Der schöne lettische Badeort gilt als das “Tor zur Kurischen Nehrung“. Dabei bietet er auch selbst den Urlaubern eine Menge Abwechslung.

In Zweierreihen Aufstellung nehmen! Stramm stehen!" Einige kichern. Der Mann in der sowjetischen Uniform sieht nicht so aus, als ob er Spaß versteht. "Ab in die Dunkelhaft!", bellt der Gefängnisaufseher. Für die Dauer einiger endloser Minuten müssen wir in einer fensterlosen Zelle bei ausgeschaltetem Licht erleben, was noch vor gar nicht so langer Zeit Militärgefangene in Echtzeit durchgestanden haben. Nach weiteren Schikanen den mentalen Schalter später in der Kantine bei Heringshappen und Wodka auf Entspannung umzulegen, geht nicht so einfach. Zu tief sitzt der kurze, aber äußerst reale Aufenthalt in der ehemals russischen "Hauptwache" von Liepaja. Auch wenn sich der inzwischen sehr joviale Aufseher als Freizeitaktivist entpuppt, der tatsächlich mal russischer Armeeoffizier war. Auf die krause Idee der Reality Show "Hinter Gittern" kam das Fremdenverkehrsamt von Liepaja, und nicht wenige Besucher greifen sie gern auf; viele sogar für die Dauer von 24 Stunden - inklusive Übernachtung auf harter Pritsche in einer Zelle und psychischer Folter für rund elf Euro pro Nacht.

Ansonsten versucht Liepaja, mit circa 100 000 Einwohnern drittgrößte Stadt Lettlands, mit weniger skurrilen Angeboten als attraktive Urlaubsregion auf sich aufmerksam zu machen. Allein die Lage der Küstenstadt in der historischen Landschaft Kurland, zwischen zwei Gewässern - der offenen Ostsee und dem Liepaja-See - ist privilegiert. Blaue Flaggen, die an den langen, bis zu 70 Meter breiten Dünenstränden wehen, signalisieren Sauberkeit von Strand und Wasser. So fest ist der Sand, dass Rad- und Motorradfahrer ihn zum ungebremsten Fahrvergnügen nutzen. Und so fein, dass man ihn im russischen Reich ohne weitere Verarbeitung in Sanduhren verwendete.

Schon seit 1899 rattert die nunmehr älteste elektrische Straßenbahn des Baltikums auf einer zwölf Kilometer langen Strecke durch die Stadt. In der "Hauptstadt der Rockmusik" führt eine "Notenroute" durch eingelassene Noten auf dem Gehweg zu den interessantesten Sehenswürdigkeiten dieses widersprüchlichen Ortes, der so oft als "Tor zur Kurischen Nehrung" beworben wird und doch selber genügend Abwechslung für Urlauber bietet.

Rockmusik hat auch die junge Szene geprägt. Sie ist schrill, sie ist witzig, sie ist selbstbewusst. Auf extrem hohen Highheels staksen hübsche Mädchen erstaunlich trittfest durch die Nacht. Man trifft sich zum "Chillen" in coolen Lounges, etwa auf der Dachterrasse "Sterngarten" über den vier Etagen des ersten "Rock Cafes" Lettlands. Eine überdimensionale E-Gitarre steht davor und markiert den "Walk of Fame", wo sich nach Hollywoodmanier zahlreiche lettische Musikstars per Handabdruck verewigt haben. Noch rockigere Musik als im "Rock Cafe" wird gelegentlich im "Fontaine Palace Musicclub" am Handelshafen gespielt. Direkt daneben überrascht das "Hotel Fontaine Royal", untergebracht in einem alten Fabrikgebäude, mit goldenen Statuen in der Lobby, hart am Kitsch, abgefedert durch nackte Zementdecken in den Zimmern und dem türkischen Spa.

