Tausende von Flamingos, Reisfelder und fischreiche Lagunen machen die Region einzigartig. Weite Teile der Landschaft könnte es aber bald nicht mehr geben.

Tortosa. Die Fußballkumpel in Tortosa haben ihn Tarzan genannt. Weil er für sie immer der Mann war, der aus der Wildnis kam - ein Naturbursche, der bei jeder Witterung in kurzen Hosen aus dem Auto stieg, wenn er am Sportplatz vorfuhr. Einer, dessen nackte Beine bei Ankunft mit grauem Matsch verschmiert waren. Einer, der meistens eine Flinte auf dem Rücksitz des alten Kombis liegen hatte - und nur allzu oft ein paar gerade geschossene Enten in einem Korb im Kofferraum. José Bertomeu war Tarzan, weil er anders war als die anderen. Weil er eine halbe Stunde fahren musste, ehe er bei seinem Fußballverein in der Kleinstadt an den Hängen der Küstenberge gut 180 Kilometer südlich von Barcelona, gut 180 nördlich von Valencia war - und weil er aus dem pfannkuchenflachen Delta kam, aus dem zweitgrößten Reis-Anbaugebiet Europas, wo die Leute seit Jahrhunderten ganz anders leben als die Nachbarn in den Bergen und denen deshalb ein bisschen suspekt sind.

José Bertomeu lacht darüber. Er war in jungen Jahren gerne Tarzan. Den Matsch aus den Reisfeldern hat er nach den Spielen heruntergeduscht - bevor er zurück in "sein" Delta gefahren ist, wo das Land im Durchschnitt 1,50 Meter über den Meeresspiegel ragt und der höchste Gipfel es auf zwölf Meter über Normalnull bringt. Tarzan hat längst graue Haare bekommen und kämpft heute um den Erhalt seiner gefährdeten Heimat - um die Rettung des Ebro-Deltas, wo einer der größten Ströme Spaniens breit aufgefächert ins Mittelmeer mündet und eine Gegend geschaffen hat, die einmalig ist an der spanischen Küste: mit Sümpfen, Deichen, Lagunen und Brutstätten seltener Vögel, mit einer vieltausendköpfigen Flamingo-Kolonie, mit einem 452 Kilometer langen Netz aus Kanälen. Und mit Salinen und Stränden.

Zwei Drittel des Jahres ist fast alles Land hier geflutet - Reisfelder, die teilweise sogar unter Meeresspiegel-Niveau liegen. Das lässt die Gegend erscheinen, als führten Straßen auf Stelzen durch nichts als spiegelglattes Meer, aus dem sich ab und zu wie ein Turm ein Bauernhaus, seltener noch wie eine Fata Morgana ein Dorf gegen den blauen Himmel abhebt. Das Land ist so flach, als wäre es planiert, und kaum ein Baum bietet dem immerwährenden Wind Widerstand. Die Surfer draußen am äußersten Rand des Deltas, an den Dünen der Punta del Fangar und am breiten Strand der Playa Eukalyptus lieben das, reiten dort Böen und Wellen aus. "Hawaii ist nichts dagegen", findet Tarzan - der noch nie auf Hawaii war, aber seinen Wind zu Hause nur zu genau kennt und gerne mit Brett und Segel auf den Wellen tanzt.

Im Sommer, wenn sie an den Stränden der Costa Brava und der nahen Costa Dorada dicht an dicht im Sand liegen, dann hat hier immer noch jeder mindestens 50 Meter Strand ganz für sich alleine - und unverbaut ist der obendrein. Hotels gibt es wenige im Delta, Ferienhäuser vor allem in der Gegend von Riumar nah an der Mündung des Ebro - und manches liebevoll sanierte Reetdachhaus eines Reisbauern, das an Fremde vermietet wird. Tarzan hat so eines am Ortsrand der kleinen Delta-Hauptstadt Deltebre wieder zusammengesetzt - mit Schlafkammern unterm Dach, mit blauen Fensterläden. Und mit schmalem Holzboot am eigenen Kanal-Anlegesteg.

