Zwischen Weinreben und Zypressen, in ländlicher Abgeschiedenheit treffen Hobbymusiker aufeinander und üben gemeinsam Klassik, Pop und Jazz.

Gestern kamen dann die Carabinieri vorgefahren. Wir gingen gerade im Garten auf und ab wie an jedem Nachmittag, als ihr Geländewagen den Schotterweg zu unserer Villa heraufzockelte. Und wie an jedem Nachmittag gaben wir Laute von uns, die weit gereiste Commissari möglicherweise an Meditationssignale aus tibetischen Muschelhornfanfaren erinnert hätten, kurz bevor das Erntefest in Lhasa beginnt. Unsere Commissari aber haben ihr Dienstleben in diesen toskanischen Hügeln verbracht, zwischen Weinreben, Zypressen und der Pasta von Mamma. Sie schauten aus dem Auto, als habe sie soeben eine namenlose Urangst gepackt. Als sei ihnen schlagartig bewusst geworden, dass da etwas auf Gottes Erdenrund existiert, für das die Wissenschaft auch im Jahre 367 nach Galilei noch keine ausreichende Erklärung hat. Sie stiegen noch nicht einmal aus. Sie hielten noch nicht einmal an. Sie wendeten und fuhren zurück. Die Staubfahne, die ihre Reifen beim Durchstarten aufwirbelten, lag noch lange wie ein Schleier über den Hügeln bei Volterra.

Bevor jetzt das große Rätselraten beginnt, ein paar erhellende Stichworte: Schnupper-Saxofonkurs für Anfänger. Toskana. Historisches Landhaus, das Poderino San Cristoforo bei Volterra. 14 Anfänger, 14 Saxofone. Noch Fragen? Na also. Aber der Coach hat noch eine: Ob jemand Probleme mit Herpes habe, will unser Saxofonlehrer wissen. Wir sitzen gerade hinterm Haus, trinken uns Mut an und sind getreu dem Kurstitel dabei, uns zu beschnuppern. Der Coach findet die plötzliche Stille nicht irritierend. Könne ausbrechen, meint er, "wegen der permanenten Lippenreibung". Aha.

Kurzer Ausflug in die Instrumentenkunde: Die Tonerzeugung beim Saxofon erfolgt durch eine Kombination aus korrekter Lippenspannung, richtiger Griffhaltung und passendem Luftstrom. Jeder dieser drei Faktoren ist gleich wichtig für das Zustandebringen eines wohlklingenden Tons. Wird auch nur einer dieser Faktoren vernachlässigt, kommt es augenblicklich zu Misstönen, die auf einer Skala zwischen kläglichem Fiepsen und schrillem Pfeifen variieren. Dummerweise ist für den Novizen - das aber nur ganz nebenbei bemerkt - jedes dieser drei Elemente für sich allein schon kaum zu bewältigen, von der harmonischen Kombination aller drei ganz zu schweigen. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass der gute Alphonse Sax offensichtlich in unmittelbarer Nähe eines Stahlwerks wohnte, als er sein Instrument 1840 erfand - anders lässt sich die Lautstärke des Saxofons nicht erklären. Kurz: Für die unmittelbare Umgebung kann so ein Saxofon-Schnupperkurs für Anfänger eine ziemliche Belastung sein.

Übrigens auch schon ohne Saxofon. Für die erste Übung müssen wir mit den abgeschraubten Mundstücken in den Garten, damit wir "ein Gefühl dafür bekommen", wie der Coach meint, der vorsorglich drinnen bleibt. Zuerst hört man nichts als Prusten. Dann kommen die ersten Töne. Irgendwann klingt es, als habe ein Wurf im Nest zurückgelassener Flugsaurierjunge schreckliche Zahnschmerzen. Zum Glück liegt unser Poderino auf seinem Hügel in menschenleerer Landschaft: ringsum nur Felder, am Horizont die Turm- und Zinnensilhouette von Volterra, dazwischen drei, vier Häuser, da kann nicht viel passieren. Und der Hausherr hat dem Kurs auch eine vierstündige Mittagspause verordnet, die er und seine Familie bestimmt zur Regeneration der ramponierten Nervensysteme benötigen. Auch für die Hauskatzen ist es wahrscheinlich besser so. Erstaunlicherweise wollten die Tiere auch am Ende der Woche keine Verhaltensauffälligkeiten zeigen, das schon mal vorneweg.

Überhaupt geschieht ziemlich viel Unerwartetes. Am Abend spielen wir tatsächlich allesamt und relativ flüssig unsere ersten Tonleitern, ganz wunderbar ist das, man will überhaupt nicht mehr aufhören da draußen im Garten, to-tö-tü-ta-te-tä-tääää! Und dann lernen wir gleich noch zwei richtige Lieder, mit zugegebenermaßen leicht grenzdebilen Titeln: "Mein erster Hit" und "Pausensong". Letzterer humpelt so daher, der erste Hit aber - immerhin zwei Notenzeilen mit insgesamt etwa 18 Tönen - groovt ziemlich geschmeidig durch den Garten. Am Horizont macht sich eine dieser typisch toskanischen Sonnen hinter einer Landschaft davon, die nur aus sanften Linien besteht, aus geschwungenen Hügelketten mit Zypressen, die auf den Kämmen der Hügel ordentlich gestaffelt Richtung Meer marschieren, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Eine ziemlich historische Gegend sei das hier, hat der Hausherr erklärt. Die Weinberge um uns herum gab es schon zu Zeiten der Medici, die ältesten Mauern des Hauses sind 1000 Jahre alt (und die wenigen Nachbarn wahrscheinlich 102 oder zumindest so taub, sonst hätte es keine drei Tage bis zum Besuch der Carabinieri gedauert).