Schon 1253 wurde Liepaja als Fischerdorf Liva schriftlich erwähnt. Die Stadtrechte erhielt es von Herzog Friedrich von Kurland 1625. Die Große Gilde baute später den Hafen aus. Stark wurde die Stadt von den Deutschen geprägt. Im 12. und 13. Jahrhundert kamen deutsche Ordensritter nach Lettland. Im 17. und 18. Jahrhundert ließen sich wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs Kaufleute und Handwerker aus Deutschland in Kurland nieder. Sie nannten die Stadt Liebau. Im Ersten Weltkrieg zogen deutsche Streitkräfte ein. Als 1939 die Auswanderung einsetzte, wohnten 4620 Deutsche in Liebau, damals etwa acht Prozent der Bevölkerung.

Die Auswanderung war ein großer Verlust für die Stadt, denn sie verlor den am besten ausgebildeten Teil der Einwohner, die führende Schicht in Wirtschaft, Medizin und Bildungswesen. Spuren der Deutschen sind immer noch sichtbar. Denn das gesamte Stadtbild wurde von Schinkelschüler Max Paul Bertschi geprägt - Hauptarchitekt von Liebau in der Zeit von 1871 bis 1902. Aus der "Bertschi-Zeit" stammen prächtige Bürgerhäuser, das heutige Rathaus und die Annenkirche in der typischen Ziegelsteinarchitektur.

Für die deutsche Gemeinde wurde 1742 der Grundstein für die evangelische Dreifaltigkeitskathedrale gelegt. Am Abend, wenn die ergraute Kirche angestrahlt wird, kann man ihre einstige Schönheit auch von außen ahnen. Auf jeden Fall beeindruckend ist ein Konzert der größten Orgel Europas in ihrem Inneren. 131 Register hat sie, am Internationalen Orgelmusikfestival vom 8. bis 14. September nehmen Musiker aus der ganzen Welt teil.

Schon im 18. Jahrhundert war Liepaja als Badekurort bekannt. Schmucke Villen und Holzhäuser zeugen von der Sommerfrische am weißen Dünenstrand. Im Strandpark wohnten noch bis Ende des 19. Jahrhunderts die Reichen der Stadt, die im Badehaus mit seinen stattlichen Säulen ihre Moorbäder nahmen. Das heute leer stehende Gebäude soll demnächst ein Revival als Wellnessoase erleben. Nur ein paar Kilometer von Liepaja entfernt liegt das weitläufige Pape-Naturschutzgebiet. Neben Bisons, Auerochsen und einer ornithologischen Station, in der über 130 Vogelarten beringt werden, beherbergt das Pape auch eine Herde von Wildpferden.

Der Kontrast könnte nicht größer sein. Plattenbauten prägen die "Barackstadt" Karosta mit ihren etwa 8000 Einwohnern, dreiviertel davon Russen. Karosta wurde im Russischen Reich als selbstständiges Stadtviertel gebaut, damals die größte Militärfläche im Baltikum.

Der Kriegshafen war die erste U-Boot-Station des zaristischen Russlands, 1994, nach Abzug des Militärs wurde Karosta zum zivilen Gelände. Schmuckstück ist die orthodoxe Kathedrale St. Nikolai mit ihren goldenen Zwiebeltürmen, die man "weder mit bösen Gedanken und Worten, noch angetrunken" betreten sollte. Inzwischen dient die Kathedrale auch wieder ihrem eigentlich Zweck und die Russen bekennen sich wieder zu ihrem Glauben, "selbst die größten Mafiosi lassen ihren neuen BMW hier segnen", berichtet Krister Krafts.

Den Studenten hat es wie viele andere, unter ihnen auch viele Künstler, wegen der unschlagbar niedrigen Miete nach Karosta gezogen. Nebenher führt er als Guide Touristen durch Liepaja, und manchmal mimt auch er den russischen Gefängniswärter. Wie sein russischer Kollege geht der Lette dann voll in seiner Rolle auf.