In Jahrhunderten ist dieses Delta gewachsen, bringt es heute auf eine Ausdehnung von 320 Quadratkilometern, hat dabei häufig seine Form verändert, wann immer der Fluss sein Bett verlassen und plötzlich einen neuen Weg genommen hat. Die Menschen haben ihn gewähren lassen, niemand hat die Natur sortiert, jahrhundertelang niemand den Ebro durch Dämme und Schleusen reguliert. Inzwischen ist das anders. "In 50 Jahren", fürchten José Bertomeu und seine Naturschutz-Mitstreiter, "wird es weite Teile dieses Deltas nicht mehr geben. Das Meer wird es sich zurückholen. Schon jetzt sackt das Land immer tiefer ab - weil kein fruchtbarer Schlamm, keine Sedimente aus den Bergen mehr vom Fluss hierher getragen werden." Die Staudämme im Binnenland verhindern es: "Sie sind der Tod des Deltas. Es muss dringend etwas geschehen." Was - das steht noch in den Sternen.

Julio Bellaubi Bayo ist da weniger pessimistisch - so lange die Fische gut beißen. Neulich erst hat er wieder einen 70-Kilo-Wels aus dem Ebro gezogen. "Die Gewässer sind ungeheuer fischreich, die Nahrungsbedingungen hervorragend." Wann er selber am liebsten hinausfährt? "In der Abenddämmerung, wenn das Licht geheimnisvoll wird, der Wind oft etwas nachlässt und nur noch die Fischer draußen sind."

Mit kleinen Kuttern gehen sie im Bereich unmittelbar vor der Küste, mit Nussschalen in den Kanälen und auf den Lagunen auf Fangfahrt. Sie bringen Hummer, Gambas, Muscheln, dazu Schollen, Seebrassen und Doraden mit - manches davon im Überfluss. All das kommt fangfrisch auf den Tisch der vielen kleinen Restaurants im Delta. Und am besten kocht ausgerechnet einer, der es sich selber beigebracht hat. Die ersten neun Jahre seines Berufslebens ist er Maurer gewesen, ehe er umsattelte und sein erstes eigenes Restaurant "Los Hortets" in der Ortschaft Deltebre eröffnete. "Ich bin am Herd aufgewachsen", erzählt der Hüne. "Meine Eltern hatten ein Hostal, meine Mutter hat großartig gekocht, meine Oma, mein Vater genauso. Und immer haben sie versucht, Neues zu zaubern, Dinge anders zu kombinieren. Von ihnen habe ich gelernt, fast alles auszuprobieren."

Sergi Gadanuer zaubert die beste Paella mit Hummer, die man sich denken kann. Sein Räucheraal-Zwieback ist Legende. Sein Fisch ist vom Feinsten. Und für seine Foie Gras von Ebrodelta-Enten auf Orangen-Gelee fahren die Leute von weither: "Nur Ausländer sind noch nicht dabei", erzählt der 33-Jährige. "Es ist sehr spanisch hier, wir haben fast nur Inlandstourismus." Außer im Hochsommer - dann kommen sie auch von weiter her - vor allem der Strände wegen.

Das Delta wechselt mehrmals im Jahr komplett Farbe und Gesicht, leuchtet im Sommer in hellgrün, wenn der im April gesäte Reis auf den bis dato so kargen Flächen fast über Nacht emporgesprossen ist. Schon im September wird er geerntet. Zu beiden Zeiten, Aussaat und Ernte, ist Tarzan José Bertomeu kein Einzelgänger, was die schlammverschmierten Beine angeht. Wer etwas auf die Traditionen hält, steigt selbst in den Matsch und lässt sich den wichtigsten Job im Delta nicht von Maschinen abnehmen - jedenfalls nicht, solange es diese Marschlandschaft noch gibt, ihre Weite, ihre Urtümlichkeit, ihre Stille. Und ihre Flamingos, die den Menschen bei der Arbeit zuschauen.