Wer übt hier eigentlich? Die üblichen Verdächtigen. Der Chef der Entwicklungsabteilung eines Automobilkonzerns. Zwei Lehrerinnen. Ein Ingenieur. Eine Wirtschaftsjournalistin. Eine Reiseveranstalterin. Ich. Und alle, weil sie es immer schon lernen wollten, das Saxofonspielen, und am liebsten in der Toskana, die natürlich auch alle mögen. Bloß einer der Teilnehmer köchelt gerade langsam vor sich hin. Es funktioniert nämlich nichts mehr an diesem zweiten Tag, gar nichts mehr. Und was ist schuld? Die Klappen sind schuld. Heute haben wir den Ton Gis gelernt, da wird eine kleine Zwischentaste gedrückt, damit sich wieder irgendwo ganz anders am Instrument kleine Kläppchen öffnen. Was sie bei mir entweder gar nicht tun oder viel zu spät, jedenfalls hört es sich grauenvoll an. Wie auch das Cis. Und das Es. Mein spezieller Freund aber ist die Oktavklappe, mit der man ratzfatz von einem Ton zum gleichen Ton in der nächsthöheren Oktave kommt. Theoretisch. Bei mir hört es sich eher an, als habe man die Besetzung von "Der König der Löwen" in eine Fritteuse geworfen. Ja natürlich kann man da was gegen tun! Der Coach weiß es: Unterlippe pressen! Ton vor der Oktavklappe aufbauen! Kehle auflassen! Zunge gegen das Mundstück! An Charlie Parker denken: "Nicht du musst das Sax spielen - das Sax spielt dich!" Der hatte gut reden, der Parker. Im Übrigen bin ich mir sicher, dass es auf Gottes weiter Welt auch genügend Songs ohne diese Oktavsprünge gibt, "Nasdrovje Wom" in der Version des Don Kosaken Chors beispielsweise fällt mir da spontan ein. Aber wir? Wir müssen natürlich "Tequila" einüben.

Selbst nach 20 Minuten ist die produzierte Tonfolge weit weg von allem, was ein Latinopublikum zu einem entfesselten "Tequila!"-Ruf an entsprechender Stelle hinreißen würde, und ich nehme mal an: noch nicht einmal eines aus Wanne-Eickel.

Dann probier doch mal "Sailing", tröstet der Coach pädagogisch, das ist einfacher. Von wegen. Klappt auch nicht. Als dann auch noch die angeblich "lockeren" Tonleiter-Übungen nur noch sprotzen und krächzen wollen, da reicht es. Der Blutdruck steigt auf gefühlte 260, und wenn man nicht wüsste, dass dieses Drecksding hier 2000 Euro kostet, es flöge augenblicklich im hohen Bogen zu den Zikaden ins Kornfeld.

Zum Glück ist morgen Ruhetag. Und damit der Ruhetag gut anfängt, gibt es erst einmal eine Weinprobe, schließlich sind wir in der Toskana. Überhaupt muss an dieser Stelle unbedingt angemerkt werden, dass wir in unserem Landsitz aufs Vortrefflichste verpflegt werden. Morgens und mittags wird ein kleines Büfett aufgetischt, abends serviert der Hausherr persönlich vier Gänge. Und nach dem Essen sitzt man dann in der warmen Dämmerung, atmet den Duft der Felder und sieht zu, wie die Zeit vorübergeht.

Die nächsten Kurstage dienen der Verfeinerung unseres Könnens. Mittlerweile sind wir so geschult, dass uns andere Übende auch dann nicht ablenken, wenn sie unmittelbar neben uns andere Stücke in anderen Tonarten intonieren. "Over the Rainbow", "Harlem Nocturne", "Stand by me" und "Mein erster Hit" kakofonieren durch den Garten, und es fehlt nur noch, dass nachts jemand "Jericho, deine Mauern müssen fallen!" auf die Stadtmauer von Volterra pinselt.

Am letzten Tag: das Abschlusskonzert. Der Hausherr hat keinen Tequila, spendiert aber eine Runde Grappa. Gegen das Lampenfieber. Er und seine Familie sind die einzigen Zuhörer. Ganz souverän spielt sich die "San Cristoforo Big Band" mit ein paar beliebten Evergreens warm, "Mein erster Hit", "Pausenstück", die alten Gassenhauer. Dann kommen die Trios, Duette und Soli. Und brausender Beifall, natürlich. Und das gemeinsame "Tequila" hätte selbst in Mexiko für Schlagzeilen gesorgt. Dann liegen wir uns alle in den Armen und versprechen uns gegenseitig, uns alle zusammen für den zweiten Anfängerkurs anzumelden, was den Coach ziemlich rührt. Danach steigen wir in unsere Autos und fahren über den Schotterweg davon. Und wenn man die Fenster herunterkurbelt und genau hinhört, liegt immer noch ein leiser Saxofonklang wie ein Schleier über den Hügeln bei Volterra.