Darf man guten Gewissens nach China fahren - oder nicht einmal nach Norwegen? Fragen an Heinz Fuchs, Leiter der Organisation Tourism Watch.

Hier sind es die geknebelten Menschenrechte, dort der umstrittene Walfang und wieder anderswo eine weitere Form der Politik, die mit unseren Wertvorstellungen nicht in Einklang zu bringen ist. Aber wo liegen die Grenzen für Urlaubsentscheidungen im Sinne sozial verträglichen und umweltbewussten Reisens? Das Abendblatt sprach vor der Berliner Reisemesse ITB mit Heinz Fuchs von Tourism Watch, einer Fachstelle im Evangelischen Entwicklungsdienst.

Hamburger Abendblatt:

Würden Sie derzeit guten Gewissens nach Russland oder China reisen?

Heinz Fuchs:

Reiseentscheidungen sind nur selten Gewissensentscheidungen. Die Frage ist eher, mit welcher Einstellung ich fahre. Es gibt durchaus gute Gründe, nach China und Russland zu reisen. Allerdings würde ich mich sehr gut informieren, in welche soziale und politische Situation ich komme.

Haben Sie Verständnis für Menschen, die zum Urlaubsboykott von Norwegen oder Japan aufrufen, weil sich diese Länder am weltweit geächteten Walfang beteiligen? Oder Kanada, weil dort jedes Jahr ein Robbengemetzel stattfindet? Zugespitzt gefragt: Kann man es mit der Moral beim Reisen nicht auch übertreiben?

Fuchs:

Wir selbst haben nie zum Boykott einzelner Länder aufgerufen, wir haben ihn aber unterstützt, wenn starke zivilgesellschaftliche Kräfte aus dem Land heraus zum Boykott aufgerufen haben wie früher in Südafrika und bis vor Kurzem in Birma. Als politisches Instrument ist Boykott ein letztes Mittel, das nur wirkt, wenn es durchgesetzt werden kann. Es gibt aber den persönlichen Boykott, und da können sehr wohl Walfang und Robbenschlachten Gewissensfragen mit Auswirkung auf die Reiseentscheidung sein.

Genügt es, gut vorbereitet, mit entsprechender Literatur oder den gut gemeinten Sympathie-Magazinen des Studienkreises versorgt, in "schwierige" Länder zu reisen, dort den Kontakt zur Bevölkerung zu suchen und dieser generell mit Respekt und angemessener Neugier zu begegnen?

Fuchs:

Das ist ja schon mal eine ganze Menge: Sich sachkundig machen, verantwortliche Entscheidungen treffen, fair, respektvoll und mit offenen Augen und Ohren unterwegs sein. Urlauber sind Konsumenten, sie müssen sich genau wie die Käufer von Lebensmitteln darauf verlassen, dass das Produkt in Ordnung ist. Und in der Tat müssen wir aufpassen, dass die Verbraucher nicht überfordert werden. Da haben viele Veranstalter noch reichlich Nachholbedarf. Der Urlaub ist Teil unseres Lebensstils, und der ist bislang weder beim Reisen noch in unserem sonstigen Konsumverhalten besonders nachhaltig. Wir sind noch weit entfernt von dem Modell "gut leben - weniger und nachhaltiger konsumieren" oder - bezogen auf das Urlaubsverhalten - "weniger fliegen und nachhaltiger reisen".

Muss ein Urlauber wirklich Hintergründe kennen, die nicht einmal alle Fachleute richtig einordnen können? Wer von den vielen "Experten", die nach dem Arabischen Frühling die Talkshows bevölkerten, wusste denn wirklich, wie instabil Ägypten oder Tunesien waren?

Fuchs:

Weil Urlaubsreisen einen so hohen Stellenwert in unserem Konsumverhalten haben und mehr als Ramsch vom Schnäppchentisch sein sollen, müssen sie, um meiner eigenen Urlaubszufriedenheit willen, auch entsprechend in Wert gesetzt werden. Und da wir meistens nur sehen, was wir wissen, ist eine gute Reisevorbereitung Voraussetzung für bereichernde Urlaubserfahrungen. Urlaub mag zwar vermeintlich in "paradiesischen Sonderzonen" stattfinden, letztlich aber ist es immer die Wirklichkeit unserer Welt.

Manche Tourismus-Wissenschaftler halten nichts davon, an Urlauber höhere Moralmaßstäbe anzulegen als an Politiker oder Geschäftsleute. Für die gilt doch, grob formuliert, nach wie vor das alte Motto von Bert Brecht: "Erst kommt das Fressen, dann die Moral."

