Wie ein Adlerhorst klebt das Ramolhaus auf einer hohen Felsnase. Der Weg dorthin ist anstrengend, doch wird der Wanderer mit einem fantastischen Panorama belohnt.

"Ein Gipfel gehört dir erst, wenn du wieder unten bist - so lange gehörst du ihm." ( Hans Kammerlander)

Eine Fata Morgana! Manchmal zum Greifen nah, dann wieder in unerreichbarer Ferne, um schließlich den Bergwanderer vollends zum Narren zu halten und sich gänzlich dem Blick zu entziehen. Eben hatte das Ramolhaus noch wie eine verheißungsvolle Oase ins Tal geblinkt, jetzt ist dort oben, auf dem Grat, nur noch kahler Felsen zu sehen - unwirtlich, unwirklich.

Wie ein Adlerhorst klebt die Berghütte auf einer hohen Felsnase. Weit ist der Weg zur Geborgenheit, zum Schutz vor allen Gefahren, die im Hochgebirge auf Bergsteiger lauern können. Würde nicht eine schwarze Wolkenwand über dem Gletscher aufziehen, wäre der meist mäßig ansteigende Zentralalpenweg ZW902 der reinste Genuss. Er kreuzt die Ötztaler Ache und zahlreiche andere Bäche, und im unteren Bereich weiden Schafe und Kühe auf den üppig mit bunten Wildblumen bestandenen Almen.

Mit vier Stunden hatte das Hinweisschild kurz hinter Obergurgl die Strecke ausgewiesen, aber das muss wohl für Wanderer ohne schweren Rucksack gegolten haben. Rechts vom Saumweg steigen die Bergwände schroff in die Höhe, links fallen sie steil nach unten in die tiefe Schlucht, die sich bis zum Gurgler Ferner zieht - jenem Gletscher, auf dem am 28. Mai 1931 der Schweizer Wissenschaftler Prof. Auguste Piccard mit seinem Stratosphären-Ballon notgelandet war und damit das verschlafene Bergnest weltberühmt gemacht hat. Immer liegt Obergurgl, das höchstgelegene Kirchdorf Tirols, in Sichtweite, selbst später noch vom Ramolhaus aus.

Stärker hallt der Donner von den Bergwänden wider. Mit Panik im Herzen und Blei in den Füßen schraube ich mich weiter nach oben und überwinde auf 7,5 Kilometern rund 1100 Meter Höhenunterschied - von 1927 Meter bis auf 3006 Meter. Die Hamburger Sektion des Deutschen Alpenvereins hat vor der Rast den Schweiß gesetzt, besonders auf dem schmalen Steig des letzten Steilhangs, der zwar keine bergsteigerischen Kenntnisse voraussetzt, sich aber durch hochalpines Felsgestein zieht. Hamburgs höchstgelegenes Haus als Gipfelerlebnis will verdient sein. Kurz vor dem finalen Viertel erscheint eine Lichtgestalt - Alfred König, der Hüttenwirt. Von oben hatte er schon Ausschau gehalten. Nun kommt er dem Gast entgegen und nimmt ihm sogar den Rucksack ab. Schimpft ein bisschen, dass man nicht die Materialseilbahn in Anspruch genommen hat, die 2003 hauptsächlich zum Befördern von Frischeprodukten eingerichtet wurde, aber nach Voranmeldung auch das Gepäck nach oben bringt. Leichtfüßig wird immerhin der mühsamste Teil nun noch bewältigt.

Ganz exponiert steht das Ramolhaus auf dem nackten Felsen. Die zweithöchste Hütte der Ostalpen liegt auf 3006 Metern (die höchste ist das Brandenburger Haus auf 3277 Metern - ebenfalls in den Ötztaler Alpen). Von der Aussichtsterrasse, auf der die Fahne mit dem Tiroler Adler weht, noch kurz den Wahnsinnsblick genießen auf die Dreitausender rundum: Den Großen Ramolkogel (3550 m), den Spiegelkogel (3426 m), die Firmisanschneide (3491 m), den Schalfkogel (3540 m). Und auf die mächtige Gletscherzunge des Gurgler Ferner.

Draußen pfeift der Wind über den kargen Sommergletscher. Zeit, um in der warmen Stube die Zeit an sich vorbeifließen zu lassen. Auf einem Regal stapeln sich die Hüttenbücher mit Datum bis zum Zweiten Weltkrieg. 1921 hatte die Sektion Hamburg des Deutschen Alpenvereins (DAV) das Ramolhaus erworben, nachdem die beiden anderen Hütten der Sektion im Ortlergebiet nach dem Ersten Weltkrieg in das Staatseigentum von Italien übergegangen waren. Gebaut hatte es 1881 Martin Scheiber, Urgroßvater von Lukas Scheiber, dem jetzigen Pächter des Ramolhauses und Besitzer des Hotels "Edelweiß & Gurgl" in Obergurgl. Wenn Lukas Scheiber seine Gäste auf Bergtouren führt, kommt er an der markigen Bronzefigur seines Urgroßvaters vorbei, die sinnend zum Ramolhaus hochschaut. "Ein Geschäft ist die Hütte zwar nicht", sagt der Hotelier, "aber sie gehört seit vier Generationen schon zur Familie."

