Auf kleinstem Raum versammeln sich die besten Restaurants, viele Köstlichkeiten werden direkt vor Ort produziert. Genuss made in Germany.

Sylt. Jürgen Lüning ist kein Kerl, der zum Lachen in den Keller geht. Er geht in den Bunker. "Haha! Ich präsentiere meine kleine Hexenküche!", sagt er und freut sich über die ungläubige Reaktion des Besuchers. Hier sollen also Algen gezüchtet werden? In unzähligen Töpfen und Fässern brodelt und blubbert es, das Licht ist mal grün, mal rot, von der niedrigen Decke hängen Lampen und Leitungen, überall in den engen Gängen liegen Aufzeichnungen und seltsame Instrumente herum. Das sei ja ein bisschen wie bei Dr. Frankenstein, wagt man vorsichtig zu kommentieren. "Ja, mit einem Schuss 'Dinner vor One'. Ich habe hier nämlich auch ein gefährliches Loch im Boden, da muss ich immer rüberhüpfen", sagt Lüning und grinst.

Wer je einen lustigen Wissenschaftler treffen wollte, findet ihn in diesem unterirdischen Forschungslabor auf Sylt. Lüning sieht selten Sonnenlicht, dafür hat der Meeresbotaniker eine große Vision: Algen für Deutschland, erforscht und geboren in List. Die nördlichste Gemeinde Deutschlands war bislang bekannt als Ursprung des Fischimperiums Gosch. Jetzt wird hier an einer weiteren essbaren Zukunft gebastelt, der Laminaria saccharina. Die Sporen der Jung-Braunalge kultiviert Lüning in riesigen Wassertanks, bis sie groß genug sind, um an Seilen im Meer ausgesetzt weiterzuwachsen. Wie glitschiges Leder fühlt sich das Gemüse an, das ein echter Angeber ist in puncto Mineralien, Spurenelemente, Vitamine, Ballaststoffe und Jodgehalt.

In Japan gehört es längst zu jedem guten Essen, in Deutschland sind Algen für den Lebensmittelmarkt bislang ein einmaliges Experiment. "Aber das wird in Zukunft ein sehr großes Thema werden", sagt Lüning, der viele Jahre am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung arbeitete und mit seinen 71 Jahren schon längst in Rente hätte gehen können. "Aber Briefmarken sammeln war nix für mich." Lieber friert er sich im zehn Grad kalten Sylter Untergrund die Finger ab. Wenn es mal wieder so weit ist, schmeißt er einfach den Wasserkocher an und taut seine Hände mit einer warmen Dusche auf. Das Einzige, was ihm fehle, sei ein bisschen mehr Zeit für sein Hobby, das Hornblasen. "Aber ansonsten hat Sylt einfach alles für mich und meine Arbeit. Ständig kommen Leute mit neuen guten Ideen und Kontakten vorbei, und die Gourmetköche sind extrem interessiert an neuen Dingen."

Davon hat Sylt fast so viele wie Sand an der Westküste. Mehr als 200 Restaurants quetschen sich auf die knapp 100 Quadratkilometer große Insel, die in den letzten Jahren zum Top-Ziel für die Tester des Guide Michelin und Gault Millau geworden ist. Selten konnten sie auf so kleinem Raum so viele Punkte vergeben. Allein sechs Sterneköche heizen den Gourmets hier ein. Der Pionier unter ihnen führt sein Restaurant in Westerland und trägt einen Schnauzer, der nach viel Arbeit aussieht. "Nein", sagt Jörg Müller. "Mehr als 15 Sekunden täglich bleiben mir für die Bartpflege nicht. Das Essen wartet!" Als da wären Sylter Deichlamm, Paella mit Nordseefischen, Filet vom Holsteiner Weiderind, Hummermousse mit Büsumer Krabben oder Kotelett vom Sylter Galloway. Müller liebt heimische Produkte, "denn sie haben eine eigene Note, so wie die ganze Insel eine eigene Note hat". Inklusive ihrer Bewohner. Müller kam 1982 auf das Eiland, nach einem langen Blick auf das Meer wollte er nie wieder weg. Am Anfang dachte er noch daran, irgendwann surfen zu lernen. Doch obwohl seine goldene Rolex immer fünf Minuten vorgeht, fand er nie die Zeit dazu. Ständig musste etwas Neues kreiert werden wie zuletzt ein Salat aus Lister Algen. Ob sie denn so spannend schmecken wie ihre Geburtsstätte aussieht? "Besser!", findet Müller, "wie ein langer, erholsamer Spaziergang durchs Watt."

