In gut getarnten Holzhütten wartet Wildführer Ari Sääski mit seinen Gästen auf die Tiere. Auf der Suche nach Nahrung kommen sie hierher.

Auf ein Handzeichen verstummen die Stimmen. Ari Sääski deutet auf eine Kuhle und sammelt ein Büschel grau-brauner Haare auf: Ein Bär hat seine Spur hinterlassen. Weiter marschiert die kleine Gruppe mit Rucksäcken und Fotoapparaten ausgerüstet im Gänsemarsch durch den dichten Wald. Nach ungefähr 800 Metern erreicht sie ihr Ziel. Lautlos verschwindet einer nach dem anderen in einer der kleinen grün-braun getarnten und spartanisch eingerichteten Holzhütten. Jetzt heißt es warten - warten auf die Begegnung mit dem König der Wälder.

Mitten im Gebiet der Taiga, nahe der russischen Grenze, etwa 600 Kilometer von Helsinki entfernt, hat der heute 49-jährige Wildführer Ari Sääski vor zehn Jahren die ehemalige Grenzstation in Vartius gekauft, restauriert und seine "Wild Brown Bear Lodge" eröffnet. Mit sechs Zimmern bietet sie Platz für 18 Personen und dient als Basisstation für Wildbeobachtungstouren.

Bären sind nachtaktiv. Zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang streifen sie auf der Suche nach Nahrung durch die Wälder. Daher bringt Ari seine Gruppe Wildbeobachter schon um fünf Uhr nachmittags in die Bear-Hides, wie die kleinen Holzhütten genannt werden. Um die Bären nicht zu erschrecken und zu verscheuchen, ist das Verlassen der Hütten bis zum Abholen am nächsten Morgen um sieben Uhr nicht erlaubt. Die Bear- Hides, sind speziell zur Wildbeobachtung konzipiert worden. Es gibt kleine Hütten für ein bis zwei Personen und Hütten für Gruppen und Familien für acht Personen. Die Ausstattung ist einfach: Es gibt zwei Stockbetten mit Schlafsäcken und Decken für eine kleine Beobachtungspause zwischendurch, eine Trockentoilette und einen Stuhl, der direkt vor dem schmalen Sehschlitz positioniert ist. Es gibt weder elektrisches Licht noch eine Kerze für die Nacht oder gar eine Heizung. Alle irritierenden menschlichen Gerüche werden über ein langes Rohr hoch in die Luft abgeleitet. Bären sind sehr empfindlich, haben einen außerordentlichen Geruchssinn und hervorragende Ohren. Um jedes unnötige Geräusch zu vermeiden, werden daher beim Betreten der Hütte auch die Schuhe gegen ein paar dicke Socken getauscht und alle notwendigen Gegenstände wie Fotoapparat, Fernglas und Lebensmittel für die Nacht in Griffnähe deponiert. Die Aussicht, 14 Stunden in einer zwei Quadratmeter großen Hütte zu verbringen, weckt gemischte Gefühle.

Ein Rabe landet auf einer abgestorbenen Birke und betrachtet die Kadaver, die zum Anlocken der Raubtiere vor die Hütten gelegt wurden. Mit der untergehenden Sonne verstummen auch die übrigen Vogelstimmen. Still liegt die Lichtung in der Abenddämmerung - jetzt ist die Bühne frei für den Auftritt der Hauptdarsteller, die allerdings vorerst noch auf sich warten lassen. Es wird kühl in der Hütte. Wie in Trance ist der Blick durch die schmalen Sehschlitze unaufhörlich auf den Wald gerichtet. Langsam verschlingt die Dämmerung mehr und mehr die winzigen Hütten. Irgendwo im Nirgendwo wächst mit der langsam verstreichenden Zeit das Gefühl, selber ein Teil der Wildnis zu werden. Wie lange wird es dauern, bis der erste Bär die Witterung aufnimmt?

Die Bärensaison beginnt Mitte April, wenn die ersten Tiere nach dem Winterschlaf die Höhlen verlassen, und endet Ende September vor Wintereinbruch. Besonders gut beobachten und fotografieren kann man die Tiere von Mitte Mai bis Mitte Juli in den Zeiten der Mitternachtssonne, wenn die Nächte taghell sind. Dazu sind die Temperaturen in den Sommermonaten angenehm und man braucht in den Hütten nicht mehr zu frieren.