Fuchs:

Natürlich dürfen Konsumenten und Reisende nicht überfordert und in eine höhere Moral-Haftung genommen werden als etwa die Tourismuswirtschaft. Denn die Verantwortung liegt beim Anbieter, dem müssen die Reisenden vertrauen können. Aber der lenkt gern und zu oft mit dem Hinweis auf die Verantwortung der Urlauber von seiner eigenen Zuständigkeit für umweltverträgliches Reisen ab. Man fragt sich schon, was die Nachhaltigkeitsbeteuerungen großer Veranstalter bringen, wenn, wie kürzlich zum Valentinstag, Schnäppchen für Liebesausflüge per Kurztrip in eine europäische Metropole ab 31,99 Euro angeboten werden.

Muss nicht jeder für sich entscheiden, wie wichtig ihm die politischen Verhältnisse vor Ort sind? Den einen genügt Berlusconi, um Italien zu meiden, andere wollen nach China, um einmal im Leben auf der Großen Mauer gestanden zu haben. Beides ist doch nachzuvollziehen, das eine so ehrbar wie das andere, oder?

Fuchs:

Die Frage, ob man in Länder mit problematischer Menschenrechts- oder politisch-sozialer Lage reisen "darf", ist in der Tat zunächst nur individuell zu beantworten. Viel wichtiger scheint mir aber die "besondere Sorgfaltspflicht" von touristischen Unternehmen schon bei der Produktentwicklung zu sein. Dort müssen zuvor Fragen wie Wasser- und Landnutzung, Arbeitsrechte und Kinderschutz geklärt werden. Neben einem Umweltkonzept braucht es für Unternehmen im Tourismus endlich auch ein Menschenrechtskonzept.

Seit Jahrzehnten gib es Versuche großer und kleiner Veranstalter, auf "sanftes Reisen", "bewusstes Reisen", nachhaltigen Tourismus" hinzuwirken. Viele Ansätze wirken geradezu rührend, manche sogar sektiererisch, wenn dabei "normale" Urlauber, die einfach nur die für sie schönsten Wochen des Jahres genießen wollen - und sei es halt nur am Strand - abqualifiziert werden. Wie erfolgreich können Bekehrungsversuche zu einem "besseren Tourismus" sein, wenn niemand weiß, wie der denn aussehen soll?

Fuchs:

Es darf nicht darum gehen, gute und schlechte Urlauber zu unterscheiden. Wichtig ist, dass der Wirtschaftssektor Tourismus sich ernsthaft zu einer globalen "green economy" entwickelt, die sich den sozialen Fragen menschlicher Entwicklung stellt. Dies wird nicht Hochglanzbroschüren gelingen. Erste Zertifizierungen bieten Reisenden eine Orientierung zu nachhaltigeren touristischen Angeboten. Wir selbst haben mit TourCert eine Organisation mitbegründet, die gesellschaftliche Verantwortung und Nachhaltigkeitsprozesse in Unternehmen begleitet (siehe Info).

Zum weiten Feld eines "Urlaubs mit gutem Gewissen" gehört der Umweltschutz. Es scheint, als habe sich beim Reisen das Bewusstsein für Umweltprobleme nicht annähernd in gleichem Maße durchgesetzt wie ansonsten im normalen Alltag. Stichworte: zugebaute Küsten, die Emissionen bei Fernflügen oder durch Kreuzfahrtschiffe.

Fuchs:

Es ist in der Tat so, dass gerade die Konsumentengruppe, die bevorzugt fair, regional und bio einkauft und auch über die finanziellen Mittel verfügt, durch ihr Reiseverhalten, zum Beispiel häufige Flugreisen, eine besonders schlechte CO2-Bilanz hat. Das ist leider ein weiterer Beleg dafür, dass Reisen und Urlaub offenbar noch immer eine Sonderrolle in unseren Lebensentwürfen spielen.

Warum ist Tourism Watch nicht annähernd so bekannt wie etwa Food Watch oder die großen Umwelt-Organisationen?

Fuchs:

Weil wir nur eine sehr kleine Arbeitseinheit im Evangelischen Entwicklungsdienst sind, mit dem Fokus auf Tourismus in Entwicklungsländern. Wir orientieren uns strategisch stärker auf die Lobbyarbeit bei Wirtschaft, Politik und Medien. Große Kampagnen an die Reisenden und die Breite der Bevölkerung könnten wir personell und finanziell gar nicht stemmen. Wir sind allerdings mit unserer Akzeptanz in Fachkreisen sehr zufrieden.

Während bei Lebensmitteln der Bio-Bereich längst aus der grünen Ecke in die vorderen Regale gerutscht ist, fristen alternative Reise-Angebote ein Nischendasein, beachtet fast nur von denen, die es ohnehin "besser wissen" und womöglich am liebsten unter sich bleiben - täuscht dieser Eindruck?

Fuchs:

Der Eindruck ist sicher nicht falsch. Er verkennt aber, dass dennoch viel Dynamik vorhanden ist. Das wird jetzt wieder auf der ITB in Berlin auf vielen Veranstaltungen und Foren sicht- und hörbar.