflaschen zusammengefügtes künstlerisches Fass an seinen Vorgänger von 1725. Dieses "Königsteiner Weinfass" fasste bei einer Länge von elf und einer Höhe von acht Metern fast 250 000 Liter, verrottete aber bald. Das neue ist halb so hoch, aber genauso lang wie sein Vorgänger, es wird indirekt beleuchtet und von dunklen Klängen aus der Tiefe des Raumes beschallt.

Jetzt aber ab in die Tiefe mit euch! Dicke Steinwände ersticken das Gemurmel, als es über eine Wendeltreppe nach unten geht. Im ersten Gelass fällt der Blick durch schmale Öffnungen auf die noch tiefer gelegene Eingangsrampe. Ach, die Schlitze von vorhin. "Von hier konnten die Soldaten Pech auf die Angreifer schütten und 50-Kilo-Steine hinunterkippen", erzählt der Schließkapitän. "Oder genauer: hätten sie kippen können", denn diese Festung wurde nie berannt oder belagert und kam nie in feindliche Hände. Das Prinzip der Abschreckung funktionierte. Hier Soldat zu sein war eher eine friedliche Angelegenheit - "wenn auch keine ungefährliche", stellt Kapitän Clemens klar.

Zurück auf dem zentralen Augustusplatz, schildert der Führer kurz das einstige Leben auf der Festung: 200 Soldaten mit ihren Familien lebten hier, um die 700 Menschen. In den heutigen Blumenrabatten wuchsen Bohnen und Kohl, man hielt Hühner, Schweine und Kaninchen, und der Wald, der düster hinter dem Proviantmagazin aufragt, lieferte Brenn- und Bauholz. Dass er immer noch steht, verdankt sich einer simplen Regel: Man pflanzte immer gleich nach, was man fällte.

Doch jetzt sind die ersten Toten zu beklagen: Die große Regenzisterne wurde so manchem zum Verhängnis. Weinselige Soldaten ertranken hier, und manchmal auch ein Kind - schwimmen konnte damals fast niemand. Das Regenwasser wurde zum Waschen und zum Löschen von Feuern genutzt. Trinkwasser kam aus einem richtigen Brunnen. Den hatten Bergleute aus dem Erzgebirge noch vor dem Bau der Festung gegraben. 1556 begannen sie, ihr Geld erhielten sie nach jeweils zwei weiteren Metern Tiefe. Drei Jahre später waren sie auf 139 Metern angekommen. Aber sie hörten erst auf, als nichts mehr ging, weil zu viel Wasser eindrang. Und Deutschlands mit 152,5 Metern tiefster Brunnen funktioniert noch immer, wie manchmal im Brunnenhaus vorgeführt wird.

Im Schein der Laternen wandert die Gruppe hinüber zur Festungsmauer. Schon wieder Unheil! Die Pestzisterne, ein acht Meter tiefes Verließ, wurde gebaut, nachdem 40 Menschen 1680 an einer unbekannten Krankheit gestorben waren - benutzt hat man das Verließ aber wohl nie. "Und dann gab es auch zwei Hinrichtungen hier."

Auf einem unscheinbaren Stein, dem Richtblock, verlor ein Baron von Klettenberg 1720 seinen Kopf. Er war in Hessen wegen Vielweiberei und Mord gesucht und in Dresden festgenommen worden, weil er als Alchemist Geld unterschlagen hatte. Ein Jahrhundert zuvor hatte sich die ganze Festungsbesatzung gegen ihren Kommandanten Wolf Friedrich Beon aufgelehnt, weil er sie um Sold, Holz und Lebensmittel betrog. "Eine alte Regel aber besagt: Ein verurteilter Straftäter darf weder tot noch lebenden Leibes die Festungsmauern passieren. Was tun also, wenn man ihn doch weder tot noch lebendig in der Festung behalten wollte? Sie wählten eine salomonische Lösung: hängten ihn an einen Baumast, der über die Mauer ragte - und sägten den ein wenig an ..."

+++Auch Ritter hätten sich hier wohlgefühlt+++

Es ist eine schöne Nacht. Sterne funkeln, ein halber Mond leuchtet, wie eine mächtige Kanzel zeichnet sich die Königsnase, der größte Felsvorsprung, gegen den Himmel ab. Weit geht der Blick über die Ebene tief unten, durch die sich die Elbe wie ein dunkles Silberband windet. Von Lilienstein blinken Lichter herüber.

Die "Blitzeiche" steht für die nächsten Opfer. Wo jetzt ein junger Nachwuchsbaum erst eine richtige Eiche werden will, stand 300 Jahre lang ein Baumriese, der immer wieder vom Blitz heimgesucht wurde. Bei einem Gewitter 1925 suchte eine Gruppe von 28 Besuchern unter seinem Blätterdach Schutz. Eine tödliche Falle: Der Blitz schlug ein. Neun Menschen gingen ohnmächtig zu Boden, drei starben - es waren die, die sich am eisernen Schutzgitter festgehalten hatten. Genug der schrecklichen Vorkommnisse. Zum eher fröhlichen Abschluss bittet der alte Haudegen in den barocken achteckigen Pavillon der Friedrichsburg. 1728 bewirtete hier August der Starke den preußischen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. und dessen Sohn, den späteren Friedrich II. "Und er wusste sie mit einem kleinen technischen Wunder zu verblüffen." Kapitän Clemens drückt auf einen Knopf - der Fußboden gleitet langsam zurück, und aus der Tiefe schwebt ein mit Weingläsern gedeckter Tisch empor. Darauf einen frischen Bacchus vom Sächsischen Staatsweingut Wackerbarth. Und ein Prost auf die Gegenwart.