Und kurz vor Mitternacht ist es dann auch endlich so weit, sind leise Schritte zu hören. Einen Moment stockt der Atem und die Herzfrequenz verdoppelt sich. Die Silhouette eines gewaltigen Bären löst sich aus dem Wald. Trägen Schrittes trottet er im Passgang direkt auf die Hütten zu. Mit großem Appetit stürzt sich der Bär auf das Fleisch, reißt mit seinem kräftigen Gebiss Stücke aus dem gefundenen Fressen. Letzte Teddybär-Assoziationen lösen sich beim Krachen der Knochen in Luft auf. Dann betritt ein zweiter Bär die Waldbühne. Unbeeindruckt von seinem gierig fressenden Kollegen schreitet er, als wolle er sich seinem Publikum präsentieren, gemächlich an den Hütten vorbei.

In Finnland leben zwischen 800 und 1000 Braunbären, ungefähr 20 von ihnen im Gebiet der "Wild Brown Bear Lodge". Kalja, Terko, Goliath, und Valeri - einigen "seiner" Bären, die Jahr für Jahr nach dem Winterschlaf wieder auf die Lichtung zurückkehren, hat Ari Sääski Namen gegeben. Goliath ist nach vielen Jahren in diesem Frühling nicht zurückgekehrt.

Der Mythos Bär fasziniert die Menschen seit je. In vielen Kulturen spielt der Braunbär eine bedeutende Rolle. Geschichten, Sprichwörtern und Gedichte erzählen von seiner Stärke, Wildheit und Schönheit. Aber er wird nicht nur bewundert, sondern auch gefürchtet. Und für viele Jäger gilt das Erlegen des Königs des Waldes als besondere Herausforderung. Auch in Finnland ist die Bärenjagd eine alte Tradition und noch immer erlaubt.

Ari Sääki hat durchsetzen können, dass im Umkreis von vier Kilometern um seinen Futterplatz das Jagen verboten worden ist. Kein großer Raum, wenn man bedenkt, dass Bären auf Futtersuche oder in der Brunft bis zu 100 Kilometer am Tag zurücklegen können. Aber ein Anfang.

Kurz bevor sich die Sonne in all ihren Rottönen über dem Fichtenwald erhebt, erscheint ein dritter Bär vor den Hütten und widmet sich den Resten des Kadavers. Plötzlich hält er inne und spitzt die Ohren. Ein für Menschen nicht wahrnehmbares Geräusch hat ihn erschreckt. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit galoppiert er davon. Majestätisch schwebt ein Adler in der Luft. Kurz danach kehren die übrigen Vögel des Waldes auf die Lichtung zurück und begrüßen laut zwitschernd den neuen Morgen. Weit in der Ferne huscht ein brauner Schatten durch die Bäume und verschwindet in den russischen Grenzwäldern.

Mit Bärenhunger und noch etwas klammen Gliedern kehren die Bear-Watcher nach ihrer ersten Nacht in der wilden Taiga zurück in die Lodge. Bei heißem Kaffee, Porridge und Eiern mit Speck werden die Erlebnisse und Beobachtungen der Nacht ausgetauscht, bevor sich jeder in sein warmes Zimmer zurückzieht, um einige Stunden des versäumten Schlafes nachzuholen. Aris Traum war es damals, mit seiner Lodge eine Möglichkeit zu schaffen, die Schönheit von Finnlands Natur und ihren Tieren einer Vielzahl von Menschen zugänglich zu machen. Sein Traum ist wahr geworden. Heute kommen jährlich mehr als 1500 Fotografen und Naturliebhaber aus ganz Europa zur "Wild Brown Bear Lodge", um sich zur Beobachtung der seltenen Tiere auf die Pirsch zu legen.

In vielen Naturparks versucht man heute wieder mehr heimische Bären anzusiedeln. Man sagt, wo der Bär lebt, ist die Welt in Ordnung - nirgends spürt man das mehr als auf der kleinen Lichtung: Auge in Auge mit dem König des Waldes.