Mehr als 800 000 Gäste im Jahr besuchen die Insel, und sie alle haben Hunger: die Familien, die Genießer, die Partyfreunde, die Promis, die Surfer, die Kurgäste, die Golfer, die Shopper, die Naturliebhaber und die Snobs. Nirgendwo sonst können sie so gut essen, was zum einen an der Auswahl liegt, zum anderen an der guten Luft, die den Geschmackssinn sensibilisiert. Diesen sollte man jedoch gut einzusetzen wissen. "Wenn ich sehe, wie ein Proll unsere Austern runterschlürft, anstatt sie vernünftig zu kauen, dann finde ich das schon schade", sagt Christoffer Bohlig von Dittmeyer's Austern-Compagnie. Auf die Art schmecke man doch nur Salzwasser und nicht das Fleisch der Edelmuschel. "Da kann er seinen Kopp genauso gut ins Meer stecken, ist billiger", sagt Bohlig, der mit seinem dicken Wollpulli, den Holzschuhen und seinem speziellen Schnack wirkt wie der Prototyp eines Fischers.

Mehr als 20-mal ist das bekannteste Insel-Produkt mit dem klingenden Namen "Sylter Royal" bei der Aufzucht durch seine Hände gegangen. Es hat Schnitte hinterlassen und zeigt sich sehr verschlossen, bis es nach zwei bis drei Jahren geknackt werden kann. Und zwar am besten direkt vor Ort. Der Transport aufs Festland erhöht den Preis des ohnehin schon teuren Lebensmittels um ein Vielfaches und entspricht nicht dem Trend der Nachhaltigkeit, der auf Sylt gelebt wird. Kurze Lieferwege und der direkte Kontakt zu den Produzenten stehen hier hoch im Kurs. Warum beispielsweise Wasser aus Norwegen trinken, wenn es vor Ort die Syltquelle gibt? Wieso argentinisches Fleisch bestellen, wenn die Galloway-Herden direkt vor der Haustür grasen? Wieso Profiteroles aus Frankreich essen, wenn die Sylter Schokoladenmanufaktur handgeschöpfte Köstlichkeiten herstellt?

Inzwischen gibt es sogar einen Verein für regionale Kochkultur, der auf frische und hochwertige Produkte aus der Region setzt und eine nachhaltige Esskultur fördern möchte. Das prominenteste Mitglied der "Feinheimisch"-Initiative ist Johannes King vom Söl'ring Hof in Rantum. Nach einer großen Portion gute Laune sieht es aus, wenn man den mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichneten Chef und seine Mitarbeiter in der offenen Küche beim Anrichten der Speisen zusieht. Das Gros der Zutaten hat seinen Ursprung in Schleswig-Holstein oder kommt von der Insel, manches sogar aus Kings eigenem Garten. "Viele Azubis wissen nicht mehr, wie Rosenkohl wächst oder Rote Bete wirklich schmecken kann, das will ich unbedingt ändern", sagt King, der mit neun Geschwistern auf einem Bauernhof im Schwarzwald groß wurde. Ein echtes Privileg sei es gewesen, so aufzuwachsen. "Fast nie mussten wir etwas kaufen, wir haben alles selbst gemacht: Gemüse angebaut, geräuchert, geschlachtet, eingekocht." Seinem Essen schmeckt man diese Erfahrung an. Das Steckrübenmus beispielsweise hat eine Konsistenz, die nicht mal die eigene Oma hinbekommt - und man kann nur hoffen, dass die ansonsten weltbeste Köchin aller Zeiten das nicht liest.

