Die Kii-Halbinsel ist seit jeher ein Ort der Heilung, Reinigung und Selbstfindung. Diese Erfahrungen erlebt man dort am intensivsten zu Fuß.

Dichter Bambuswald steht im Wechsel mit duftenden Zypressen und Zedern. Langsam lösen sich die tief hängenden Nebelschwaden in den Baumwipfeln auf, die Sonne gewinnt immer mehr an Kraft. Auf einer Lichtung blitzen die schäumenden Wassermassen kurz durch, dann taucht der Wanderer auch schon wieder ein in das üppige Grün. Der steinige Weg geht steil bergab. Zuerst ist nur ein leises Rauschen zu hören. Es wird lauter, bis es sich schließlich in ein gewaltiges Donnern verwandelt. Die Luft gewinnt an Feuchtigkeit, die Gischt bläst einem ins Gesicht. Und plötzlich, als die schützende Vegetation die Sicht unvermittelt freigibt, geht der Blick in die Höhe: Tosende Wassermassen stürzen hier an einer steilen Felswand in die Tiefe - insgesamt 133 Meter.

Es ist ruhig am Fuße des Nachi no Otaki, dem höchsten Wasserfall Japans. Die ersten Pilger sind noch unter sich. Sie sind extra früh aufgestanden, um die mystische Atmosphäre dieses heiligen Ortes auf sich wirken zu lassen - bevor die ersten Busladungen an Touristen ankommen. Aufgefangen in einer kleinen Porzellanschale, trinken die Wallfahrer einige Schlucke von dem glasklaren Wasser. Sie glauben an die Legende, die demjenigen ein langes Leben verspricht, der mit dem kühlen Nass in Berührung kommt.

Der Nachi no Otaki ist eines der vielen Heiligtümer auf der Kii-Halbinsel. Seit mehr als tausend Jahren ist die gebirgige Landschaft im Südosten der Hauptinsel Honshu für Japaner ein besonderer Ort. Schon vor Jahrhunderten gingen Mönche, Priester, Naturanbeter, reiche Kaufleute aus Osaka und Kyoto, ja selbst Kaiser hier wochenlang auf Pilgerschaft, um den Gottheiten ihre Ehre zu erweisen. Das Besondere in dieser Region ist: Nirgendwo sonst im Land gehen die Stätten des Buddhismus und der japanischen Naturreligion des Shintoismus solch eine harmonische Verbindung ein wie hier. Die religiöse Bedeutung des Kii-Gebirges zieht bis heute jedes Jahr Tausende von einheimischen Sinnsuchenden und Gläubigen an. Seit das Hunderte von Kilometern umfassende Netzwerk aus Pilgerrouten - zusammengefasst unter dem Namen "Kumano Kodo" - 2004 zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt wurde, entdecken außerdem immer mehr ausländische Touristen die raue Landschaft in der Präfektur Wakayama. Großen Anteil an dem zunehmenden Bekanntheitsgrad - auch über die Landesgrenzen hinaus - hat Brad Towle. Seit knapp drei Jahren arbeitet der Kanadier im lokalen Tourismusbüro von Tanabe City und sorgt dafür, dass zum Beispiel Schilder, Karten, Routenbeschreibungen und Wegweiser ins Englische übersetzt werden. "Es wartet noch eine Menge Arbeit auf uns. Doch die Kulturdenkmäler und religiösen Kultstätten hier sind einmalig, sodass wir Besucher aus dem Ausland daran teilhaben lassen wollen."

Das Ziel der meisten Wanderer heißt "Kumano Sanzan", die "Drei großen Schreine". Dabei steht der Besuch des Kumano Hongu Taisha im Nordosten der Halbinsel im Mittelpunkt. Eine steile, baumgesäumte Steintreppe führt zu der imposanten Anlage, die bis 1889 noch auf einer Sandbank am Fuße des Kumanogawa-Flusses stand. Doch eine mächtige Flut zerstörte große Teile des Schreins. Aus Sicherheitsgründen wurden die Bauten auf einem Bergrücken, etwa 500 Meter von ihrem Originalplatz entfernt, wieder aufgebaut. Der Hongu Taisha gilt als der Hauptschrein in ganz Japan. Sternförmig laufen an diesem religiösen Ort alle Pilgerwege zusammen.

Der eindrucksvolle Schrein kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden. Zur beliebtesten Strecke gehört die Route "Nakahechi". Die drei- bis viertägige Wanderung startet östlich der Stadt Tanabe und führt in die Berge hinauf. Etwa 80 Kilometer lang ist die Route und bekannt für ihre "ojis", kleine Schreine, die entlang des Weges zu finden sind. Sie dienen als Ort der Ruhe und sind wichtige Stätten der Verehrung auf dem Weg zu den "Drei großen Schreinen".

Einen Teil des "Nakahechi" legen die Pilger auf dem Kumano-gawa zurück. Wie einst Aristokraten und Adlige, schippern die Besucher in traditionellen Holzbooten - heute allerdings mit Außenbordmotor, den Wasserlauf hinunter, vorbei an bizarren Felsformationen und kleineren Grotten. Eine zweite Route führt entlang der Küste. Der "Ohechi" erstreckt sich über 120 Kilometer im Süden der Halbinsel und hat das meiste seiner Ursprünglichkeit leider verloren. Die alten Wege existieren fast nicht mehr, der Pilger läuft nun weitgehend an asphaltierten, zum Teil viel befahrenen Straßen entlang.

Der mit Abstand anstrengendste Wallfahrtsweg ist der "Kohechi", der in der Tempelstadt Koya-san beginnt. Diese 70 Kilometer lange Tour verlangt gute körperliche Fitness, denn es müssen drei Pässe von über 1000 Metern überquert werden. Vor allem im Winter kann diese Strecke durch verschneite Passagen gefährlich werden.

Weit entfernt von den trubeligen Metropolen des Landes hat sich die Kii-Halbinsel ihren ursprünglichen Charakter bis heute bewahrt. Seit jeher ist diese Region ein Platz der Selbstfindung, Reinigung und Heilung. Und egal, ob man wegen der Natur kommt oder auf der Suche nach spirituellen Kräften ist, am intensivsten entdeckt der Besucher das "religiöse Herz Japans" zu Fuß.