1929 erfolgte durch den DAV Hamburg ein großer Ausbau der Hütte. Nach der Fusion mit der Sektion Niederelbe 2006 ist die "DAV Sektion Hamburg & Niederelbe e. V." mit insgesamt fast 13 000 Mitgliedern heute eine der größten deutschen Sektionen. Von Hamburg aus betreut DAV-Hüttenwart Uwe Rieckhoff das Ramolhaus: "Als 2005 Küche, Sanitäranlagen und Brandschutz modernisiert wurden, haben wir versucht, den urigen Charakter unserer Hütte zu erhalten. Bewusst haben wir auf Duschen verzichtet, weil die Wasserversorgung auf 3000 Meter Höhe ein Problem ist. Wir wollen die Natur zwar erwandern, sie aber gleichzeitig schützen."

Spätestens beim Abendessen weiß jeder die Mühe des Aufstiegs zu schätzen. Uwe Rieckhoff: "Das Ramolhaus ist die einzige Hütte über 3000 Meter, die sich an der DAV-Kampagne ,So schmecken die Berge' beteiligt. Dabei müssen die Schutzhütten überwiegend Produkte aus der eigenen Landwirtschaft und von heimischen Bergbauern verwenden. Drei Monate im Sommer - von Ende Juni bis etwa Ende September - ist die Hütte geöffnet. Vom Herbst bis zum späten Frühjahr dient das Ramolhaus mit einem Südosthang im Rücken wegen Lawinengefahr nur noch als Notlager.

Aus ganz besonderem Holz muss man wohl geschnitzt sein, um sich als Wirt in einer derart abgelegenen Hütte zu bewerben. Der Niederösterreicher Alfred König (41) ist so einer. Obwohl er schon an den feinsten Adressen als Koch und Küchenchef tätig war - darunter auf dem Kreuzfahrtschiff "Queen Elizabeth II" - serviert er nun schon im vierten Sommer den verdutzten Bergwanderern feinste Kost auf halbem Weg in den Himmel. Seine gute Küche hat sich herumgesprochen. Einheimische wie Bergwanderer steigen sogar als Tagesgäste zum Ramolhaus auf, nur um seine Wiener Kalbsrahmbeuschel, Krautstrudel mit Paprikasauce, etliche vegetarische Gerichte oder ein komplettes Menü zu genießen und Wein vom eigenen Gut. Als Mitglieder des Deutschen Alpenvereins zahlen sie den überall auf den Hütten vorgeschriebenen Preis für ein Bergsteigeressen von 6,90 Euro.

Ein begeisterter Bergsteiger, der seinen Gästen auch so manchen Tourentipp geben kann, ist Alfred König sowieso. Bei der Bergrettung sei er auch, erzählt er, und das beruhigt ganz ungemein. "Klar, es gibt Tage, da geht mir die Einsamkeit auf den Keks." Deshalb steigt er einmal in der Woche ins Tal, wo seine Familie wohnt. 2007 seien seine Gäste oben in der Hütte für vier Tage eingeschneit, als er gerade unten war. Am vierten Tag hat man sie dann mit einem Hubschrauber abgeholt, zum Glück gibt es ja einen Landeplatz am Ramolhaus. Die Gefriertruhe und ein Radio in der Küche sind der größte technische Luxus. Ansonsten gibt es kein Chichi wie auf manch anderer Hütte. Nur unaufgeregte Bergwanderer. Die sich in Berg-Magazine vertiefen, Bildbände, ein paar Spiele und auf einer Gitarre herumzupfen.

Schnell kommt man in der großen Stube mit den Lärchenböden und den alten Holzmöbeln rund um den Kachelofen ins Gespräch. Wie mit Fredy Kaindl aus München, der sich darüber freut, dass das Frühstück hier nicht so spartanisch ist wie auf den meisten Hütten. Als Mitglieder des DAV Hamburg ist Toralt Endruweit mit Partnerin Marijke auf einer Hüttentour in den Ötztaler Alpen unterwegs: "Das Ramolhaus bietet die beste Aussicht", schwärmen beide, "außerdem hat sie Warmwasser und einen Wirt, der sehr gut kocht." Um 22 Uhr ist Bettruhe. Denn um fünf Uhr am nächsten Morgen brechen die ersten schon wieder auf.