Die Kindheitserinnerungen waren jedoch nicht Kings Motiv, verstärkt auf regionale Küche zu setzen: "Die Speisenkarten der Sternerestaurants glichen sich immer mehr an, und die Gäste sind inzwischen bereit, auch für Nicht-Luxus-Produkte einen guten Preis zu zahlen, wenn diese nur besonders zubereitet werden." Der 48-Jährige lebt in Morsum, und wenn er dort morgens den Bauer mit dem Pflug übers Feld ziehen sieht, glaubt er, das Geheimnis von Sylt erkannt zu haben: das Ursprüngliche, das es hier noch gibt, und die unfassbare Landschaft.

Von ein paar Bausünden in Westerland abgesehen, lebt auf Sylt in jeder Himmelsrichtung die Natur: Ein fast 40 Kilometer langer Sandstrand im Westen, eine Wanderdüne mit Sahara-Optik im Norden, ein Wattenmeer im Osten und eine Robbe namens Willi im Süden. Dazwischen eine Heidelandschaft, die jedem Vogelkundler zu ungeahnten Höhenpunkten verhilft. Die Farben der Gräser wirken immer ein bisschen wie zu heiß gewaschen, dabei ist es gern kalt und windig. Vielleicht sind die Menschen, die hier leben, deshalb so zusammengerückt. "Es gibt eine große Vertrautheit untereinander. Manche meiner Nachbarn schließen nicht mal die Haustür ab, versuchen Sie das mal in Hamburg", sagt King. "Und jetzt probieren Sie bitte mal diesen frischen Ziegenkäse! Ein Hammer!"

Natürlich kommt der direkt von der Insel, und zwar aus Keitum, einem idyllischen Friesendorf, in dem man ständig die Straßen verwechselt, weil die Reetdachhäuser mit den vorgelagerten Rosenstöcken alle gleich schnuckelig aussehen. Das friesische Käselädchen von Dörte Dethlefs im Hof Klöwenhoog ist genauso niedlich, also klein. Man hat Schwierigkeiten, die Theke zu entdecken, denn der Laden ist voll. Eine Dame mit Hermès-Schal kommt herein und sagt: "Toll, hier lerne ich gleich die wichtigste Urlaubslektion: mal einen Gang runterschalten." Die Ladenbesitzerin lächelt und packt ihr Ziegentarte, Leberwurst im Glas nach Hausmacher Art und selbst gemachte Quitten-Ingwer-Konfitüre ein. Es sei schön, dass die Leute jetzt schätzen würden, was sie seit Jahren herstellt. "Erst haben sie sich gefragt: ,Warum schmeckt das so gut?' Und dann haben sie verstanden, dass hinter lokalen Spezialitäten ganz andere Arbeitsweisen stecken, dass die Dinge nicht nur mit Liebe angebaut, sondern auch so verarbeitet werden."

Dörthe Dethlefs zählt zu den Norddeutschen, die Moin! sagen und Händeschütteln schon für überflüssig erachten. Nichts würde sie aus der Ruhe bringen, und genau das ist es, was sie an ihrer Heimat so liebt. "Die Freiheit auf Sylt ist grenzenlos! Hier kann jeder so sein, wie er will. Unsere Vorfahren waren Seefahrer, die haben schon alles gesehen von der Welt." Und dementsprechend kann die Nachfahren nichts mehr schocken. Auch Dekadenz wird gestattet. Die Autos, die rahmengenähten Schuhe, das Blond der Haare - auf Sylt dürfen die Dinge so teuer aussehen, wie sie wirklich waren. Das Zurückhaltende hat mal Urlaub, die Insel schafft so eine ideale Grundlage für Konsum auf hohem Niveau und für das Feiern eines Lebensstils ohne schlechtes Gewissen. Sechs Austern mit einem Spritzer Zitrone zum Ruinart Blanc de Blanc mitten am Nachmittag in einer Strandbude - eine solche Bestellung bedarf neben einer gewissen finanziellen Lässigkeit auch der beruhigenden Gewissheit, das hier nicht gleich Ute Ohoven mit einer Spendenaufforderung für Kinder in Afrika um die Düne kommt.

Ein Platz an der Sonne, das ist Sylt. Selbst wenn es regnet.